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IV

Am nächsten Tage sprach man in Leiria von der Ankunft des neuen Pfarrers. Jedermann wußte schon, daß er einen Blechkoffer mitgebracht hatte, daß er groß und schlank war und daß er den Kanonikus Dias mit »Meister« anredete.

Die Freundinnen der Joaneira – aber nur die intimen, wie Dona Maria da Assunção und die Gansosos – waren gleich am Morgen zu ihr geeilt, um sich zu orientieren … Es war neun Uhr; Amaro war mit dem Kanonikus fortgegangen. Die Joaneira strahlte und fühlte sich wichtig, als sie ihre Freundinnen oben auf der Treppe empfing. Sie hatte der Morgenarbeit wegen die Ärmel in die Höhe gekrempelt, und sofort begann sie lebhaft von der Ankunft des Pfarrers, von seinen guten Manieren und von dem, was er gesagt hatte, zu erzählen …

»Aber kommt nur mit hinunter; ihr müßt doch einmal hineingucken.«

Sie zeigte ihnen das Zimmer des Pfarrers, den Blechkoffer, auch ein Regal, das sie für die Bücher hingestellt hatte.

»Sehr nett, alles ist wirklich sehr nett«, lobten die Alten; langsam und ehrfürchtig wie in einer Kirche schritten sie durch das Zimmer.

»Feiner Mantel!« bemerkte Dona Joaquina Gansoso und befühlte das Tuch der breiten Schärpe, die vom Kleiderständer herabhing. »Der kostet ein paar Goldstücke!«

»Und die schöne Wäsche!« rühmte die Joaneira, den Deckel des Koffers aufklappend.

Die Matronen bückten sich bewundernd.

»Mich freut besonders, daß es ein junger Mann ist«, sagte Dona Maria da Assunção mit frommem Augenaufschlag.

»Mich auch«, bekräftigte Dona Joaquina Gansoso. »Ist es nicht eine Zumutung, beim Beichten auf schmierige Schnupftabakflecke blicken zu müssen, wie es beim Raposo der Fall war? Du lieber Gott, da muß man doch seine Frömmigkeit verlieren! Und dieser Flegel, der José Miguéis! Nein, ich will lieber unter den Händen junger Leute sterben!«

Die Joaneira zeigte noch andere Schätze des Pfarrers: ein Kruzifix, das noch in einer alten Zeitung eingewickelt war, ein Photoalbum, dessen erstes Blatt ein Bild des Papstes zierte, der die Christenheit segnet. Alle begeisterten sich darüber.

»Mehr kann man nicht verlangen«, sagten sie, »nein, wirklich nicht!«

Beim Fortgehen küßten sie die Joaneira ab und beglückwünschten sie dazu, daß sie nun mit dem Pfarrer so etwas wie eine kirchliche Autorität im Hause hätte.

»Ihr kommt doch abends ein bißchen her?« rief sie die Treppe hinab.

»Und ob!« schrie Dona Maria da Assunção, die schon an der Haustür war und ihre Mantille umnahm. »Natürlich – damit wir uns in aller Gemütlichkeit ausplaudern können.«

Zu Mittag kam Libaninho, der eifrigste Kirchgänger von Leiria. Schon als er die Treppe hinaufstürmte, rief er mit seiner dünnen Stimme: »Joaneira!«

»Komm nur herein, Libaninho, komm nur!« sagte sie, am Fenster nähend.

»Der Herr Pfarrer ist also da, nicht?« fragte Libaninho, als er sein dickes, zitronengelbes Gesicht, über dem eine Glatze glänzte, zur Tür hereinsteckte. Und mit kleinen Schritten, mit dem Oberkörper hin und her wackelnd, ging er auf die Frau zu.

»Also wie steht's? Wie ist er? Sieht er gut aus?«

Die Joaneira fing noch einmal an, Amaros Lob zu singen: seine Jugend, sein frommes Wesen, und wie weiß seine Zähne seien …

»Armes Kerlchen! Liebes Kerlchen!« sagte Libaninho und weinte beinahe vor frommer Rührung. Aber er konnte nicht verweilen, er mußte aufs Amt. »Adieu, Kindchen, adieu!« Damit klopfte er der Joaneira mit seiner feisten Hand auf die Schulter. »Du wirst immer molliger … Weißt du auch, daß ich gestern das Salve Regina Salve Regina – (lat.) Gegrüßet seist du, Königin. gebetet habe, damit du mich einlädst, Undankbare?«

Die Magd war eingetreten.

