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XXII

Pater Amaro hatte soeben sein Mittagsmahl beendet. Jetzt rauchte er und starrte, um nicht das ausgemergelte Gesicht des Koadjutors sehen zu müssen, der seit einer halben Stunde in geisterhafter Unbeweglichkeit dahockte, zur Zimmerdecke empor. Alle zehn Minuten stellte der Besucher eine Frage, die in das Schweigen des Zimmers hineintönte wie das melancholische Schlagen einer Kirchenuhr, die die Viertelstunden schlägt.

»Sind Sie schon auf die ›Nation‹ abonniert, Herr Pfarrer?«

»Nein, ich lese den ›Volksfreund‹.«

In diesem Augenblick trat die Haushälterin ein und meldete, daß »eine Person da sei, die mit dem Herrn Pfarrer sprechen wolle«. Mit diesen Worten pflegte sie anzukündigen, daß die Dionísia in der Küche warte.

Seit Wochen war sie nicht erschienen, und Amaro, dessen Neugierde sich regte, verließ sofort das Zimmer. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, rief er die Matrone auf den Treppenflur hinaus.

»Eine große Neuigkeit, Herr Pfarrer! Ich bin schnell gelaufen; denn es ist wichtig. Der João Eduardo ist da!«

»Ist's möglich!« rief der Pfarrer. »Eben habe ich über ihn gesprochen! Merkwürdiges Zusammentreffen …«

»Jaja, es ist wahr; ich habe ihn heute gesehen. Ich war starr … Aber ich bin schon über alles unterrichtet. Der Mensch ist jetzt Hauslehrer der Söhne des Majoratsherrn.«

»Welches Majoratsherrn?«

»Des Majoratsherrn von Poiais … Ob er dort wohnt oder des Morgens hinfährt und am Abend wieder herkommt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er wieder da ist. Schneidig, neuer Anzug … Ich hielt es für richtig, Sie zu benachrichtigen, denn sicherlich muß er über kurz oder lang mit der kleinen Amélia auf der Ricoça zusammentreffen. Die Ricoça liegt ja an der Straße nach dem Majoratsgut … Nun, was meinen Sie?«

»Ein verdammter Kerl!« schnaubte Amaro grimmig. »Wenn man ihn nicht braucht, taucht er auf. Er ist also nicht nach Brasilien gegangen?«

»Wie es scheint, nicht … Sein Geist war es bestimmt nicht; ich sah ihn höchst leibhaftig … Zum Beispiel, als er aus dem Laden des Fernandes kam – fein! sage ich Ihnen, geschniegelt und gebügelt! Es wird immerhin gut sein, Herr Pfarrer, wenn Sie dem Mädchen zu verstehen geben, daß es sich nicht ans Fenster pflanzen soll …«

Amaro gab ihr die zwei Silbermünzen, die sie erwartet hatte. Und eine Viertelstunde später, nachdem er sich des Koadjutors entledigt hatte, befand er sich auf dem Wege nach der Ricoça.

 

Das Herz klopfte Amaro, als er das frischgestrichene gelbe Gebäude der Ricoça mit der breiten Terrasse sah, die neben dem Obstgarten hinlief und auf deren Brüstung in gewissen Abständen vornehme Vasen standen. So sollte er also nach langen, langen Wochen seine kleine Amélia wiedersehen! Er freute sich schon im voraus auf den Jubel und die leidenschaftlichen Umarmungen, mit denen sie ihn empfangen würde.

Im Erdgeschoß befanden sich Stallungen, die noch aus der Zeit stammten, wo die Familie des früheren Majoratsherrn hier wohnte. Jetzt waren sie verwahrlost; Schwämme wucherten an den feuchten Wänden, und Ratten trieben dort ihr Unwesen. Das Licht fiel durch schmale, vergitterte Fenster hinein, die fast unter den dicken Schichten der Spinnweben verschwanden. Man gelangte in das Haus durch einen riesigen finstern Hof, in dessen Ecken seit langen Jahren ganze Berge von leeren Fässern lagerten. Die einst schöne Treppe, die zu den Wohnräumen hinaufführte, lag rechts und wurde von zwei gutmütig und schläfrig dreinblickenden steinernen Löwen flankiert.

Amaro stieg hinauf und gelangte in einen unmöblierten Raum mit getäfelter Eichendecke; der Fußboden war zur Hälfte mit getrockneten Bohnen bedeckt.

Er sah sich ratlos um und klatschte in die Hände.

Eine Tür öffnete sich. Amélia, ungekämmt und in einem weißen Unterrock, wurde für einen Augenblick sichtbar. Sie schrie leise auf und schlug die Tür wieder zu. Der Pfarrer hörte, wie sie ins Innere des Hauses entfloh. Ganz verdutzt blieb er, den Sonnenschirm unterm Arm, in der Mitte des Zimmers stehen. Er dachte an den vertraulichen Empfang im Hause der Rua da Misericórdia, wo die Türen sich von selbst zu öffnen und die Tapeten vor Freude aufzuleuchten schienen, wenn er kam.

Amaro klatschte noch einmal in die Hände; er begann schon ärgerlich zu werden, als Gertrudes erschien.

»Oh, der Herr Pfarrer! Treten Sie ein, Herr Pfarrer! Sind Sie endlich gekommen! – Dona Josefa, der Herr Pfarrer ist da!« rief sie in ihrer Freude, endlich einmal einen lieben Besuch aus der Stadt in dieser Verbannung empfangen zu können.

Sie führte ihn sogleich in Dona Josefas Zimmer, das im hinteren Teil des Hauses gelegen war. Es war ein riesiger Raum, wo die Alte auf einem kleinen Kanapee, das wie verloren in einer Ecke stand, ihre Tage verbrachte. Sie war in einen Schal gehüllt; um ihre Beine hatte man eine dicke Decke gewickelt.

»Ah, Dona Josefa! Wie geht es Ihnen?«

Sie konnte nicht antworten; denn in der Aufregung über den Besuch hatte sie einen Hustenanfall bekommen.

»Sie sehen es ja, Herr Pfarrer«, sagte sie endlich mit matter Stimme. »Hier bin ich nun und schleppe an meinem Alter. Und Sie? Warum sind Sie nicht gekommen?«

Amaro redete sich mit seinem Kirchendienst heraus. Und als er in dieses gelbe, hohlwangige Gesicht blickte, über dem eine greuliche schwarze Spitzenhaube saß, stellte er sich vor, was für traurige Stunden Amélia hier verbringen mußte. Er fragte nach ihr; er habe sie von weitem gesehen, aber sie sei fluchtartig verschwunden …

»Weil sie nicht ordentlich angezogen ist«, sagte die Alte. »Heute war doch Waschtag.«

Amaro wollte dann wissen, wie sie sich unterhielten, wie sie die Zeit in dieser Einsamkeit verbrächten.

»Ich sitze eben hier, und die Kleine geht hin, wohin sie Lust hat.«

Mit jedem Wort schien ihre Müdigkeit und ihre Heiserkeit zuzunehmen.

»Ist Ihnen die Veränderung nicht gut bekommen?«

Sie verneinte mit einem Kopfschütteln.

»Ach, Possen, Herr Pfarrer!« mischte sich Gertrudes ein, die neben dem Kanapee stand und offenbar über die Anwesenheit des Herrn Pfarrers sehr erfreut war. »Glauben Sie es nicht, Dona Josefa übertreibt … Sie steht jeden Tag auf, macht ihren kleinen Spaziergang bis ins Wohnzimmer und ißt ihren Hühnerflügel. Wir haben sie hier schon ganz hübsch in die Höhe gebracht … Freilich, Pfarrer Ferrão hat schon recht, wenn er sagt: Im Galopp reitet die Gesundheit fort, im Schritt kehrt sie wieder.«

Die Tür ging auf; Amélia trat mit feuerrotem Gesicht ein. Sie trug ihr altes Hauskleid aus roter Merinowolle; ihrem Haar sah man an, daß es in aller Eile aufgesteckt war.

»Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer«, sagte sie verlegen, »aber heute ging es bei uns drunter und drüber …«

Sie reichte ihm zeremoniell die Hand; darauf folgte ein Schweigen, und es war, als wären sie durch eine Wüste voneinander getrennt. Amélia erhob den Blick nicht vom Fußboden; mit zitternden Fingern drehte sie an einer Spitze des Schals herum, der lose von ihren Schultern herabhing. Amaro fand sie verändert; ihre Wangen erschienen ihm etwas gedunsen; um ihren Mund glaubte er Falten zu entdecken, die sie alt machten.

Um dieses peinliche Schweigen zu brechen, fragte er sie nach ihrem Befinden.

»Es geht mir soweit ganz gut … Ein bißchen traurig und langweilig ist es schon. Aber Pfarrer Ferrão hat recht, wenn er sagt: Sich woanders zu Hause zu fühlen ist nicht leicht.«

»Niemand ist hierhergekommen, um sich zu amüsieren«, schnarrte die Alte, ohne die Lider zu öffnen; ihre Stimme schien auf einmal alle Müdigkeit verloren zu haben.

Amélia wurde bleich und senkte den Kopf.

