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Der Redakteur der »Stimme des Distrikts«, Agostinho Pinheiro, war ein Verwandter João Eduardos. Die Leute nannten ihn »den Krüppel«, weil er einen ansehnlichen Höcker auf der Schulter hatte und auch sonst ein kümmerliches Männlein war, dem die Schwindsucht aus den Augen guckte. Er war äußerst schmutzig. Sein weibisches, fahles Gesichtchen mit den gemeinen Augen erzählte von früheren schimpflichen Lastern. Man erzählte in Leiria, daß er jede Art Schusterei hinter sich habe. Und oft mußte er sich Liebenswürdigkeiten gefallen lassen wie: »Wenn Sie nicht schon ein Krüppel wären, würde ich Sie zum Krüppel schlagen!« Aber das rührte ihn nicht; er betrachtete frech seinen Höcker als einen genügenden Schutz und lachte höhnisch. Er stammte aus Lissabon, und dieser Umstand machte die ernsteren Bürger noch argwöhnischer. Dazu kam, daß seine Stimme heiser und klanglos war und daß seine spinnigen Finger in sehr langen Nägeln endeten, denn er spielte Gitarre.
Die »Stimme des Distrikts« war von einigen Männern ins Leben gerufen worden, die man die »Maia-Gruppe« nannte; das waren Leute, die dem Herrn Zivilgouverneur besonders feindlich gegenüberstanden. Doktor Godinho, der Chef und Kandidat der Gruppe, hatte in Agostinho sozusagen den Mann gefunden, »den man brauchte«, nämlich einen federgewandten Schuft, der skrupellos und mit tönenden Phrasen alle Schmähungen, Verleumdungen und boshaften Andeutungen, die man roh, in kurzen Notizen auf die Redaktion brachte, zurechtstutzte. Agostinho war ein Genie in der Stilisierung von Gemeinheiten. Als Vergütung erhielt er monatlich fünfzehntausend Réis und freie Wohnung in der Redaktion, das heißt im baufälligen dritten Stockwerk eines Hauses, das in einem zum Marktplatz führenden Gäßchen lag.
Agostinho schrieb nicht nur den Leitartikel, sondern redigierte auch den lokalen Teil und die »Lissabonner Korrespondenz« des Blattes. Der Bakkalaureus Prudêncio besorgte das Feuilleton, »Leirienser Plaudereien« genannt. Prudêncio war ein sehr anständiger, ehrenwerter Jüngling, dem Senhor Agostinho Ekel einflößte; aber er war so erpicht darauf, sich gedruckt zu sehen und eine Rolle in der Öffentlichkeit zu spielen, daß er sich überwand und jeden Sonnabend brüderlich mit Agostinho am selben Tisch in der Redaktion arbeitete. Er las da die Korrekturbogen seiner Prosa, einer Prosa, die derartig von schwülstiger Poesie durchtränkt war, daß die Leser oft staunend murmelten: »Um Gottes willen, welche Fülle, welche Pracht!«
João Eduardo wußte wohl, daß Agostinho ein minderwertiges Subjekt war; darum vermied er es auch, sich bei Tage mit ihm in der Stadt sehen zu lassen. Aber in später Nachtstunde ging er gern auf die Redaktion, um Zigaretten zu rauchen und Agostinho von seiner Lissabonner Zeit erzählen zu hören. Der Redakteur war in der Hauptstadt an zwei Zeitungen, beim Theater in der Rua dos Condes, bei einem Pfandleiher und in andern Betrieben tätig gewesen. Diese Besuche machte João Eduardo in aller Heimlichkeit; niemand wußte darum.