»Adieu, Ruça! Wie mager du bist! Flehe nur die heilige Mutter der Menschen an!« In diesem Augenblick entdeckte er Amelia durch die halbgeöffnete Zimmertür. »Ach, wie eine Blume bist du, Kleine! Ich weiß schon, wen du gern magst … ich weiß schon!«

Und eilig, trippelnd, schwänzelnd, unter fortwährendem trockenem Räuspern flog er die Treppe hinab und fistelte: »Adieu, adieu, ihr Kleinen!«

»He, Libaninho, kommst du heute abend?«

»Ich kann nicht, Mädchen, ach, leider kann ich nicht!« schrie er weinerlich. »Morgen ist doch der Tag der heiligen Barbara: sechs Vaterunser … unweigerlich!«

 

Amaro besuchte mit dem Kanonikus Dias den Chorherrn und überreichte ihm einen Empfehlungsbrief des Grafen von Ribamar.

»Den Grafen von Ribamar habe ich sehr gut gekannt«, sagte der Chorherr. »Es war im Jahre 1846 in Porto. Wir sind alte Freunde. Ich war damals Pfarrer an der Kirche Santo Ildefonso. Ach, wie lange ist das her!«

Und indem er sich in den alten, mit Damast überzogenen Armstuhl zurücklehnte, sprach er mit großem Behagen von jener Zeit. Er erzählte Anekdoten aus dem Landtag, pries die damaligen Männer und imitierte – es war dies eine seiner Spezialitäten – ihre Stimmen, Marotten und Schwächen. Besonders hatte es ihm Manuel Passos angetan: Er machte vor, wie dieser mit seinem langen schwarzen Rock und dem breitkrempigen Hut auf dem Neumarkt promenierte und immer wiederholte: »Mut, Patrioten! Der Xavier hält sich!«

Die geistlichen Herren lachten vergnügt. Es entstand eine große Herzlichkeit, und Amaro erhob sich sehr geschmeichelt.

Darauf speiste er im Hause des Kanonikus Dias, um später mit ihm einen Spaziergang auf der Landstraße von Marrazes zu machen. Ein mildes, gedämpftes Licht überflutete die ganze Landschaft; die Hügel tauchten in den blauen Himmel hinein und atmeten Ruhe, sanften Frieden. Weiße Rauchwölkchen stiegen aus den Weilern; man hörte das melancholische Schellengeläute der heimkehrenden Herden. An der Brücke blieb Amaro stehen, ließ seine Blicke über die liebliche Landschaft schweifen und sagte: »Ich glaube, ich werde mich hier sehr wohl fühlen!«

»Wie zu Hause werden Sie sich fühlen«, nickte der Kanonikus und sog eine Prise in die Nase.

Es war acht Uhr, als sie im Hause der Joaneira anlangten.

Die alten Freundinnen plauderten noch im Eßzimmer. Neben der Petroleumlampe saß Amélia und nähte.

Dona Maria da Assunção hatte, wie an Sonntagen, ihr schwarzes seidenes Kleid angezogen. Ihr rötlichblonder Chignon war mit einer schwarzen Spitzengarnitur bedeckt; die dürren Hände, die in Halbhandschuhen steckten, ruhten schwerberingt in ihrem Schoß. Von der Brosche am Hals fiel ihr bis zum Gürtel eine dicke goldene Kette mit einem kunstvoll gearbeiteten verschiebbaren Anhänger. Sie saß steif und feierlich da, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, eine goldene Brille auf der stattlichen Nase. Am Kinn hatte sie eine große behaarte Warze, und wenn man von Frömmigkeit und Wundern sprach, verdrehte sie den Hals auf seltsame Weise und öffnete den Mund zu einem stummen Lächeln, wobei ihre gelbgrünen enormen Zähne, die wie Keile im Zahnfleisch staken, zum Vorschein kamen. Sie war eine reiche Witwe und litt an chronischem Katarrh.

»Hier haben Sie den neuen Herrn Pfarrer, Dona Maria«, wandte sich die Joaneira an sie.

Sie erhob sich gerührt und knickte in den Hüften zu einer Verbeugung zusammen.

»Und das sind die Damen Gansoso, Sie werden wohl schon von ihnen gehört haben«, sagte die Joaneira zum Pfarrer.