Da wurde es Amaro mit einem Male klar, daß die Alte Amélia quälte, und er sagte sehr streng: »Es ist wahr, Sie kamen nicht hierher, um sich zu amüsieren … Aber Sie sind auch nicht hergekommen, um sich das Leben absichtlich zu verleiden … Wenn ein Mensch seine böse Laune an anderen ausläßt und ihnen damit das Leben verdüstert, so ist das ein furchtbarer Mangel an Nächstenliebe; in Gottes Augen gibt es kaum eine schlimmere Sünde … Ein solcher Mensch ist der göttlichen Gnade nicht würdig …«

Die Alte wimmerte aufgeregt: »Ach, was mir Gott für meine letzten Lebensjahre aufgespart hat …«

Gertrudes redete ihr gut zu. Wenn sie sich so aufrege, werde ihr Zustand sich nie bessern … Welche Torheit! Mit Gottes Hilfe würde alles wieder gut. Und sie würde bestimmt wieder gesund und froh werden …

Amélia war ans Fenster getreten; gewiß wollte sie ihre Tränen verbergen. Der Pfarrer war über diese Szene zutiefst betroffen. Er sagte zu Dona Josefa, daß sie die Prüfungszeit ihrer Krankheit nicht mit der stillen Ergebung hinnehme, die einer wahren Christin zukomme … Nichts erzürne den Herrn mehr, als wenn sich seine Geschöpfe gegen die Schmerzen und das Kreuz auflehnten, die er ihnen aufbürde … Das bedeute nichts anderes, als freventlich an der Gerechtigkeit seiner Ratschläge zu zweifeln …

»Sie haben recht, Herr Pfarrer! Ach, wie sehr haben Sie recht!« winselte die Alte zerknirscht. »Ich weiß manchmal gar nicht, was ich sage … Daran ist meine Krankheit schuld …«

»Nun gut, meine liebe Dona Josefa; fügen Sie sich ins Unvermeidliche und bemühen Sie sich, alles im rosigen Licht zu sehen. Damit werden Sie Gott eine große Freude bereiten. Ich begreife vollkommen, daß es hart ist, sich hier vergraben zu müssen …«

»Genau dasselbe sagt Pfarrer Ferrão«, warf Amélia ein, die das Fenster verließ. »Die Patin will sich nicht in ihr Schicksal finden … Natürlich, wenn man so jäh aus seinen alten Gewohnheiten gerissen wird …«

Amaro fiel es auf, daß Amélia schon wiederholt auf die Aussprüche des Pfarrers Ferrão Bezug genommen hatte, und so fragte er sie, ob er hier oft Besuche mache.

»Oh, er hat uns sehr häufig Gesellschaft geleistet«, antwortete Amélia. »Fast jeden Tag kommt er zu uns.«

»Er ist ein Heiliger!« rief Gertrudes.

»Gewiß, gewiß«, knurrte Amaro, den diese lebhafte Bewunderung verschnupfte. »Er ist sehr fromm …«

»Sehr fromm«, seufzte die Alte. »Aber …« Sie schwieg; wahrscheinlich getraute sie sich nicht, ihren frommen Bedenken Ausdruck zu verleihen. Dann bat sie flehentlich: »Ach, Herr Pfarrer, Sie müssen, ja Sie müssen herkommen und mir helfen, das Kreuz der Krankheit zu tragen …«

»Gern will ich kommen, liebe Dona Josefa, gern, gern. Da kann ich Sie unterhalten, Ihnen Neuigkeiten erzählen … Übrigens fällt mir ein, daß ich gestern einen Brief von unserm Kanonikus erhalten habe.«

Er suchte in seiner Tasche und las der Alten einige Sätze des Schreibens vor. Der Meister habe schon fünfzehn Bäder genommen; der Strand wimmle von Menschen; Dona Maria leide an einem Furunkel. Prächtiges Wetter. Alle Nachmittage große Spaziergänge, um das Einholen der Fischernetze zu beobachten. Die Joaneira wohlauf; sie spreche aber immer von der Tochter …

»Arme Mama!« sagte Amélia weinerlich.

Aber die Alte interessierte sich nicht für Neuigkeiten; sie jammerte über ihre Heiserkeit. Amélia war es, die nach den Freunden in Leiria fragte, nach Pater Natário, Pater Silvério …

Es wurde schon dunkel, und Gertrudes zündete die Lampe an. Amaro erhob sich.

»Also auf Wiedersehen, Dona Josefa! Seien Sie sicher, daß ich ab und zu kommen werde. Und keinen Kummer, keine Aufregung … Warme Kleidung, gute Ernährung, und die Barmherzigkeit Gottes wird nicht mangeln …«

»Nein, das möge sie nicht, Herr Pfarrer! Das möge sie nicht!«

Amélia reichte ihm die Hand, um hier im Zimmer von ihm Abschied zu nehmen.

Aber Amaro sagte aufgeräumt: »Wenn es Ihnen keine Umstände macht, Dona Amélia, würde ich Sie bitten, mir den Weg zu zeigen; denn in diesem Gebäude könnte ich mich verlaufen.«

Sie gingen beide hinaus. Kaum waren sie in dem anstoßenden Raum, der durch seine drei großen Fenster noch ein wenig Licht erhielt, blieb Amaro stehen und sagte: »Die Alte macht dir das Leben zur Hölle, Kind!«

»Verdiene ich denn Besseres?« erwiderte sie mit gesenktem Blick.

»Das Weibsstück, ich werde ihr schon einheizen! O meine liebe kleine Amélia, wenn du wüßtest, wie schwer es mir gefallen ist …«

Er wollte sie auf den Hals küssen, aber sie wich verstört zurück.

»Was soll das?« staunte Amaro.

»Was?«

»Dieses Benehmen! Du willst mir keinen Kuß geben, Amélia? Bist du von Sinnen?«

Sie hob in ängstlicher Beschwörung die Hände empor und sagte mit bebender Stimme: »Nein, Herr Pfarrer, lassen Sie mich! Das ist vorbei. Wir haben wahrhaftig genug gesündigt … Ich will in der Gnade Gottes sterben … Reden wir nie wieder von solchen Dingen! Es war ein Unglück … Nun ist es aus … Ich wünsche nichts als den Frieden meiner Seele …«

»Bist du toll? Wer hat dir solches Zeug in den Kopf gesetzt? Hör mich an …«

Er näherte sich ihr wieder mit ausgebreiteten Armen.

»Rühr mich nicht an, um Gottes willen!« stieß sie hervor und wich bis an die Tür zurück.

In stummer Wut sah er sie einen Augenblick an.

»Gut, wie Sie wünschen«, sagte er schließlich. »Jedenfalls möchte ich Ihnen sagen, daß João Eduardo wieder da ist. Er kommt alle Tage hier vorüber, und es wird gut sein, wenn Sie sich nicht am Fenster zeigen.«

»Was geht mich João Eduardo an und die andern Leute und alles, was geschehen ist?«

»Ich sehe schon«, sagte er sarkastisch, »der große Mann ist jetzt der Herr Pfarrer Ferrão!«

»Ich verdanke ihm viel, das weiß ich …«

Gertrudes trat in diesem Augenblick mit der brennenden Lampe ein, und Amaro ging, ohne sich von Amélia zu verabschieden. Wutknirschend erhob er den Schirm.

 

Aber der lange Marsch nach der Stadt beruhigte ihn. Das mit dem Mädchen war schließlich nur ein Anfall von Tugendhaftigkeit und Gewissensbissen! Kein Wunder, da sie so einsam in dem großen Haus lebte, von der Alten gequält wurde und jeden Tag den Sermon des alten Moralpredigers Ferrão anhörte! Fern vom Geliebten, vollzog sich in ihr eine Reaktion: die alte Bigotterie mit ihrer Furcht vor dem Jenseits, mit ihren Unschuldgelüsten schoß wieder ins Kraut … Spaß! Wenn er jetzt regelmäßig nach der Ricoça ging, hatte er in einer Woche seine alte Herrschaft über das Mädchen wiedergewonnen … Ah, er kannte sie doch! Er brauchte nur mit den Augen zu blinzeln, sie ein wenig zu streicheln … und schon lieferte sie sich ihm aus.

Er verbrachte jedoch eine unruhige Nacht; mehr denn je begehrte er Amélia.

Am andern Tag kaufte er einen Rosenstrauß und wanderte nach der Ricoça.

Die Alte lag im Bett und freute sich sehr, ihn zu sehen. Die Gegenwart des Herrn Pfarrers mache sie gesund, sagte sie. Und wenn die Stadt nicht gar so weit entfernt wäre, würde sie ihn um die Gunst bitten, alle Vormittage zu kommen. Schon nach seinem ersten kurzen Besuch habe sie mit größerer Inbrunst gebetet …

Amaro lächelte zerstreut; sein Blick war auf die Tür gerichtet. »Und Dona Amélia?« fragte er endlich.

»Ausgegangen!« sagte die Alte scharf. »Jeden lieben Tag muß sie spazierengehen! Zur Kirche, wissen Sie … Sie ist ganz dem Pfarrer verfallen …«

»Ah!« machte Amaro mit einem dünnen Lächeln. »Neue Frömmigkeit, wie? Der Pfarrer ist ein sehr tüchtiger Seelsorger …«

»Ach, der taugt nichts!« rief Dona Josefa. »Er versteht mich nicht. Und Ideen hat er! Der macht einen nicht tugendhaft …«

»Bücherwurm«, meinte Amaro.

Aber die Alte erhob sich auf den Ellenbogen, und während ihr mageres Gesicht vor Haß zu glühen begann, flüsterte sie: »Unter uns gesagt, Herr Pfarrer: Amélia hat sich sehr schlecht aufgeführt! Nie werde ich es ihr verzeihen … Sie ist bei dem Pfarrer zur Beichte gewesen … Das ist eine Taktlosigkeit, wo sie doch Ihr Beichtkind ist und von Ihnen nur Liebes und Gutes empfangen hat … Sie ist eine Undankbare, eine Verräterin!«

Amaro war sehr bleich geworden. »Was sagen Sie da?«

»Die Wahrheit. Und sie leugnet es auch nicht! Sie ist auch noch stolz darauf! Sie ist eine Verlorene, ja, eine Verlorene ist sie! Nach all der Liebe, die wir ihr antun …«

Amaro verbarg seine Empörung. Er lachte sogar … Man müsse nicht übertreiben … Von Undank sei keine Rede. Hier handle es sich einfach um eine Gewissensfrage. Wenn das Mädchen glaube, daß sie der Pfarrer besser leiten könne, habe sie recht, sich ihm zu offenbaren … Jeder wolle doch nur seine Seele retten … Ob da nun der Priester X oder Y helfe, sei ganz belanglos. Und in den Händen des Pfarrers sei sie gut aufgehoben.