Als João Eduardo in dieser späten Stunde das Gebäude der »Stimme des Distrikts« aufsuchte, waren der Setzersaal und die Druckerei im zweiten Stockwerk geschlossen; denn die Zeitung wurde sonnabends gedruckt. Der Schreiber fand im darüberliegenden Zimmer Agostinho am Schreibtisch. Der Redakteur trug eine alte Lederjacke, deren silberne Knöpfe zur Zeit im Leihhaus ruhten. Er hockte beim Schein einer schrecklichen Petroleumlampe über langen Papierstreifen; er war dabei, die Zeitung herzustellen. Das düstere Zimmer machte einen höhlenmäßigen Eindruck. João Eduardo lümmelte sich zunächst auf das Rohrsofa; dann holte er aus einer Ecke die alte Gitarre Agostinhos und klimperte den neuesten Gassenhauer. Indessen feilte der Journalist, den Kopf auf die linke Hand gestützt, angestrengt an seinen Phrasen; die Sache wollte heute nicht recht »flutschen«. Und da ihn nicht einmal der Gassenhauer in Stimmung bringen konnte, stand er auf und entnahm einem Schrank eine Flasche Wacholderschnaps, aus der er einen kräftigen Schluck durch seine ausgepichte Kehle gluckern ließ. Dann dehnte und reckte er seine Glieder, steckte eine Zigarette an und grölte, in die Gitarrenbegleitung einfallend:
»Heut ist der Tag, da mich das Schicksal
In dieses triste Leben setzte.«
Und die Gitarre, dirlingdingding, dirlingdingdong.
»In dieses Leben voller Tücke,
Das mich verdarb, das mich zerfetzte …«
Diese Verse erinnerten ihn jedesmal an Lissabon, weshalb er voller Haß ausrief: »Was für ein Saustall ist diese Erde!«
Noch immer konnte er sich nicht damit abfinden, daß er hier in Leiria leben mußte, daß er nicht mehr seinen Wein in der Kneipe des Onkels João, dort oben im Maurenviertel, trinken konnte, assistiert von der Ana Alfaiata oder dem Bigodinho. Und an João das Biscas mußte er denken, der, die Zigarette im Mundwinkel und unter der Wirkung des aufsteigenden Tabakrauchs mit den tränenden Augen blinzelnd, die Gitarre weinen ließ und dabei den »Tod Sophiens« vortrug!
Um sich zu trösten und an der Gewißheit, ein Genie zu sein, aufzurichten, las er dann dem João Eduardo laut seine Artikel vor. João interessierte sich dafür, denn diese Geistesprodukte endeten fast immer mit Ohrfeigen für den Klerus und entsprachen insofern durchaus der Denkweise des Schreibers.
Man lebte gerade in der Zeit, da Doktor Godinho wegen der vielerörterten Armenhausfrage höllisch erbittert gegen das Domkapitel und das »Pfaffengelichter« war. Godinho hatte schon immer die Geistlichen verabscheut. Er litt an der Leber, und da die Kirche ihn an den Kirchhof erinnerte, haßte er die Soutane: sie erschien ihm wie ein drohendes Totengewand. Und Agostinho, der über einen reichen Vorrat an Galle verfügte und vom Doktor Godinho aufgehetzt wurde, übertraf sich selbst in gehässigen Schmähartikeln. Da ihm aber jede Sachkenntnis und tiefere Bildung fehlte, suchte er diesen Mangel durch eine dicke Phrasenschicht zu verdecken, so daß der Kanonikus Dias nicht mit Unrecht sagte: »Das nenne ich bellen, nicht beißen!«
In einer dieser Nächte fand João Eduardo den Redakteur ganz begeistert über einen Artikel, den er am Nachmittag verfaßt hatte und »den ein Victor Hugo nicht besser hätte schreiben können!«.