Amaro grüßte ein wenig schüchtern. Es waren zwei Schwestern, die für nicht unbemittelt galten, aber dennoch Pensionäre ins Haus nahmen. Die ältere von beiden, Dona Joaquina Gansoso, war spindeldürr. Sie hatte eine mächtige, breite Stirn, zwei lebhafte Äuglein, eine Stupsnase und dünne, verkniffene Lippen. In ihren Schal gehüllt, saß sie mit gekreuzten Armen steif da und ließ ihre spitze, befehlende Stimme ununterbrochen ertönen. Sie war rechthaberisch, redete schlecht von aller Welt, im übrigen aber gehörte ihr Herz ganz der Kirche.

Ihre Schwester, Dona Ana, war stocktaub. Sie sprach nie, hielt immer die Augen gesenkt und die Hände im Schoß gefaltet, wobei sie ruhig ihre beiden Daumen umeinander kreisen ließ. Dona Ana war wohlbeleibt; sie trug ihr ewiges schwarzes Kleid mit gelben Streifen und eine Hermelinboa um den Hals. Kein einziges Mal während des ganzen Abends erwachte sie aus ihrem Halbschlummer; nur ab und zu bekundete sie durch geräuschvolle Seufzer, daß sie überhaupt da war. Man munkelte, sie trüge eine geheime Leidenschaft für den Postkassierer im Herzen. Alle bedauerten sie, und alle bewunderten ihre Geschicklichkeit im Ausschneiden von Seidenpapier für Konfektschachteln.

Auch Dona Josefa, die Schwester des Kanonikus Dias, war erschienen. Gehässige Leute hatten ihr den Spitznamen »die geschälte Kastanie« angehängt. Sie war ein vertrocknetes, krummes Persönchen mit runzeliger, quittengelber Haut und zischte beim Reden. Dona Josefa befand sich ständig in gereiztem Zustand; ihre kleinen Augen funkelten in ewiger Wut, sie war wie geladen von Galle; ein nervöses Zucken ließ ihren Mund nie zur Ruhe kommen. Man fürchtete sie. Der boshafte Doktor Godinho nannte sie »die Zentralstelle der Intrigen von Leiria«.

»Nun, tüchtig spazierengegangen, Herr Pfarrer?« fragte sie, indem sie sich sogleich in die Höhe richtete.

»Wir sind beinahe bis ans Ende der Estrada de Marrazes gekommen«, sagte der Kanonikus und setzte sich schwerfällig auf einen Stuhl hinter der Joaneira.

»Es war doch sehr hübsch, Herr Pfarrer?« mischte sich Dona Joaquina Gansoso ins Gespräch.

»Sehr hübsch.«

Man sprach von der reizenden Umgebung von Leiria, von den schönen Ausblicken. Dona Josefa schätzte besonders die Promenade am Fluß; sie habe schon sagen hören, daß nicht einmal Lissabon etwas Derartiges bieten könne. Dona Joaquina zog die Kirche der Inkarnation auf der Anhöhe vor.

»Man hat eine herrliche Aussicht von da oben aus.«

Amélia sagte lächelnd: »Ich liebe vor allem das Fleckchen neben der Brücke, unter den Trauerweiden.« Und indem sie den Zwirnsfaden zerbiß: »Es ist so voll süßer Schwermut.«

Da sah sie Amaro zum ersten Male an. Sie trug ein blaues Kleid, das sich prall an den hübschen Busen schmiegte. Darüber erhob sich der weiße, kräftige Hals aus einem umgeschlagenen Kragen. Zwischen den frischen roten Lippen schimmerte der Schmelz der Zähne, und es schien dem Pfarrer, als läge über ihren Mundwinkeln der Schatten eines feinen, zarten Flaums.

Es gab ein kleines Schweigen. Der Kanonikus schloß schon die Lider und ließ den Unterkiefer herabhängen.

»Was ist nur mit Pater Brito los?« fragte Dona Joaquina Gansoso.

»Wahrscheinlich hat er seine Migräne, der arme Mensch!« bedauerte Dona Maria da Assunção.

Ein junger Mann, der neben dem Büfett saß, sagte: »Ich habe ihn heute ausreiten sehen; er ritt auf Barrosa zu.«

»Aber Mann«, meinte spitz die Schwester des Kanonikus, Dona Josefa Dias, »das wäre doch ein Wunder, wenn Sie den Herrn überhaupt eines Blickes gewürdigt hätten!«

»Warum denn, gnädige Frau?« fragte er, indem er aufstand und sich der Gruppe der alten Damen näherte.