Amaro rückte seinen Stuhl an das Bett der Alten. »Also, jeden Morgen geht sie zur Kirche?«

»Fast jeden. Sie muß übrigens bald zurückkommen; gleich nach dem Frühstück geht sie fort und kommt immer um diese Stunde heim … Ach, was habe ich mich schon darüber geärgert!«

Amaro stand auf und lief ein paarmal nervös im Zimmer auf und ab; dann streckte er der Frau die Hand hin und sagte: »Also, meine liebe Dona Josefa, leben Sie wohl! Ich kann nicht länger verweilen, wollte ja auch nur ein wenig nach Ihnen sehen … Ich komme bald einmal wieder, aber zeitig … Adieu!«

Und ohne weiter auf die Alte zu hören, die ihn dringend zum Mittagessen einlud, stürmte er die Treppe hinab und machte sich wütend auf den Weg nach dem Gotteshaus. Seinen Rosenstrauß hielt er noch in der Hand.

Er hoffte Amélia auf der Landstraße zu treffen, und es dauerte auch nicht lange, da sah er sie nicht weit vom Hause des Hufschmieds. Sie kauerte an einem Wiesenhang und pflückte nach der Art sentimentaler Mädchen Blumen.

»Was machst du denn da?« fragte er, als er an sie herantrat.

Amélia fuhr mit einem leisen Schrei in die Höhe.

»Was machst du hier?« wiederholte er.

Bei diesem »Du« und dem zornigen Klang seiner Stimme führte sie erschreckt einen Finger an die Lippen. Der Herr Pfarrer sei drinnen im Haus des Schmiedes …

»Höre«, raunte er mit flammenden Augen und packte sie am Arm, »du hast dem Pfarrer gebeichtet …?«

»Warum wollen Sie das wissen? Ja, ich habe gebeichtet … Das ist doch keine Schande …«

»Und du hast alles gebeichtet? Alles? Alles?!« stieß er wütend zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor.

Sie wurde verwirrt und redete ihn wieder mit »du« an: »Du hast mir doch selbst oft gesagt, daß es die größte Sünde in dieser Welt sei, dem Beichtvater etwas zu verschweigen!«

»Dummes Weib!« schäumte er.

Seine Augen verschlangen sie. Und doch – trotz der Wut, die wie ein Nebel sein Denkvermögen trübte und seine Stirnadern zu zersprengen drohte, fand er sie schöner denn je in ihrer rundlichen Fülle, die zu Umarmungen einlud. Und diese roten, in der frischen Landluft aufgeblühten Lippen, wie gern hätte er sie geküßt, gebissen, bis sie bluteten!

»Höre«, sagte er, einer plötzlichen Wallung brutalen Verlangens nachgebend, »höre … Es ist aus … das schadet nicht. Beichte dem Teufel, wenn du Lust hast … Aber du mußt wieder wie früher zu mir sein!«

»Nein! Nein!« rief sie und entwand sich ihm, bereit, in die Schmiede zu fliehen.

»Das sollst du mir büßen, verwünschtes Weib!« zischte der Pfarrer, drehte ihr den Rücken und eilte wie ein Rasender davon.

Inmitten des Friedens des milden Herbsttages spann er furchtbare Rachepläne. Erst als er in die Stadt kam, verlangsamte er seine Schritte. Noch immer den Rosenstrauß in der Hand haltend, kam er erschöpft zu Hause an. Aber hier, in der Einsamkeit des Zimmers, überkam ihn das Bewußtsein seiner Ohnmacht. Was konnte er schließlich tun? In der Stadt verkünden, daß sie schwanger sei? Da würde er sich ja selbst anklagen. Das Gerücht verbreiten, daß sie ein Liebesverhältnis mit dem Pfarrer Ferrão unterhalte? Das war absurd: ein beinahe siebzigjähriger Greis, der in seiner Häßlichkeit wie eine Karikatur wirkte und überdies sein ganzes Leben lang den Ruf eines Heiligen genossen hatte, kam dafür nicht in Betracht … Aber sie verlieren müssen, diesen schneeweißen Leib nicht mehr in den Armen halten, ihre im Liebesrausch gestammelten Koseworte, die ihm süßer dünkten als alles Glück des Himmels, nicht mehr hören dürfen … Nein, das nicht!

Konnte sie in sechs oder sieben Wochen alles vergessen haben? Wenn sie in den langen Nächten allein im Bett lag, war ihr dann nie die Erinnerung an jene Vormittage im Zimmer des Onkels Esguelhas gekommen? Unmöglich! Er hatte in seiner Beichtpraxis aus dem Mund so vieler Mädchen, die ihm betrübt ihre Seele enthüllten, gehört, daß, nachdem sie einmal gesündigt, die stumme, zähe Begierde nie wieder aus dem Fleisch wiche …

Nein: er mußte Amélia verfolgen und in ihr mit allen Mitteln wieder die Leidenschaft entfachen, die ihn selbst jetzt heftiger quälte denn je.

In der Nacht schrieb er ihr einen sechs Seiten langen albernen Brief, der von leidenschaftlichen Bitten, spitzfindig-mystischen Beweisgründen, Ausrufezeichen und Drohungen mit Selbstmord strotzte …

In der Frühe des nächsten Tages schickte er die Dionísia damit fort.

Das Antwortschreiben, das ein Dorfjunge brachte, traf erst am Abend ein. Mit welcher Begierde er den Umschlag zerriß! Aber der Brief enthielt nur ein paar Worte: »Ich bitte Sie, mich in Frieden zu lassen. Ich will mit meinen Sünden allein sein!«

Er ließ nicht ab: am nächsten Tag war er wieder in der Ricoça, um die Alte zu besuchen. Amélia befand sich im Zimmer, als er eintrat. Sie wurde wachsbleich; aber sie sah nicht von der Näherei auf. Eine halbe Stunde blieb Amaro da; er brütete düster im Lehnstuhl vor sich hin und antwortete nur zerstreut auf die Fragen der Alten, die heute in außerordentlich redseliger Stimmung war.

In der nächsten Woche wiederholte Amaro seine Besuche. Sobald er sich hören ließ, schloß sich Amélia schnell in ihrem Zimmer ein. Sie kam nur heraus, wenn Dona Josefa ihr durch Gertrudes sagen ließ, »daß der Herr Pfarrer sie zu sehen wünsche«. Dann gab sie ihm die Hand, die er immer glühend heiß fand, und fing mit ihrer ewigen Näherei an. Am Fenster sitzend, stichelte sie mit einer Schweigsamkeit, die den Pater beinahe zur Verzweiflung trieb.

Er hatte ihr einen zweiten Brief geschrieben. Aber keine Antwort war erfolgt.

Da schwur er sich, nie wieder auf die Ricoça zu gehen; er wollte Amélia mit Verachtung strafen, aber nachdem er sich die ganze Nacht schlaflos im Bett herumgewälzt hatte und immer ihre Nacktheit, die unbarmherzig sein Hirn aufpeitschte, vor Augen gesehen hatte, brach er am Morgen nach der Ricoça auf. Er errötete, als der Straßenmeister, der die Ausbesserungsarbeiten an der Chaussee beaufsichtigte und ihn jeden Tag hier vorbeikommen sah, grüßend seine wasserdichte Mütze zog.

Als er an einem regnerischen Nachmittag in der Ricoça eintreten wollte, stieß er unter der Tür auf den Pfarrer Ferrão, der eben seinen Schirm aufspannte.

»Hallo, Herr Pfarrer, sind Sie auch da?« rief Amaro.

Der Pfarrer antwortete ruhig: »Bei Ihnen braucht man sich ja nicht darüber zu wundern, denn Sie kommen alle Tage her …«

Amaro konnte sich nicht beherrschen; zornbebend schrie er: »Und was geht es den Herrn Pfarrer an, ob ich komme oder nicht? Ist das etwa Ihr Haus?«

Diese ganz ungerechtfertigte Brutalität mußte natürlich den Pfarrer erregen.

»Nun, es wäre für alle besser, wenn Sie nicht kämen …«

»Und warum, Herr Pfarrer, warum?« schrie Amaro außer sich.

Da durchschauerte es den guten Menschen. Er hatte nach seiner Meinung in diesem Augenblick das Schlimmste begangen, dessen sich ein katholischer Priester schuldig machen kann: Was er von Amaro und seiner Liebelei wußte, war ein Beichtgeheimnis – und das hatte er verletzt! Amaros Beharren in seiner Sünde mißbilligt zu haben – wenn auch nur andeutungsweise –, war für den Pfarrer gleichbedeutend mit Verrat am Mysterium des Sakraments. Tief zog er den Hut und sagte demütig: »Sie haben recht, Herr Pfarrer. Verzeihen Sie, ich habe ohne Überlegung gesprochen. Guten Tag, Herr Pfarrer.«

»Guten Tag, Herr Pfarrer.«

Amaro trat nicht in die Ricoça ein. Im strömenden Regen kehrte er nach der Stadt zurück. Kaum zu Hause angekommen, schrieb er einen langen Brief an Amélia, in dem er die Szene mit dem Pfarrer schilderte und diesen mit Anschuldigungen überhäufte; besonders schwer rechnete er es ihm an, daß er indirekt ein Beichtgeheimnis verraten habe. – Wie auf andere Briefe, erhielt Amaro auch auf diesen keine Antwort aus der Ricoça.