»Du wirst sehen, das gibt eine Sensation!«
Es war wie üblich eine Deklamation gegen den Klerus und ein Loblied auf Godinho. Nachdem er die Tugenden des Doktors, »dieses ehrwürdigen Familienoberhauptes«, gebührend gepriesen hatte, ging er auf seine Beredsamkeit im Gerichtssaal ein, »die schon so viele Unglückliche dem Messer des Gesetzes entrissen hatte«. Dann apostrophierte der Artikel mit dröhnendem Pathos Christus: »Hättest du dir träumen lassen, o unsterblicher Gekreuzigter«, so hieß es, »hättest du dir träumen lassen, als du auf Golgatha verblutetest, daß eines Tages in deinem Namen, unter deinem Schatten der Doktor Godinho aus einem Institut der Nächstenliebe hinausgetrieben werden könnte, die reinste, edelste Seele, das stärkste Talent …?« Und wieder zogen wie in feierlicher Prozession die sublimen Tugenden des Doktors Godinho mit einer Schleppe lobender Adjektive vor den Augen der Leser vorbei.
Darauf ließ Agostinho in seinem Artikel den Doktor für einen Moment außer acht und wandte sich direkt an Rom. »Im 19. Jahrhundert kann es geschehen«, las er, »daß ihr dem liberalen Leiria die diktatorischen Vorschriften des Syllabus Syllabus – Das der päpstlichen Enzyklika vom 8. Dezember 1864 beigegebene Verzeichnis der Anschauungen und Lehren, die von der katholischen Kirche als »Irrtümer« verworfen wurden. ins Gesicht schleudert! Nun wohl! Ihr wollt den Krieg? Ihr sollt ihn haben!«
»Was sagst du nun, João?« fragte er. »Starker Tobak, was? Philosophisch, was?«
Dann nahm er seine Lektüre wieder auf. »Ihr wollt den Krieg? Ihr sollt ihn haben! Hoch werden wir unsere Standarte erheben, nicht die Standarte der Demagogie, wohlverstanden! Wir werden sie mit starker Hand auf dem höchsten Bollwerk der Volksfreiheit aufpflanzen! Wir werden Leiria, wir werden Europa ins Gesicht schreien: Söhne des 19. Jahrhunderts, zu den Waffen! Zu den Waffen für den Fortschritt!«
»Das muß ihnen Schrecken einjagen, was?«
João Eduardo, der einen Augenblick schwieg, suchte seine Antwort mit der hochtrabenden Prosa Agostinhos in Einklang zu bringen und deklamierte: »Der Klerus will uns in die unseligen Zeiten des Obskurantismus zurückschleifen!«
Eine so ausgesprochen literarische Phrase überraschte den Journalisten. Er sah João Eduardo ins Gesicht und sagte: »Warum schreibst du denn nicht auch etwas?«
Der Schreiber antwortete lächelnd: »Ich … Ja, Agostinho, ich könnte wohl ein Pamphlet gegen die Pfaffen schreiben … Ich könnte die Hand in ihre Schwäre legen. Denn ich kenne sie! …«
Agostinho drang sofort in ihn, daß er das Pamphlet schriebe.
»Das wäre ja großartig, Junge!«
Doktor Godinho hatte ihm noch diesen Abend gesagt: »In den Staub mit allem, was nach Pfaffen riecht! Wenn es Skandale gibt, heraus mit der Sprache! Wenn es keine gibt, muß man welche erfinden!«
Und wohlwollend ermunterte er den Schreiber: »Um den Stil sorge dich nicht; ich werde ihn schon ordentlich frisieren!«
»Wir wollen sehen; wir wollen sehen«, murmelte João Eduardo.
Von nun an fragte ihn Agostinho fortwährend: »Und der Artikel, Mensch? Bring mir den Artikel!«
Er war begierig, ihn zu bekommen, denn da er wußte, daß João Eduardo in engen Beziehungen zu der »frommen Clique der Joaneira« stand, vermutete er, der Schreiber kenne ganz besondere Ferkeleien.