Er war groß, ganz in Schwarz gekleidet. In seinem weißen, regelmäßigen, ein wenig müden Gesicht fiel ein kleines, tiefschwarzes Schnurrbärtchen auf, das ihm in die Mundwinkel hing und an dem er mit den Zähnen zu nagen pflegte.

»Und er fragt auch noch!« rief Dona Josefa Dias. »Wo Sie doch nicht einmal den Hut vor ihm ziehen!«

»Ich?«

»Er hat mir's gesagt«, rief sie mit schneidender Stimme. Und sie fuhr fort: »Ach, Herr Pfarrer, wenn Sie doch den Senhor João Eduardo auf den rechten Weg bringen könnten!« Dabei lächelte sie boshaft.

»Aber ich wüßte nicht, daß ich auf unrechten Pfaden wandle!« lächelte er, die Hände in den Taschen. Und jeden Augenblick sah er zu Amélia hinüber.

»Sehr gut!« bemerkte Dona Joaquina Gansoso. »Was Sie da heute nachmittag zu Hause von der Heiligen von Arregaça gesagt haben, wird Ihnen wohl nicht in den Himmel helfen.«

»Hört, hört!« schrie die Schwester des Kanonikus und wandte sich jäh an João Eduardo. »Also was haben Sie über die Heilige zu sagen? Erklären Sie sie vielleicht für eine Schwindlerin?«

»Um Jesu willen!« jammerte Dona Maria da Assunção, während sie die Hände rang und João Eduardo mit mitleidigem Entsetzen anstarrte. »Das hätte er wirklich getan? O Gekreuzigter!«

»Nein«, sagte ernst der Kanonikus, der munter geworden war und sein rotes Schnupftuch entfaltete, »nein, Senhor João Eduardo kann so etwas nicht gesagt haben!«

Da fragte Amaro: »Wer ist denn die Heilige von Arregaça?«

»Du meine Güte!« rief Dona Maria da Assunção ganz erstaunt. »Haben Sie denn noch nichts von ihr gehört?«

»Er muß doch von ihr gehört haben!« sagte Dona Josefa Dias überzeugt. »Die Lissabonner Zeitungen müssen doch voll davon sein!«

»Es ist in der Tat ein ganz außergewöhnlicher Fall«, murmelte sinnend der Kanonikus.

Die Joaneira hielt mit Stricken inne und nahm die Brille ab.

»Ach, Herr Pfarrer, Sie glauben es nicht! Es ist das Wunder der Wunder!«

»Und ob! Und ob!« bestätigten die andern.

Ein frommes, andächtiges Schweigen lastete über der Gesellschaft.

»Nun … und?« fragte Amaro gespannt.

»Sehen Sie, Herr Pfarrer«, begann feierlich Dona Joaquina Gansoso und reckte sich in ihrem Schal empor, »die Heilige ist eine Frau, die in einer benachbarten Gemeinde lebt und seit zwanzig Jahren ans Bett gefesselt ist …«

»Seit fünfundzwanzig Jahren«, korrigierte leise Dona Maria da Assunção und klopfte ihrer Freundin mit dem Fächer auf den Arm.

»Fünfundzwanzig? … So? … Nun, der Chorherr sagte zwanzig.«

»Fünfundzwanzig, fünfundzwanzig!« unterstrich die Joaneira. Und der Kanonikus pflichtete ihr mit ernstem Kopfnicken bei.

»Sie ist vollkommen gelähmt, Herr Pfarrer!« rief eifrig die Schwester des Kanonikus. »Zum Auslöschen! Ihre Ärmchen sind so!« Und sie streckte den kleinen Finger aus. »Um sie zu hören, muß man das Ohr an ihren Mund legen!«

»Kurz, sie lebt nur durch die Gnade Gottes«, sagte wehleidig Dona Maria da Assunção. »Das arme Ding! Die Leute meinen sogar …«

Die alten Damen schwiegen gerührt. João Eduardo, der, die Hände in den Taschen, hinter ihnen stand, kaute lächelnd an seinem Schnurrbart und sagte dann: »Sehen Sie, Herr Pfarrer, die Sache ist die: die Ärzte sagen, es sei eine Nervenkrankheit.«

Diese Gottlosigkeit rief unter den frommen Alten einen Skandal hervor; Dona Maria da Assunção bekreuzigte sich sogleich – »der Vorsicht halber«.