Jetzt begann Amaro zu argwöhnen, daß ein derartiger Widerstand nicht allein in Reue und Furcht vor der Hölle seinen Grund haben könne … Hier ist ein Mann im Spiel, dachte er. Und von rasender Eifersucht verzehrt, begann er, nachts um die Ricoça zu schleichen. Aber er sah nichts; das große Haus schlief in tiefem Frieden. Einmal jedoch wurde er stutzig: Als er sich der Mauer des Obstgartens näherte, hörte er, wie jemand auf dem Weg, der von Poiais herabführt, den sentimentalen »Walzer der zwei Welten« trällerte; auch war deutlich wahrzunehmen, daß eine glimmende Zigarre sich in der Dunkelheit vorwärts bewegte. Erschreckt flüchtete er in eine zerfallene Hütte, die auf der anderen Seite der Landstraße stand. Die Stimme schwieg, und Amaros Späherblick entdeckte ein Gesicht, das, von einem hellen Schal halb verdeckt, den Fenstern der Ricoça zugewandt war. Wütende Eifersucht bemächtigte sich seiner; schon wollte er sich auf den Mann stürzen, als er ihn ruhig die Straße entlangschlendern sah. Seine Zigarre zwischen den Zähnen, trällerte der Unbekannte:

»Hörst du dort oben in den Bergen
Den dumpfen Glockenklang, der uns erschreckt? …«

An dem Schal und dem charakteristischen Gang erkannte Amaro plötzlich João Eduardo; aber sofort war ihm klar, daß, wenn ein Mann nächtlicherweile mit Amélia spräche oder gar in das Haus eindränge, es keinesfalls der Schreiber sein könne. Immerhin schien es ihm ratsam, hinfort sein nächtliches Spionieren einzustellen.

 

Es war in der Tat João Eduardo, der immer, wenn er am Tage oder in der Nacht an der Ricoça vorüberging, ein paar. Augenblicke stehenblieb und melancholisch die Mauern anstarrte, hinter denen »sie« wohnte. Denn trotz aller Enttäuschungen war Amélia für den armen Burschen doch immer »sie« geblieben, die Teure, die Liebste, das Köstlichste, was es auf Erden gab. Weder in den Wirtshäusern von Ourém oder Alcobaça noch in Lissabon, wo er wie der Kiel einer gescheiterten Barke strandete, war ihr Bild auch nur einen Augenblick aus seiner Seele verschwunden, hatte er je aufgehört, mit Wehmut und Sehnsucht an sie zu denken. Während seiner bitteren Lissabonner Zeit, der schlimmsten seines Lebens, pflegte er geradezu diese Liebe, klammerte er sich an sie; denn ihm war, als spüre er auf diese Weise Amélias traute Gesellschaft. Das war jene Zeit, wo er für einen obskuren Rechtsberater Botengänge verrichtete. In der Hauptstadt, die ihm gewaltig und prächtig wie ein zweites Rom oder Babylon erschien, wo er überall dem harten Egoismus der wimmelnden, geschäftsgierigen Menge begegnete, kam er sich wie verloren vor. Aber diese Einsamkeit und Verlassenheit empfand er weniger schmerzlich, wenn er sich Amélias Bild vorstellte. Auf seinen endlosen Spaziergängen längs des Sodré-Kais unterhielt er sich im Geiste mit ihr, wobei er sie manchmal anklagte, daß sie die Ursache seines Kummers und vorzeitigen Alterns sei.

Und diese Leidenschaft, in der er dunkel eine Rechtfertigung seiner Verkommenheit erblickte, machte ihn in seinen eigenen Augen interessant. João Eduardo fühlte sich als »Märtyrer der Liebe«; das tröstete ihn, wie es ihn in seinen ersten Liebesnöten getröstet hatte, ein »Opfer religiöser Verfolgungswut« zu sein. Er war nicht ein gewöhnlicher armer Teufel, den Zufall, Faulheit, Mangel an Freunden und schäbige Kleidung schicksalhaft zu einem niedrigen, entbehrungsreichen Leben verdammten, o nein, er war ein hochherziger Mann, den eine Katastrophe teils galanter, teils politischer Natur heruntergebracht hatte. Ein furchtbares, halb häusliches, halb soziales Drama zwang ihn, nach heroischen Kämpfen zu kapitulieren, so daß er nur mit einer Aktentasche voller Dokumente von Kanzlei zu Kanzlei wanderte. Das Schicksal hatte ihn in die Reihen der zahlreichen Helden gestellt, denen er so oft in sentimentalen Romanen begegnet war … Und sein abgetragener Paletot, seine Mahlzeiten zu vier Vinténs, die Tage, an denen er kein Geld für Tabak hatte: all dies war nur eine Folge seiner verhängnisvollen Liebe zu Amélia und des Hasses, mit dem ihn eine mächtige Klasse verfolgte. So umgab er, aus einem menschlichen, allzumenschlichen Instinkt heraus, sein triviales Elend mit dem Nimbus eines großartigen Ursprungs … Wenn er an Personen vorüberging, die er die »Glücklichen« nannte, fühlte er sich weniger enterbt, denn er schmeichelte sich, daß auch sein Inneres eines gewissen Luxus nicht entbehre: einer unglücklichen Liebe. Unter »Glücklichen« verstand er Leute, die in Equipagen fuhren, junge Herren, die hübsche Damen am Arm führten, Herrschaften, die fein und warm gekleidet zum Theater fuhren. Und als ihm gar ein glücklicher Zufall eine Anstellung in Brasilien in Aussicht stellte – für die Reisekosten brauchte er nicht aufzukommen –, idealisierte er sein banales Auswanderergeschick in lächerlicher Weise. Den ganzen Tag hatte er nur den einen Gedanken: Er würde nun, aus seinem Vaterland verbannt, über das weite Weltmeer fahren. Und warum verbannt? Weil die vereinigte Tyrannei der Pfaffen und der Behörden es so wollte und … weil er ein Weib geliebt hatte!

Wer hätte ihm damals, als er seinen Anzug in den blechernen Koffer packte, gesagt, daß er in einigen Wochen wieder ganz in der Nähe dieser Pfaffen und Behörden sein und wehmütig Amélias Fenster betrachten würde? Nur eine halbe Meile von Leiria entfernt … Und doch sollte es so kommen. Den Anlaß dazu bot jener wunderliche Majoratsherr von Poiais, der eigentlich weder Majoratsherr noch aus Poiais gebürtig war. Er war vielmehr nur ein exzentrischer Krösus und stammte aus einem Ort bei Alcobaça. Dieser Mann hatte das uralte Besitztum der Ritter von Poiais gekauft, und die Einwohner der Gemeinde nannten ihn nun ehrenhalber den »Majoratsherrn«. Eben dieser merkwürdige Edelmann war es, der João Eduardo vor der Seekrankheit auf dem Postdampfer und anderen Auswanderernöten bewahrte. Er hatte den Schreiber in der Kanzlei getroffen, wo dieser noch am Tage vor seiner Abreise arbeitete. Der Majoratsherr kannte seine Geschichte: den Streich mit dem Artikel, auch das Ärgernis, das er auf dem Kirchplatz erregt hatte. Und schon lange hegte er für João Eduardo große Sympathie.

Denn der Majoratsherr haßte die Pfaffen mit einem Fanatismus, der an Irrsinn grenzte. Wenn er in der Zeitung von einem Verbrechen las, war er überzeugt – selbst wenn der Schuldige bereits abgeurteilt war –, »daß dabei irgendein Schwarzrock seine Hand im Spiele haben mußte!« Man sagte, dieser grimmige Haß rühre von sehr schmerzlichen Erfahrungen her, die er mit seiner ersten Frau, einer berühmten Betschwester Alcobaças, gemacht hatte. Kaum sah er João Eduardo in Lissabon und erfuhr er von dessen bevorstehender Abreise, setzte er sich in den Kopf, ihn mit nach Leiria zu nehmen, dann aber in Poiais einzuquartieren und ihm den Elementarunterricht seiner beiden kleinen Jungen zu übertragen. Damit meinte er, dem ganzen Klerus der Diözese einen unerhörten Schimpf anzutun. Außerdem hielt er João Eduardo für einen durchaus gottlosen Menschen; und das kam seinem philosophischen Wunsch entgegen, seine Buben in einem »zügellosen Atheismus« erzogen zu sehen. João Eduardo nahm das Anerbieten an; Tränen der Rührung standen in seinen Augen; denn dieser Augenblick bescherte ihm ein großartiges Gehalt, Familienleben, aufsehenerregende Wiederherstellung seiner Existenz und seiner Ehre …

»Oh, gnädiger Herr, niemals werde ich Ihnen vergessen, was Sie für mich tun!«

»Das tue ich zu meinem eigenen Vergnügen! Ich will diesem Geschmeiß eins auswischen! Und morgen fahren wir ab!«

Kaum waren die beiden in Chão de Maçãs aus dem Zug gestiegen, rief der Majoratsherr den Stationsvorsteher, der João Eduardo und seine Geschichte nicht kannte, zu sich heran und sagte: »Hier bringe ich ihn im Triumph! Er kommt, um der ganzen Pfaffenbrut das Gesicht zu zerschlagen … Und wenn es Geld kostet, werde ich es bezahlen!«

Der Stationsvorsteher war keineswegs überrascht; denn der Majoratsherr galt im ganzen Bezirk für verrückt.

In Poiais erfuhr João Eduardo gleich am nächsten Tag, daß Amélia und Dona Josefa in der Ricoça wohnten. Er erfuhr es durch den guten Pfarrer Ferrão, den einzigen Priester, mit dem der Majoratsherr sprach und den er auch bei sich empfing – allerdings nicht als Geistlichen, sondern als Privatmann.