João Eduardo jedoch zauderte. Wenn es herauskäme? …
»Unsinn!« protestierte Agostinho. »Ich zeichne die Sache mit meinem Namen. Es ist eben ein Artikel der Redaktion. Wer, zum Teufel, soll es denn erfahren?«
Am folgenden Abend überraschte João Eduardo den Pater Amaro, wie dieser Amelia ein Briefchen zusteckte, und tags darauf erschien er gegen Abend in der Redaktion. Der Schreiber sah bleich und übernächtig aus und brachte fünf engbeschriebene Bogen mit. Es war der Artikel. Er trug die Überschrift: »Die modernen Pharisäer«. Auf einige bombastische Betrachtungen über Jesus und Golgatha folgten Anspielungen auf den Kanonikus Dias, den Pater Brito, Amaro und Natário. Alles war so durchsichtig wie Spinnengewebe, ein unerhört gehässiger Angriff! Jeder hatte sein Teil weggekriegt, wie Agostinho jubilierend anerkannte.
»Wann kommt der Artikel heraus?« fragte João Eduardo. Agostinho rieb sich die Hände, überlegte und sagte: »Es ist toll, zum Teufel! … Als ob die Leute mit Namen genannt wären! … Nur Ruhe, ich werde die Sache schon drehen!«
Vorsichtigerweise zeigte er den Artikel erst dem Doktor Godinho, der ihn allerdings »furchtbar katilinarisch« katilinarisch – fragwürdig, zu Verschwörungen neigend; nach dem römischen Verschwörer Lucius Sergius Catilina (108 bis 62 v. u. Z.). fand. Zwischen Godinho und der Kirche bestand eigentlich nur ein momentaner Groll: im allgemeinen erkannte er die Notwendigkeit der Religion unter der breiten Masse an; außerdem neigte seine Gemahlin, die schöne Dona Cândida, zur Frömmigkeit und hatte schon öfters geäußert, daß ihr dieser Zeitungskrieg gegen den Klerus heftige Gewissensbisse bereite. Godinho wollte auch keinen unnötigen Haß bei den Geistlichen entfachen; denn er sah voraus, daß seine Liebe für den häuslichen Frieden, sein Interesse an der öffentlichen Ordnung und seine Christenpflicht ihn sehr bald zu einer versöhnlicheren Haltung bewegen würden … »zwar sehr gegen sein Gefühl, aber …«
Er sagte also kurz zu Agostinho: »Dies kann nicht als Redaktionsartikel erscheinen; es muß als »Eingesandt« gebracht werden. So ordne ich es an.«
Und Agostinho teilte dem Schreiber mit, daß der Artikel als »Eingesandt« veröffentlicht würde, gezeichnet »Ein Liberaler«. João wollte dem Artikel noch hinzufügen: »Seid auf dem Posten, Familienmütter!« Aber Agostinho wendete ein, daß dieser Schluß »Seid auf dem Posten!« zu der witzigen Antwort »Sie sind ja auf dem Posten!« Veranlassung geben könnte.
Nach langen Erwägungen entschieden sich beide für folgenden Schlußsatz: »Nehmt euch in acht, ihr Schwarzkittel!«
Am folgenden Sonntag erschien der Artikel mit der Unterschrift »Ein Liberaler«.
Als Pater Amaro an diesem Sonntagmorgen aus der Kirche heimgekehrt war, setzte er sich hin, um einen langen Brief an Amélia zu entwerfen. Er hatte diese Beziehungen, die immer auf demselben Fleck stehenblieben, nun satt. Zärtliche Blicke, Händedruck … sehr schön! Aber darüber hinaus gab es nichts. Neulich hatte er dem Mädchen am Lottotisch ein Briefchen zugesteckt. Darin stand, schön mit blauer Tinte geschrieben: »Ich möchte Sie allein treffen; ich habe Ihnen viel zu sagen. Wo können wir uns ungestört aussprechen? Gott schütze unsre Liebe!« – Sie hatte nicht geantwortet, und der enttäuschte Amaro, der sich überdies ärgerte, daß er sie an diesem Morgen nicht bei der Neunuhrmesse gesehen hatte, beschloß, mittels eines gefühlvollen Briefes »Klarheit zu schaffen«. So drechselte er denn sentimentale Perioden, die unbedingt Amélias Herz rühren mußten. Das war keine leichte Aufgabe: oft stand er auf und wanderte kombinierend im Zimmer auf und ab; dabei rauchte er zahlreiche Zigaretten und suchte jeden Augenblick nach einem Ausdruck im »Lexikon der Synonyme«.