»Um Gottes willen!« schrie Dona Josefa Dias. »Sagen Sie das vor wem Sie wollen, nur nicht vor mir! Es ist eine Schande!«

»Es ist so schlimm, daß der Blitz einschlagen müßte!« stammelte entsetzt Dona Maria da Assunção.

»Sehen Sie, ich habe es immer gesagt«, rief Dona Josefa Dias, »dieser Herr ist ein Mensch ohne Religion und ohne Respekt vor heiligen Dingen!« Und zu Amélia gewendet: »Ich würde ihm meine Tochter nicht geben!«

Amélia errötete, und João Eduardo, der auch rot wurde, verbeugte sich sarkastisch.

»Ich wiederhole doch nur, was die Ärzte sagen. Und übrigens, glauben Sie mir: Ich habe gar nicht den Ehrgeiz, in Ihre Familie zu heiraten! Nicht einmal Sie würde ich heiraten, Dona Josefa!«

Der Kanonikus brach in ein dröhnendes Lachen aus.

»Hinaus! Beim Kreuz!« kreischte sie wütend.

»Aber was macht denn nun die Heilige?« fragte Amaro, um zu beschwichtigen.

»Alles, Herr Pfarrer!« sagte Dona Joaquina Gansoso. »Sie liegt immer im Bett, weiß für alles Gebete. Für wen sie betet, der erfährt die Gnade Gottes. Die Leute brauchen nur zu ihr zu kommen und werden von aller Krankheit geheilt. Und wenn sie dann das heilige Abendmahl nimmt, fängt sie an, sich emporzurichten, und bleibt mit erhobenem Körper aufrecht, die Augen zum Himmel gewendet, daß einen fast das Grauen ankommt.«

Aber in diesem Augenblick erscholl eine Stimme von der Stubentür her: »Es lebe die Geselligkeit! Das ist ja heute famos!«

Der Ankömmling war ein baumlanger Bursche, fahl, mit hohlen Wangen, wirrem Haarschopf und einem Schnurrbart à la Don Quijote. Wenn er lachte, gähnte einem ein dunkles Loch entgegen, denn ihm fehlten sämtliche Vorderzähne. Und in seinen tiefliegenden, von großen Ringen umgebenen Augen flackerte etwas wie weinerliche Sentimentalität. Er hatte eine Gitarre in der Hand.

»Nun, wie geht's heute?« fragte man ihn.

»Schlecht«, klagte er und setzte sich. »Immer die Schmerzen in der Brust … und der Husten …«

»Also hat der Lebertran nicht geholfen?«

»Ach!« seufzte er verzweifelt.

»Eine Reise nach Madeira, die würde helfen!« sagte Dona Joaquina Gansoso mit Nachdruck.

Er lachte, plötzlich erheitert. »Eine Reise nach Madeira! Nicht übel! Sie haben gut reden! Ein armer Schreiber mit achtzehn Vinténs Vintem – Portugiesische und brasilianische Kupfermünze. pro Tag … und dazu Frau und vier Kinder … Nach Madeira!«

»Und wie geht's denn der Joanita?«

»Das arme Ding, es geht eben so! Sie ist gesund, dick, hat immer guten Appetit. Die Kleinen? Ach, die beiden ältesten sind eben krank … Und außerdem ist das Dienstmädchen aus dem Bett gefallen! Es ist zum Auswachsen! Geduld, Geduld, verlaß mich nicht!« Er zuckte die Achseln. Aber dann wandte er sich an die Joaneira und gab ihr einen Klaps aufs Knie. »Und wie geht's unserer Äbtissin?«

Alle lachten, und Dona Joaquina Gansoso erklärte dem Pfarrer, daß dieser Bursche, der Artur Couceiro, ein Spaßvogel sei und eine schöne Stimme habe. Als Sänger von Volksweisen könne ihm niemand das Wasser reichen.

Unterdessen war die Ruça mit dem Tee erschienen, und die Joaneira sagte, während sie die Tassen füllte: »Kommt nur, ihr Mädchen, kommt! Das ist was ganz Feines! Der Tee ist vom Krämer Sousa …«

Artur reichte Zucker herum, wobei er seinen alten Witz aufwärmte: »Wenn er sauer ist, müßt ihr Salz drauf streuen!«

Die Alten schlürften den Tee aus den Untertassen, wählten prüfend die gerösteten Brotschnitten und zermalmten sie geräuschvoll zwischen den Zähnen. Um sich nicht mit Butter oder Tee zu beflecken, hatten sie vorsichtigerweise ihre Taschentücher auf dem Schoß ausgebreitet.