»Als Privatmann«, pflegte er zu sagen, »schätze ich Sie, Senhor Ferrão; aber als Pater verabscheue ich Sie!«

Und der gute Ferrão lächelte dazu. Er wußte, daß in der Brust des wilden, verstockten Ketzers ein edles Herz schlug; denn dieser Ketzer war ein Vater der Armen seiner Gemeinde …

Der Majoratsherr liebte, wie der Pfarrer, alte Folianten; auch war er ein großer Streithammel, wenn es sich um die Erörterung kniffeliger Fragen handelte. Manchmal gab es zwischen den beiden furchtbare Rededuelle über Weltgeschichte, Botanik und Jagdangelegenheiten … Wenn dann der Pfarrer in der Hitze des Gefechts sich erlaubte, ein wenig von oben herab eine gegenteilige Ansicht zu äußern, richtete sich der Majoratsherr steif empor und rief: »Bieten Sie mir das als Pater oder als Privatmann?«

»Als Privatmann, mein Herr.«

»Dann lasse ich den Einwurf gelten. Er ist vernünftig. Aber wenn Sie es als Pater täten, würde ich Ihnen die Knochen zerbrechen.«

Manchmal glaubte er, den Pfarrer reizen zu können, indem er ihm João Eduardo brachte. Er klopfte dann dem jungen Mann wohlgefällig auf die Schulter, wie man es bei einem Lieblingspferd zu tun pflegt.

»Sehen Sie den Kerl an!« sagte er. »Einen hat er schon zur Strecke gebracht. Jetzt muß er noch zwei oder drei abmurksen … Und wenn sie ihn hängen, werde ich ihn mit Gewalt vom Galgen holen!«

»Sie können leicht reden«, sagte der Pfarrer und nahm gemütlich eine Prise. »In Portugal gibt's ja keine Galgen mehr …«

Der Majoratsherr schnappte wütend ein. »Gewiß, wir haben keine Galgen mehr! Und warum nicht? Weil wir eine freie Regierung und einen verfassungstreuen König haben! Wenn es nach dem Willen der Pfaffen ginge, gäbe es auf jedem Platz einen Galgen und an jeder Straßenecke einen Scheiterhaufen! Sagen Sie mir eins, Senhor Ferrão: Wollen Sie hier in meinem Haus etwa die Inquisition verteidigen?«

»Aber, Verehrtester, ich habe ja gar nicht von der Inquisition gesprochen!«

»Nur aus Furcht haben Sie nicht davon gesprochen! Denn Sie wissen ganz genau, daß ich Ihnen ein Messer in den Bauch rennen würde, wenn Sie davon sprächen!«

Während er so tobte, sprang er wie besessen im Zimmer herum, so daß sein wunderbarer gelber Schlafrock einen wahren Wirbelsturm verursachte.

»Im Grunde seines Wesens ist er ein Engel«, sägte der Pfarrer zu João Eduardo. »Er wäre imstande, sogar einem Pater sein letztes Hemd zu geben, wenn er ihn in Not wüßte. Sie sind hier gut aufgehoben, mein Lieber … Seine Schrullen müssen Sie übersehen …«

Der Pfarrer Ferrão hatte eine Zuneigung zu João Eduardo gefaßt, und da er von Amélia die berühmte Legende von dem Artikel gehört hatte, wollte er – wie er sich gern ausdrückte – »ein wenig in dem Menschen blättern«. Ganze Nachmittage lang unterhielt er sich im Lorbeergarten der Pfarrei mit João Eduardo, der oft kam, um sich Bücher auszubitten. Und in dem »Pfaffentöter« – so nannte ihn der Majoratsherr – entdeckte er einen bescheidenen, empfindsamen Burschen von etwas verschwommener Religiosität, ausgesprochener Sehnsucht nach einem glücklichen Familienleben und großer Arbeitslust. Eines Tages kam dem Pfarrer eine Idee; und weil sie ihm kam, als er gerade seine Gebete vor dem Allerheiligsten beendete, meinte er, sie sei ihm vom Herrgott selbst eingegeben worden: es war die Idee, João Eduardo mit Amélia zu vermählen. Es würde wohl nicht schwerfallen, dieses schwache und zärtliche Herz zur Verzeihung zu bewegen. Und nachdem in dem schwergeprüften Mädchen jene Leidenschaft, die ihr der Teufel selbst eingehaucht haben mußte, die sie mit einem Schlage willenlos gemacht, des Seelenfriedens und der Scham beraubt hatte, erloschen war, würde Amélia in der Ehe mit João Eduardo zur Ruhe kommen; die Schuld der Vergangenheit würde getilgt, im stillen, trauten Heim würde sie Glück und Zufriedenheit finden. Noch sprach der Pfarrer mit keinem der beiden von dieser Idee, die ihn rührte und beglückte. Jetzt, da sie das Kind des andern im Schoße trug, war der Augenblick noch nicht gekommen. Aber er lockerte mit liebevoller Sorgfalt den Boden für die Zukunft, besonders in Amélia. Wenn er mit ihr sprach, erzählte er ihr von seinen Unterhaltungen mit João Eduardo: wie dieser ihn oft durch sein vernünftiges Urteil überrasche, wie geschickt und gewissenhaft er sich als Lehrer seiner kleinen Zöglinge erweise und so weiter.

»Er ist ein guter Junge«, sagte der Pfarrer. »Ein Familienmensch  … Einer, dem ein Weib ruhig ihr Schicksal in die Hände legen kann … Sie wird sicher glücklich mit ihm werden. Wenn ich nicht Priester wäre und wenn ich eine Tochter hätte, dem würde ich sie geben …«

Amélia errötete und antwortete nicht.

Konnte sie dem überzeugenden Lob des Pfarrers doch nicht mehr mit dem alten, gewichtigen Einwand von dem Artikel und der Gottlosigkeit João Eduardos begegnen! Denn eines Tages, als sie davon sprach, hatte ihr Pfarrer Ferrão die Waffe aus der Hand geschlagen, indem er sagte: »Ich habe den Artikel gelesen, liebes Fräulein. Der junge Mann hat ja nicht gegen die Priester geschrieben; er hat gegen die Pharisäer geschrieben.«

Und wie um dieses strenge Urteil abzuschwächen, das liebloseste, das er seit Jahren gefällt hatte, fügte er hinzu: »Nun ja, es war ein schwerer Fehler … Aber er hat ihn bereut. Er hat ihn mit Tränen und Hunger bezahlt.«

Und das rührte Amélia …

Um diese Zeit fing auch Doktor Gouveia an, auf die Ricoça zu kommen, denn Dona Josefas Zustand hatte sich infolge des kühleren Oktoberwetters verschlechtert. Anfangs schloß sich Amélia zur Besuchsstunde in ihrem Zimmer ein, weil sie befürchtete, der alte Doktor, dessen Strenge geradezu sprichwörtlich war, könnte ihren Zustand bemerken. Aber schließlich mußte sie doch in das Zimmer der Alten kommen, um Anweisungen betreffs der Krankenküche und der Zeiten, zu welchen die Arzneien eingenommen werden sollten, entgegenzunehmen. Und eines Tages, als sie den Arzt hinausbegleitete, überrann es sie eisig; denn er blieb stehen und sah sie an, indem er den langen weißen Bart strich, der bis auf sein Samtjackett hinabreichte.

Lächelnd sagte er: »Ich hatte deiner Mutter doch gesagt, daß sie dich verheiraten soll!«

Zwei Tränen quollen aus ihren Augen.

»Nun, meine Kleine, ich bin dir deswegen nicht böse. Du bist vollkommen im Recht. Die Natur gebietet zu empfangen; sie gebietet nicht zu heiraten. Die Heirat ist nur eine behördliche Formel …«

Amélia schaute ihn verständnislos an, während zwei dicke Tränen langsam an ihren Wangen hinabliefen. Der Doktor streichelte ihr väterlich das Kinn und sagte: »Ich will sagen, daß ich mich als Naturwissenschaftler darüber freue. Vom Standpunkt der Weltordnung aus betrachtet, hast du dich nützlich gemacht und nur deine natürliche Pflicht erfüllt. Aber reden wir von wichtigeren Dingen …«

Er gab ihr nun allerhand Ratschläge hygienischer Art.

»Und wenn es soweit ist, wenn deine schwere Stunde kommt, laß mich holen …«

Der Arzt stieg die Treppe hinunter; aber Amélia hielt ihn fest und bat ihn ängstlich: »Sie werden doch nichts in der Stadt erzählen …«

Doktor Gouveia blieb stehen und sagte: »Wie dumm du bist! Nun, es ist gut, ich will dir diese alberne Bemerkung mit Rücksicht auf deinen Zustand verzeihen. Nein, nein, ich sage nichts, Mädchen. Aber zum Teufel, warum hast du denn nicht den armen João Eduardo geheiratet? Er hätte dich ebenso glücklich gemacht wie der andre, und überdies wäre dann diese Geheimtuerei nicht nötig gewesen. Aber das ist für mich Nebensache. Die Hauptsache ist, was ich dir gesagt habe … Laß mich rufen. Und verlaß dich nicht zu sehr auf deine Heiligen … Ich verstehe von solchen Dingen mehr als die heilige Brigitte oder sonstwer. Du bist gesund und kräftig und wirst dem Staat einen tüchtigen Bengel schenken.«

Alle diese Worte, die sie zum Teil kaum verstand, in denen sie aber dankbar etwas wie gütiges Verständnis und großväterliches Verzeihen zu erkennen glaubte, richteten sie auf. Besonders die wissenschaftliche Autorität des Arztes, die ihr Gesundheit verhieß und der das weißbärtige Gottvaterantlitz des Sprechers beinahe die Weihe der Unfehlbarkeit verlieh, bestärkte sie in der heiteren Ruhe, die seit einigen Wochen, seit der verzweifelten Beichte in der Kapelle von Poiais, ihr Herz erfüllte. Ah, sicherlich fühlte der Himmel jetzt Erbarmen mit ihren Seelenqualen! Die Heilige Jungfrau selbst hatte ihr den Gedanken eingegeben, sich mit ihrem Schmerz der Fürsorge des Pfarrers Ferrão anzuvertrauen! Ihr war, als habe sie in jenem blaugrauen Beichtstuhl all den Schrecken und alle Gewissensnot gelassen, die ihre Seele erstickten. Bei jeder seiner milden, überzeugenden Tröstungen hatte sie gefühlt, wie die finsteren Wolken, die ihr den Himmel versperrten, sich lichteten. Jetzt sah sie alles in heller Bläue, und wenn sie betete, wandte die Jungfrau nicht mehr empört ihr Gesicht zur Seite. Das lag an der einzigartigen, ihr bisher gänzlich unbekannten Art, mit der der Pfarrer die Beichte abnahm. Er gab sich nicht als der strenge Stellvertreter eines beleidigten, grollenden Gottes; etwas Weiches, Mütterliches ging von ihm aus, das wie eine Liebkosung über die Seele strich. Anstatt vor ihren Augen das düstre Bild des höllischen Feuers erstehen zu lassen, zeigte ihr der treffliche Priester einen erbarmenden Himmel mit weit geöffneten Toren. Und vielfältige Wege führten hinein, die so bequem und angenehm waren, daß nur ein ganz verstockter Sünder sich weigern konnte, sie zu beschreiten. Gott erschien nach dieser milden Auslegung des zukünftigen Lebens wie ein guter, lächelnder Urgroßvater. Und die Heilige Jungfrau war eine barmherzige Schwester, die Heiligen gastfreundliche Brüder. Es war eine freundliche, liebenswürdige Religion, die von Gnade überfloß und in welcher eine aufrichtig geweinte Träne genügte, um ein sündiges Leben zu entsühnen. Sie unterschied sich von der finsteren Lehre, die Amélia seit ihrer Kindheit in zitternder Angst gehalten hatte, wie jene kleine Dorfkapelle von dem kolossalen Bau der Kathedrale. Dort, in dem alten Dom, schlossen einen meterdicke Mauern vom menschlichen, natürlichen Leben ab. Alles war düster, melancholisch und predigte Buße, überall drohten ernste Bilder. Nichts, was die Freude der Welt ausmacht, drang dort ein: weder das heitere Himmelsblau noch der Gesang der Vögel, kein frischer Wiesenduft, kein frohes Lachen. Jede Blume darin war künstlich; der Kirchendiener paßte am Portal auf, daß keine Kinder eintraten; sogar die Sonne war verbannt, und alles Licht in der Kirche kam von traurigen Leuchtern, die an Totenfeiern gemahnten. Aber in dem Kirchlein von Poiais, welch trautes Verhältnis der Natur zum lieben Gott! Durch die offenen Pforten wehte der süße Duft des Geißblatts; vom lachenden Frohsinn spielender Kinder hallten die weißgetünchten Wände wider; der Altar prangte wie ein blühender Garten; dreiste Spatzen wagten sich mit ihrem Geschrei bis an die Sockel der Kreuze. Manchmal steckte ein Ochse in naiver Vertraulichkeit seine Schnauze herein, gleich seinen Vorfahren, die sich für den Stall von Bethlehem interessiert hatten; oder ein der Herde entlaufenes Schaf freute sich, einen Artgenossen zu sehn: das Osterlamm, das, mit dem Kreuz zwischen den Vorderpfoten, friedlich im Hintergrund des Altars schlief.

Übrigens wollte der gute Pfarrer, wie er zu Amélia sagte, »nichts Unmögliches von ihr verlangen«. Er wußte sehr wohl, daß sie nicht in einem Augenblick die sündige Liebe, deren Wurzeln bis in ihr tiefstes Wesen gedrungen waren, aus sich herausreißen konnte. Der Priester wollte nur, daß sie bei dem Gedanken an Jesum Zuflucht suchte, sobald der Gedanke an Amaro sie bedrängte. Mit dem Satan, der die Stärke eines Herkules besitzt, konnte sie nicht Brust an Brust kämpfen; sie konnte sich nur hinter das Bollwerk des Gebets flüchten und den Teufel bis zur völligen Erschöpfung um dieses uneinnehmbare Asyl brüllen und toben lassen. Er selbst half ihr alle Tage bei ihrer Seelenläuterung mit der liebevollen Hingabe eines guten Krankenpflegers. Er selbst hatte ihr wie ein Theaterregisseur die Haltung einstudiert, die sie beim ersten Besuch Amaros in der Ricoça annehmen mußte. Wie ein Arzt, der immer ein Stärkungsmittel bereit hat, sprang er ihr mit einem guten Wort bei, wenn er sie in ihrer langsamen Seelengenesung schwach werden sah. Wenn sie eine Nacht von heißen Erinnerungen an die früheren Liebesfreuden verfolgt worden war, sprach er den ganzen Vormittag auf sie ein, ohne dabei in einen schulmeisterlichen Ton zu verfallen. Er machte ihr in seiner einfachen, gemütvollen Weise klar, daß ihr doch der Himmel viel größere und herrlichere Freuden bieten könne als das schmutzige Zimmer des Glöckners. So bewies er ihr auch mit der feinen Logik des geschulten Theologen, daß die Liebe des Pfarrers nichts gewesen sei als brutale Sinnenlust. Gewiß, die Liebe eines Mannes sei an sich etwas Schönes, die Liebe Pater Amaros aber nur der jähe Ausbruch unterdrückter Begierde. Als Amaro seine Briefe zu schreiben begann, zerpflückte er sie Satz für Satz und zeigte Amélia, was sie alles an Heuchelei, Egoismus, Phrasenhaftigkeit und gemeiner Absicht enthielten …

So flößte er ihr langsam einen Widerwillen gegen den Pfarrer ein. Aber er verleidete ihr nicht die legitime, durch das Sakrament geweihte Liebe. Er wußte wohl, daß Amélia sinnlich veranlagt war und daß es wenig nützen würde, wenn er sie gewaltsam in den Mystizismus drängte. Damit würde er nur vorübergehend den natürlichen Instinkt ausschalten, nicht aber dauernden Frieden schaffen. Der Pfarrer versuchte gar nicht, sie den menschlichen Wirklichkeiten zu entreißen, wollte sie nicht zur Nonne machen. Er beabsichtigte nur, das in ihr gärende Liebesverlangen der Freude eines Gatten und einem harmonischen Familienleben dienstbar zu machen; es sollte sich nicht verirren und in zufälligen Liebesabenteuern verschwenden … Eigentlich hätte er es als Priester am liebsten gesehen, wenn sie alle egoistischen Triebe der Sinnenlust in sich getötet und sich als barmherzige Schwester oder Diakonisse der Menschenliebe im allgemeinen gewidmet hätte. Aber die arme Amélia war ja so hübsch, so verliebt und schwach! Es wäre nicht klug gewesen, sie mit so schweren Opfern zu erschrecken; sie war ganz Weib, und ein richtiges Weib mußte sie bleiben; ihr in dieser Hinsicht die Flügel zu beschneiden, hieße sie fürs Leben untauglich machen. Der ans Kreuz genagelte Christus mit seinen unirdischen Gliedern konnte ihr nicht genügen; sie brauchte einen richtigen Mann mit Schnurrbart und hohem Hut. Geduld! Wenn es nur ein legitimer Ehemann war …

Durch seine täglichen Bemühungen heilte er Amélia allmählich von ihrer krankhaften Leidenschaft. Er zeigte in seinem Bekehrungswerk eine Beharrlichkeit, wie sie etwa bei Missionaren zu finden ist und nur aus felsenfestem Glauben fließen kann. Dabei verfuhr er geschickt und in wahrhaft väterlicher Weise; er verschmähte es auch nicht, raffinierte Kasuistik in den Dienst seiner Moralphilosophie zu stellen. Kurz, es war eine Wunderkur, auf die der gute Pfarrer im stillen selbst ein wenig stolz war.

Groß war seine Freude, als er den Eindruck gewann, daß Amélias Liebe zu Amaro tot und einbalsamiert war, in ihrer Erinnerung begraben lag wie in einer Gruft … Und schon sproßte neue Tugend wie frisches Grün daraus hervor. So schien es wenigstens dem wackeren Ferrão, wenn er beobachtete, wie sie mit ruhigem Blick auf die Vergangenheit anspielte und nicht mehr bei der bloßen Erwähnung Amaros heftig errötete.

Tatsächlich dachte Amélia jetzt nicht mehr mit der früheren Erregung an den Pfarrer. Das Grauen vor der Sünde, der tiefgehende Einfluß des Pfarrers, das plötzliche Herausgerissensein aus dem scheinheiligen Milieu, in dem sich ihre Liebe entwickelt hatte, die Freude an ihrer Seelenruhe, die nicht mehr durch nächtlichen Spuk und den Groll der Jungfrau Maria gestört wurde: all dies hatte dazu beigetragen, daß das prasselnde Feuer ihrer Leidenschaft zu einem mattglimmenden Fünkchen zusammengeschrumpft war. Der Pfarrer war ihr anfänglich ein goldenes, von göttlichem Nimbus umgebenes Idol gewesen. Aber sehr oft, besonders seit ihrer Schwangerschaft, hatte es zu wanken begonnen. Und in den Stunden religiöser Furcht oder hysterischer Reue erkannte sie, daß das Gold nur eine dünne Vergoldung war, die an ihren Händen haftenblieb, und darunter entdeckte sie eine ganz nüchterne, dunkle Gestalt, die sie gar nicht mehr blendete. Darum sah sie auch ohne Tränen und ohne Widerstand zu, wie der Pfarrer das Idol gänzlich zu Boden stürzte. Wenn sie überhaupt noch an Amaro dachte, lag dies daran, daß sie nicht aufhören konnte, an das Glöcknerhaus zu denken. Aber was sie noch reizte, war die genossene Lust, nicht der Pfarrer.