»Ein wenig Gebäck gefällig, Herr Pfarrer?« fragte Amélia und reichte ihm den Teller hin. »Es ist von der Encarnação, ganz frisch.«

»Danke.«

»Dies hier: es ist Himmelsspeck.«

»Nun, wenn es vom Himmel kommt …« Er lächelte, sah ihr in die Augen und nahm den Kuchen mit den Fingerspitzen.

Senhor Artur pflegte nach dem Tee zu singen. Die Klavierlampe brannte und warf ihr Licht auf die Noten, und nachdem die Ruça den Tisch abgeräumt hatte, ließ Amélia ihre Finger über die vergilbten Tasten gleiten.

»Also was soll es heute sein?« fragte Artur.

Verschiedene Wünsche wurden laut.

»Den Freischärler! Die Hochzeit auf dem Grabe! Den Ungläubigen! Nie wieder!«

Der Kanonikus ließ sich mit müder Stimme aus seiner Ecke vernehmen: »Couceiro, singen Sie doch das Lied ›Onkel Cosme, kleiner Schäker‹!«

Die Frauen erhoben Einspruch.

»Um Himmels willen! Was für eine Idee!«

Und Dona Gansoso entschied: »Nein! Etwas Gefühlvolles, damit sich der Herr Pfarrer ein Urteil bildet.«

»Jawohl, jawohl!« schrien die andern. »Etwas Gefühlvolles, Artur, etwas Gefühlvolles!«

Artur räusperte sich, spuckte aus, und indem er plötzlich sein Gesicht schmerzlich verzog, fing er an. Er sang mit klagender Stimme: »Ade, mein Engel! Fort muß ich ohne dich!«

Es war ein Lied aus den romantischen Zeiten von 1851, dieses »Ade!«, und erzählte von einem letzten Abschied im Wald. Zeit: ein bleicher Herbstnachmittag. Nach der Trennung irrt der Mann, ein Einsiedler und Verfemter, der dem Mädchen eine unheilvolle Liebe eingeflößt hat, mit wirrem Haar am Meeresstrand umher. Zuletzt spielt noch ein verschollenes Grab in einem fernen Tal eine Rolle, an dem weiße Jungfrauen im Mondschein weinen.

»Sehr hübsch, sehr hübsch!« applaudierten die Zuhörer.

Artur sang mit gerührter Stimme, den Blick leer ins Weite gerichtet. Aber in den Pausen, während nur begleitet wurde, sah er lächelnd in die Runde, und in seinem geöffneten Munde konnte man dann die Reste verfaulter Zähne sehen. Pater Amaro, der rauchend am Fenster saß, betrachtete sinnend Amélia, ganz ergriffen von der krankhaft-sentimentalen Melodie der Romanze. Ihr feines Profil hob sich scharf im Kerzenlicht ab, desgleichen die harmonische Kurve ihrer Brust. Er beobachtete, wie sich ihre langbewimperten Lider von den Tasten zu den Noten erhoben, um sich darauf wieder sanft zu senken. João Eduardo, der neben Amélia stand, wendete die Noten um.

Aber Artur sang nun, eine Hand auf der Brust, die andre in die Luft gestreckt, mit dem Ausdruck heftigster Verzweiflung die letzte Strophe:

»Und eines Tages werd ich Frieden finden,
Ausruhn von diesem fluchbeladnen Leben
Tief in des Grabes dunklem Schoß!«

»Bravo, bravo!« riefen alle begeistert.

Der Kanonikus erklärte leise dem Pfarrer: »Ja, was sentimentale Sachen anlangt, findet er nicht seinesgleichen.« Und fürchterlich gähnend: »Junge, mir rumoren immer noch die Blackfische im Magen herum.«

Nun kam das Lottospiel an die Reihe. Jeder suchte sich seine gewohnten Nummerntafeln aus, und Dona Josefa Dias, deren Augen gewinnsüchtig funkelten, schüttelte schon lebhaft den großen Sack mit den Lottonummern.

»Hier ist noch ein Platz frei, Herr Pfarrer«, sagte Amélia.