Da sie von Natur ein gutes Mädchen war, fühlte sie aufrichtige Dankbarkeit für den Pfarrer. Wie sie ja auch an jenem Nachmittag zu Amaro gesagt hatte: »Ihm verdanke ich alles.« Dasselbe empfand sie jetzt für den Doktor Gouveia, der regelmäßig alle zwei Tage erschien, um nach der Alten zu sehen. Diese beiden Männer waren ihre guten Freunde, gleichsam zwei Väter, die ihr der Himmel schickte: der eine verhieß ihr Gesundheit, der andere Gnade.

Auf diese Weise beschützt und betreut, verbrachte sie die letzten Oktoberwochen in köstlichem Frieden. Das Wetter war hell und warm. Wie wohl fühlte sie sich, wenn sie nachmittags auf der Terrasse saß und in die heitere Herbstlandschaft blickte! Manchmal trafen sich auch der Doktor Gouveia und der Pfarrer Ferrão, die sich gegenseitig sehr schätzten. Nach dem Besuch bei Dona Josefa begaben sie sich auf die Terrasse, und sofort begannen sie sich über Religion und Moral zu streiten.

Amélia ließ ihre Näherei im Schoß ruhen; sie freute sich der Gesellschaft ihrer beiden Freunde, dieser Kolosse an Weisheit und Tugend. Sie gab sich ganz dem Zauber der Stunde hin; sinnend schweifte ihr Blick über den Landsitz, dessen Laubbäume sich schon bunt färbten. Amélia dachte an die Zukunft, die glatt und ruhig vor ihr lag. Sie war ja stark, und die Niederkunft bedeutete ihr, da der Doktor seine Hilfe in Aussicht gestellt hatte, nur eine einzige schwere Stunde. Wenn alles vorüber war, kehrte sie in die Stadt zur Mama zurück … Und dann gaukelte noch eine andere Hoffnung vor ihrer Seele; der Pfarrer erzählte ihr ständig von dem Schreiber … Warum sollte nicht …? Wenn der arme Junge sie noch liebte und ihr verzieh? Als Mann hatte er ihr ja niemals mißfallen. Und jetzt, da er die Freundschaft des Majoratsherrn genoß, war er eine glänzende Partie. Man erzählte, daß João Eduardo der Hausverwalter des Krösus werden solle … Sie malte sich aus, wie sie immer in Poiais wohnen, in der Kalesche des Majoratsherrn ausfahren und durch ein Klingelzeichen zum Mittagessen gerufen würde, bei dem ein livrierter Diener aufwartete … Lange verharrte Amélia unbeweglich und sonnte sich im Glanz ihrer Träume, während der Pfarrer und der Doktor im Hintergrund der Terrasse über die Lehre von der Gnade und dem Gewissen debattierten und der Wasserlauf im Obstgarten sanft murmelte.

Um jene Zeit schickte Dona Josefa, die sich über das Ausbleiben des Herrn Pfarrers beunruhigte, eigens den Hausverwalter nach Leiria, um Seine Hochwürden um die Gunst eines Besuchs zu bitten. Der Mann kam mit der erstaunlichen Botschaft zurück, daß der Herr Pfarrer nach Vieira abgereist sei und erst in zwei Wochen heimkommen werde. Die Alte lamentierte über diesen Verdruß. Auch Amélia war tief verstimmt und konnte in dieser Nacht nicht einschlafen. Es ärgerte sie, daß der Herr Pfarrer sich in Vieira amüsierte, ohne wahrscheinlich an sie zu denken. Sicherlich scherzte er am Strand mit den Damen und ging von einer Abendgesellschaft zur andern …

 

Mit der ersten Novemberwoche setzte der Regen ein. Die Ricoça machte nun einen noch trübseligeren Eindruck als bisher. Dazu kam, daß Pfarrer Ferrão, den ein Rheumatismus gepackt hatte, sich nicht mehr sehen ließ. Der Doktor Gouveia fuhr nach halbstündigem Besuch wieder in seinem Kabriolett davon.

Die einzige Zerstreuung Amélias bestand darin, daß sie zum geschlossenen Fenster hinausschaute. Dreimal sah sie João Eduardo auf der Straße vorbeigehen; aber wenn er sie erblickte, senkte er die Augen oder versteckte sich unter seinem Regenschirm.

Dionísia kam ziemlich oft; sie sollte die Hebamme sein, obwohl der Doktor Gouveia Micaela vorgeschlagen hatte, die über eine mehr als dreißigjährige Erfahrung verfügte. Aber Amélia wollte nicht, daß noch mehr Leute in das Geheimnis gezogen würden. Und außerdem brachte Dionísia über Amaro Nachrichten, die sie von der Köchin erfuhr. Dem Herrn Pfarrer gefiel es so gut in Vieira, daß er bis zum Dezember dort zu bleiben gedachte. Dieses »gemeine Verhalten« empörte Amélia; sie zweifelte nicht, daß Amaro nur fern sein wollte, wenn ihre Wehen einsetzten.

Übrigens war schon lange ausgemacht worden, daß das Kind einer Amme in der Nähe von Ourém übergeben und dort aufgezogen werden sollte; und jetzt, da ihre Stunde nahte, hatte er die Ziehmutter noch nicht einmal verständigt, sondern beliebte, Muscheln am Meeresstrand zu suchen!

»Es ist gemein, Dionísia!« rief Amélia in ihrem Zorn.

»Ja, ich finde es auch nicht nett. Nun, ich könnte ja mit der Ziehmutter sprechen … Aber sehen Sie, die Sache ist doch zu wichtig … Und der Herr Pfarrer hatte es doch auf sich genommen, alles zu regeln …«

»Es ist niederträchtig!«

Außerdem hatte sie sich um die Babyausstattung sehr wenig gekümmert; jetzt, da das Kind bald kommen konnte, war fast gar nichts da, und es fehlte ihr an Geld zum Einkaufen! Dionísia bot ihr etwas Säuglingswäsche an, die sie von einer ihrer »Kundinnen« als Pfand zurückbehalten hatte. Aber Amélia lehnte ab; sie wollte nicht, daß ihr Kind in fremden Windeln läge, durch die es vielleicht angesteckt oder sonstwie unheilvoll beeinflußt werden konnte.

Und ihr Stolz verbot ihr, an Amaro zu schreiben.

Dazu kam, daß die Launen der Alten immer gehässiger wurden. Die arme Dona Josefa, die des geistlichen Zuspruchs eines Paters, eines wirklichen Paters entbehrte – denn Pfarrer Ferrão zählte für sie nicht –, sah ihre Seele schutzlos den frechen Angriffen des Satans preisgegeben. Die seltsame Anfechtung, die sie mit dem nackten heiligen Franziskus Xaver erlebt hatte, wiederholte sich jetzt mit furchtbarer Beharrlichkeit in bezug auf alle Heiligen: Der ganze himmlische Hofstaat warf die Gewänder ab und führte in ihrer Einbildung hüllenlos freche Tänze auf, so daß die Alte unter dem Ansturm dieser teuflischen Phantasien beinahe zusammenbrach. Sie verlangte nach Pater Silvério; aber es schien, als wüte das Rheuma unter allen Geistlichen der Diözese: seit dem Beginn des Winters war auch er ans Bett gefesselt. Der Pfarrer von Cortegaça, den sie aufs dringlichste um einen Besuch bitten ließ, kam, aber nur, um ihr ein neues Rezept für »Kabeljau à la Biscaya« mitzuteilen … Dieses Versagen eines sonst tugendhaften Paters versetzte Dona Josefa in die grimmigste Gewitterstimmung, die sich in tausend Niederträchtigkeiten gegen Amélia entlud. Schon dachte die gute alte Dame allen Ernstes daran, die Hausverwalterin Amaros nach dem Pater Brito zu schicken, als eines Nachmittags unverhofft der Herr Pfarrer auftauchte.

Amaro sah prächtig aus; Sonne und Seeluft hatten sein Gesicht gebräunt. Er trug einen neuen Rock und Lackschuhe. Lange erzählte er über Vieira, die dort befindlichen Bekannten, seine erfolgreichen Fischzüge und die famosen Lottospiele, an denen er teilgenommen hatte. Es war, als wäre mit ihm der belebende Hauch des Meeres, die Freude des wimmelnden Strandbetriebs in diese alte, traurige Krankenstube gekommen. Und während Dona Josefa ihm zuhörte, zitterten zwei Freudentränen an ihren Wimpern. So sehr entzückte sie der Anblick und das Gespräch des Herrn Pfarrers.

»Und Ihrer Mama geht es gut«, sagte er zu Amélia. »Sie hat schon dreißig Bäder hinter sich. Neulich gewann sie beim Spiel fünfzehn Tostões durch eine kleine Mogelei … Nun, und wie geht es hier?«

Da fing die Alte eine lange Jeremiade an: Eine Einsamkeit! Immer Regenwetter! Keine Freunde! Ach, sie ging in diesem unseligen Landhause elend zugrunde! …

»Nun«, sagte Amaro, indem er ein Bein über das andre schlug, »ich habe mich in Vieira so wohl gefühlt, daß ich noch eine Woche hinzugehen gedenke.«

»Wie? Noch einmal?« rief Amélia, die nicht an sich halten konnte.

»Ja«, erwiderte er. »Und wenn mir der Chorherr noch einen Monat Urlaub gibt, verbringe ich auch diesen in Vieira … Man stellt einfach ein Bett für mich in das Eßzimmer des Meisters; ich nehme meine Bäder … Ach, ich hatte Leiria so satt! Die Langeweile …«

Die Alte war untröstlich. Wie, wieder nach Vieira gehen? Sie in ihrer Trübsal umkommen lassen?