Sie deutete auf einen Stuhl neben sich.

Er zögerte; aber man hatte schon Platz gemacht. So setzte er sich mit leisem Erröten und zupfte schüchtern seinen Kragen zurecht.

Sofort wurde es mäuschenstill, und mit schläfriger Stimme begann der Kanonikus die Nummern zu verkünden. Dona Ana Gansoso schlummerte leise schnarchend neben ihm.

Der Lampenschirm bewirkte, daß die Köpfe der Anwesenden im Halbdunkel verschwanden. In dem grellen Licht, das auf die schwarze Tischdecke fiel, hoben sich die vom Gebrauch etwas schmutzig gewordenen Nummerntafeln und die trocknen Finger der Alten deutlich ab. Diese saßen vornübergeneigt um den Tisch und bewegten die Glasmarken hin und her. Die Kerze auf dem Klavier verzehrte sich mit hoher, steiler Flamme.

Der Kanonikus grunzte die Nummern mit den uralten überlieferten Witzen, wie Nummer eins: Schweinskopf! Nummer drei: Hanswurstvisage!

»Die Einundzwanzig muß kommen«, sagte jemand.

»Ich habe drei Nummern besetzt!« jubilierte leise eine andre Stimme.

Die Schwester des Kanonikus zischte diesem habgierig zu: »Schüttle doch die Nummern, Plácido! Los!«

»Heraus endlich mit der Siebenundvierzig, tot oder lebendig!« rief Artur Couceiro, den Kopf in die Hände gestützt.

Endlich hatte der Kanonikus seine fünf Nummern voll: gewonnen!

Amélia sah sich im Zimmer um. »Nun, spielen Sie nicht mit, Senhor João Eduardo … Wo stecken Sie denn?«

João Eduardo trat aus dem Schatten des Fensters hervor, wo er, halb von der Gardine verdeckt, gesessen hatte.

»Nehmen Sie diese Tafel! Kommen Sie, spielen Sie mit!«

»Und da Sie stehen, sammeln Sie die Einsätze!« ordnete die Joaneira an. »Machen Sie den Kassierer!«

João ging mit dem Porzellannäpfchen herum. Schließlich fehlten zehn Reis.

»Ich habe bezahlt!« schrien alle aufgeregt.

Die Schwester des Kanonikus hatte nicht an ihre aufgetürmten Kupfermünzen gerührt. João Eduardo sagte, sich zu ihr hinabneigend: »Ich glaube, Dona Josefa hat nicht gesetzt.«

»Ich?« rief sie wütend. »Das ist doch unerhört! Ich habe sogar als erste bezahlt! Gott steh mir bei, es waren zwei Fünfreisstücke, daß Sie's nur wissen! So ein Mensch!«

»Nun gut«, sagte er, »dann habe ich es eben vergessen! Ich setze also.« Und er murmelte in seinen Bart: »Diebische Heilige.«

Die Schwester des Kanonikus sagte indessen leise zu Dona Maria da Assunção: »Er wollte nur sehen, ob er sich ums Zahlen drücken kann, der Pfiffikus! Es fehlt ihm eben an Gottesfurcht!«

»Nur dem Herrn Pfarrer scheint die Sache keinen Spaß zu machen«, bemerkten einige.

Amaro lächelte. Er war zerstreut und müde; manchmal vergaß er zu markieren, bis ihn Amélia an den Ellenbogen stieß und erinnerte: »Achtung, Sie haben nicht markiert, Herr Pfarrer!«

Sie hatten auf zwei Ternen Terne – Beim Lottospiel Zusammenstellung von drei Nummern unter den vorhandenen neunzig. gewettet, wobei er gewann. Dann fehlte beiden, um die Fünfzahl vollzumachen, die Nummer sechsunddreißig. Der ganze Tisch sah ihnen gespannt zu.

»Wir wollen sehen, ob beide gewinnen«, sagte Dona Maria da Assunção, indem sie das Paar mit albernem Lächeln anblickte.

Aber die Sechsunddreißig kam nicht heraus. Andere Tafeln wiesen auch schon vier besetzte Nummern auf, und Amélia befürchtete, daß Dona Joaquina Gansoso gewänne, die aufgeregt auf ihrem Stuhl rutschte und die Achtundvierzig verlangte. Amaro, den das Spiel zu interessieren begann, lachte.

Der Kanonikus zog die Nummern mit boshafter Langsamkeit.