Amaro schlug einen scherzhaften Ton an.

»Na, die Damen brauchen mich doch hier nicht. Sie befinden sich in netter Gesellschaft …«

»Ich weiß nicht«, sagte die Alte verbissen, »wenn die anderen« – sie betonte das Wort scharf –, »wenn die anderen den Herrn Pfarrer nicht brauchen … ich befinde mich nicht in netter Gesellschaft; ich gehe hier zugrunde … Denn die Gesellschaft, die hierherkommt, gereicht mir weder zur Ehre, noch nützt sie mir.«

Amélia versetzte die Alte in noch größere Wut, als sie einfiel: »Und zum Überfluß ist Pfarrer Ferrão auch noch krank geworden … Er leidet an Rheumatismus. Ohne ihn ist das Haus wie ein Gefängnis.«

Dona Josefa brach in ein höhnisches Lachen aus. Pater Amaro erhob sich, um zu gehen, und bedauerte den guten Pfarrer.

»Der Arme!« meinte er. »Ein Heiliger! … Wenn ich Zeit habe, besuche ich ihn einmal. Ich denke, morgen werde ich wieder da sein, Dona Josefa. Wir werden Ihre Seele schon zur Ruhe bringen … Bemühen Sie sich nicht, Dona Amélia, ich kenne jetzt den Weg.«

Aber sie bestand darauf, ihn hinauszubegleiten. Wortlos durchschritten sie das Zimmer. Amaro zog sich seine neuen Glacéhandschuhe an. Als sie an der Treppe waren, nahm er mit großer Förmlichkeit den Hut ab und sagte: »Mein Fräulein …«

Ganz erstarrt sah sie ihn ruhig die Treppe hinabsteigen. Sie schien ihm gleichgültiger zu sein als die beiden steinernen Löwen, die da unten mit in den Pfoten vergrabenen Schnauzen schliefen.

Sie rannte auf ihr Zimmer, warf sich über das Bett und weinte vor Wut. Diese Demütigung! … O der Elende! Und kein Wort über das Kind, die Amme, die Ausstattung. Kein Blick, der das geringste Interesse an ihrem durch die Schwangerschaft entstellten Leib verriet! … Und er war doch schuld daran! … Kein Wort des Vorwurfs, daß sie ihn so verächtlich behandelt hatte! … Nichts! Er zog sich, den Hut unterm Arm, die Handschuhe an … Welche Schmach!

Am nächsten Tag erschien Amaro ziemlich früh. Er blieb lange mit der Alten allein.

Amélia lief unterdessen unruhig und mit funkelnden Augen in dem leeren Zimmer auf und ab. Endlich erschien er. Wie am vorigen Tag zog er sich gemütlich die Handschuhe an.

»Endlich fertig?« sagte sie mit bebender Stimme.

»Ja, mein Fräulein. Ich hatte eine geistliche Unterredung mit Dona Josefa.«

Er zog tief den Hut. »Gnädiges Fräulein …«

Amélia wurde aschgrau und murmelte: »Schuft!«

Er sah sie erstaunt an. »Gnädiges Fräulein …«, wiederholte er. Und wie am Tag zuvor schritt er gemächlich die breite Steintreppe hinab.

Ihr erster Gedanke war, ihn beim Generalvikar anzuzeigen. Aber dann zog sie es vor, ihm in der Nacht einen drei Seiten langen Brief voller Anklagen und schmerzlicher Ergüsse zu schreiben. Seine einzige Antwort bestand darin, daß er ihr am nächsten Tag durch Johann, den Knecht des Landguts, sagen ließ, »daß er vielleicht am Donnerstag einmal rauskommen werde«.

Amélia verbrachte wiederum eine tränenreiche Nacht, während sich in der Rua das Sousas Pater Amaro die Hände rieb: Er freute sich »seiner famosen Taktik«. Und doch war diese nicht seinem eigenen Hirn entsprungen. Die Idee war ihm in Vieira suggeriert worden, wo der blendende Pinheiro, der Stolz Alcobaças, bei einer Soirée über die Liebe plauderte.

»Ja, meine Damen«, sagte Pinheiro und strich mit der Hand über seine Künstlermähne, »ich bin da der Meinung Lamartines.« Er war abwechselnd der Meinung Lamartines oder Pelletans. »Ich sage mit Lamartine: Die Frau ist dem Schatten gleich; wenn man ihr nachläuft, flieht sie; wenn man von ihr flieht, läuft sie einem nach.«

Ein überzeugtes »Sehr gut!« ließ sich vernehmen; aber eine korpulente Dame, die Mutter von vier entzückenden Engeln (die nach dem Urteil Pinheiros von marienhafter Unschuld waren), bat um Erklärungen: Sie habe noch nie einen Schatten fliehen sehen.

Pinheiro erklärte mit wissenschaftlicher Anschaulichkeit: »Das ist doch sehr leicht zu beobachten. Sie stellen sich einfach an den Strand, wenn die Sonne anfängt unterzugehen, und drehen ihr den Rücken zu. Wenn Sie nun vorwärts gehen und den Schatten verfolgen, flieht er vor Ihnen her …«

»Physik in amüsanter Form«, flüsterte der Gerichtssekretär dem Pater Amaro ins Ohr.

Aber dieser hörte gar nicht auf ihn; schon war er ganz von der Idee dieser »famosen Taktik« besessen. Ah, wenn er wieder nach Leiria käme, würde er Amélia wie einen Schatten behandeln und vor ihr fliehen, um verfolgt zu werden … Und das erfreuliche Ergebnis lag vor ihm: drei Briefseiten voller Leidenschaft und Tränenspuren.

Am Donnerstag erschien er tatsächlich in Poiais. Amélia hatte vom Morgen an auf der Terrasse gestanden und die Landstraße mit einem Opernglas im Auge behalten. Sobald er kam, öffnete sie ihm das grüne Pförtchen in der Mauer des Obstgartens.

»Also hier bist du!« sagte der Pfarrer, der ihr auf die Terrasse folgte.

»Ja, da ich ganz allein bin …«

»Allein?«

»Die Patin schläft, und Gertrudes ist in die Stadt gegangen … Ich habe hier den ganzen Vormittag in der Sonne gesessen.«

Darauf gingen sie schweigend ins Haus. Vor einer offenen Tür blieb Amaro stehen, denn er erblickte ein großes Bett, über dem sich eine Art Baldachin spannte. Feierliche Lederstühle standen daneben.

»Dies ist dein Zimmer, nicht?«

»Ja.«

Den Hut auf dem Kopf behaltend, trat er ein, als ob er hier zu Hause wäre.

»Die Stube ist viel hübscher als die in der Rua da Misericórdia. Schöne Aussicht … Dort drüben die Felder des Majoratsherrn …«

Amélia hatte die Tür zugemacht; mit flammenden Augen ging sie stracks auf ihn zu. »Warum hast du nicht auf meinen Brief geantwortet?« stieß sie hervor.

Er sagte: »Das ist nicht übel! Und warum hast du nicht auf die meinigen geantwortet? Wer hat angefangen? Du! … Du sagst, du willst nicht mehr sündigen. Ich will auch nicht mehr sündigen. Es ist aus …«

»Aber darum handelt es sich gar nicht!« rief sie, bleich vor Entrüstung. »Es handelt sich um das Kind, die Amme, die Ausstattung … Du kannst mich doch nicht einfach im Stich lassen …«

Er setzte eine ernste Miene auf und sagte verletzt: »Pardon. Ich schmeichle mir, ein Ehrenmann zu sein. Dies alles wird geregelt werden, noch ehe ich nach Vieira zurückkehre …«

»Du wirst nicht nach Vieira zurückkehren!«

»Wer sagt das?«

»Ich! … Denn ich will nicht, daß du hingehst!«

Sie packte ihn mit den Händen an den Schultern, hielt ihn fest, zog ihn an sich, und ohne auch nur einen Blick nach der nicht verriegelten Tür zu werfen, gab sie sich ihm hin wie früher …

 

Nach einigen Tagen erschien in der Ricoça wieder Pfarrer Ferrão, der von seinem Rheumatismus geheilt war. Er erzählte Amélia von der Liebenswürdigkeit des Majoratsherrn, der ihm jeden Tag ein Huhn mit Reis geschickt habe; damit es unterwegs nicht kalt würde, habe er fürsorglicherweise den Topf in ein Blechgefäß mit heißem Wasser setzen lassen. Aber ganz besonders rühmte er die Aufopferung João Eduardos. Dieser habe ihm jede freie Stunde gewidmet, ihm laut vorgelesen, wenn er sich im Bett umdrehen wollte und so weiter. Bis ein Uhr nachts habe er ihn wie der beste Krankenpfleger betreut. Was für ein Junge!

Plötzlich ergriff er Amélias Hände und rief: »Sagen Sie, Kind: Erlauben Sie, daß ich ihm alles erzähle und alles erkläre? … Daß ich ihn dazu bewege, zu verzeihen und zu vergessen? … Daß diese Heirat, dieses Glück zustande kommt?«

Sie erschrak und stammelte unter heißem Erröten: »Es kommt so überraschend … Ich weiß nicht … Ich muß darüber nachdenken …«

»Denken Sie darüber nach! Und Gott erleuchte Sie!« sagte der Alte mit großer Wärme.

In dieser Nacht sollte Amaro durch das Pförtchen in der Mauer des Obstgartens eintreten, zu dem ihm Amélia den Schlüssel gegeben hatte. Unglücklicherweise hatten sie nicht an die Hunde des Hausverwalters gedacht. Als nun Amaro den Fuß in den Garten setzte, wurde das nächtliche Schweigen durch ein so wahnsinniges Hundegekläff zerrissen, daß er in schlotternder Furcht wieder auf die Straße sprang.


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