»Flott, flott, Herr Kanonikus!« riefen einige. »Machen Sie ein Ende!«

Amélia, die sich eifrig über den Tisch neigte, seufzte mit glänzenden Augen: »Ich gäbe sonstwas, wenn die Sechsunddreißig käme!«

»So?« meinte der Kanonikus. »Da ist sie … Sechsunddreißig!«

»Wir haben gewonnen!« schrie sie triumphierend. Und ganz rot vor Stolz und Freude, nahm sie die Tafel des Pfarrers und ihre eigene, um zu vergleichen.

»Nun, Gott segne es euch«, lachte der Kanonikus und schüttete das mit Zehnreisstücken gefüllte Näpfchen vor ihnen aus.

»Es kommt einem wie ein Wunder vor!« staunte Dona Maria da Assunção mit frommer Miene.

Aber es hatte bereits elf geschlagen, und nach der »Begräbnisrunde« fingen die Alten an, sich anzuziehen. Amélia setzte sich ans Klavier und spielte noch flüchtig eine Polka. João Eduardo näherte sich ihr und flüsterte: »Meinen Glückwunsch, daß Sie mit dem Herrn Pfarrer gewonnen haben. Welch stolze Freude!« Und als sie antworten wollte, fügte er kurz hinzu: »Gute Nacht!« Dann hüllte er sich verdrießlich in seine Pelerine.

Die Ruça leuchtete. Die Alten, in ihre Mäntel verpackt, flöteten auf der Treppe Verabschiedungen. Senhor Artur zupfte an den Saiten seiner Gitarre und trällerte den »Ungläubigen«.

Als Amaro in seinem Zimmer war, nahm er das Brevier und fing an zu beten. Aber seine Gedanken schweiften fortwährend ab. Er dachte an die alten Frauen, an die verfaulten Zähne Arturs, besonders aber an das Profil Amélias. Während er, auf dem Bettrand sitzend, das offene Brevier in der Hand, ins Licht starrte, erschienen ihm ihr Haar, ihre kleinen Hände mit den bräunlichen, von der Nähnadel zerstochenen Fingern, ihr entzückender zarter Flaum über den Mundwinkeln …

Sein Kopf war ein wenig benommen von dem Mittagsmahl beim Kanonikus und von der Eintönigkeit des Lottospiels. Außerdem verspürte er infolge des Genusses von Fisch und Portwein großen Durst. Er wollte trinken, aber es war kein Wasser im Zimmer. Da erinnerte er sich, daß im Speisezimmer ein Krug frisches Wasser stand, sehr gutes Wasser aus der Quelle des Morenal. Er schlüpfte in die Pantoffeln, nahm den Leuchter und stieg langsam hinauf. Es brannte noch Licht im Zimmer; der Türvorhang war zugezogen. Er schob ihn ein wenig zur Seite und fuhr mit einem leisen Ausruf zurück: denn drinnen stand neben der Lampe Amélia im weißen Unterrock. Sie nestelte gerade die Schnüre des Mieders auf, und Amaro sah für einen Moment unter den kurzen Ärmeln und dem Hemdausschnitt ihre weißen Arme und den lieblichen Busen. Amélia schrie erschrocken auf und flüchtete in ihr Zimmer.

Amaro stand unbeweglich; seine Haarwurzeln feuchteten sich von kaltem Schweiß: Der Verdacht einer beleidigenden Absicht lag nahe. Gewiß mußten nun hinter dem Vorhang hervor, der noch leise schwankte, Worte der Empörung dringen!

Aber Amélias ruhige Stimme fragte aus dem Stübchen: »Was wünschten Sie, Herr Pfarrer?«

»Ich wollte ein bißchen Wasser holen …«, stammelte er.

»Ach, die Ruça, das nachlässige Ding! Entschuldigen Sie nur, Herr Pfarrer, bitte! Neben dem Tisch steht das Wasser. Haben Sie's gefunden?«

»Ich hab's schon, danke!«

Dann stieg er langsam mit vollem Glas die Treppe hinab. Die Hand zitterte ihm, das Wasser rieselte durch seine Finger.

Er legte sich ins Bett, ohne zu beten. Später, in vorgerückter Nachtstunde, hörte Amélia nervöses Aufundabschreiten unter ihrem Zimmer. Es war Amaro, der aufgeregt die Pelerine umgeworfen hatte und in Pantoffeln in seiner Stube umherging und rauchte.


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