»Geliebte kleine Amélia!« so schrieb er. »Ich kann die Gründe nicht erraten, die Sie bestimmten, auf das Briefchen, das ich Ihnen im Hause Ihrer Frau Mutter gab, nicht zu antworten. Es lag und liegt mir sehr am Herzen, mit Ihnen einmal unter vier Augen zu reden. Mit reinen Absichten schrieb ich das Briefchen; meine Seele, die Sie so sehr liebt, plant nichts Arges.
Sie müssen bemerkt haben, daß ich Ihnen innig zugetan bin, und wenn ich mich nicht in Ihren Augen, die die Leuchtfeuer meines Lebens, die Sterne des Seefahrers sind, täusche, so liebst auch Du, meine kleine Amélia, den, der Dich anbetet, ja anbetet! Denn neulich abends, als Libaninho im Lottospiel mit den sechs ersten Nummern gewann und darüber ein großer Aufruhr entstand, drücktest Du mir unterm Tisch die Hand mit solcher Zärtlichkeit, daß mir war, als öffnete sich mir der Himmel und als stimmten die Engel ihr Hosianna an! Warum hast Du also nicht geantwortet? Wenn Du glaubst, daß unsere Liebe unseren Schutzengeln mißfallen könnte, muß ich Dir sagen, daß Du eine größere Sünde begehst, wenn Du mich in diesem Zustand quälender Unsicherheit läßt. Denn selbst während ich die heilige Messe zelebriere, muß ich an Dich denken, und meine Seele findet nicht die Kraft, sich für diesen göttlichen Opferdienst emporzuschwingen. Wenn ich sähe, daß unsere gegenseitige Neigung ein Werk des Versuchers wäre, würde ich selbst zu Dir sagen: O mein liebes, liebes Mädchen, bringen wir Jesu das Opfer, um ihm einen Teil des Blutes, das er für uns vergossen hat, zu bezahlen! Aber ich habe meine Seele gefragt und sehe in ihr das Weiß der Lilien. Und auch Deine Liebe ist rein wie Deine Seele, die sich eines Tages mit der meinen unter dem Gesang der himmlischen Chöre zur ewigen Seligkeit vereinen wird. Wenn Du wüßtest, liebe kleine Amélia, wie ich Dich liebe! Manchmal ist mir, als müßte ich Dich vor Liebe aufessen! Also antworte mir und schreib, ob es sich nicht ermöglichen ließe, daß wir uns nachmittags im Morenal sehen. Denn ich sehne mich danach, Dir meine heiße, verzehrende Liebesglut zu enthüllen. Auch muß ich mit Dir wichtige Dinge besprechen. Vor allem aber will ich in meiner Hand die Deine fühlen, Deine Hand, die mich auf dem Wege der Liebe führen soll … hin zur Verzückung himmlischer Glückseligkeit! Leb wohl, Zauberin, Engel! Nimm das Herz Deines Geliebten und Seelsorgers entgegen!
Amaro«
Diese Epistel schrieb er nach dem Mittagessen mit blauer Tinte ins reine. Er faltete sie sorgfältig und steckte sie in die Tasche seiner Soutane. Dann ging er in die Rua da Misericórdia. Schon auf der Treppe hörte er oben die schrille Stimme Natários schimpfen.
»Wer ist denn alles drin?« fragte er die Ruça, die ihm, in ihren Schal gehüllt, leuchtete.
»Die Damen. Der Senhor Brito ist auch da.«
»Hallo, nette Gesellschaft!«
Amaro eilte die Treppe hinauf, öffnete die Tür des Eßzimmers und begrüßte mit gezogenem Hut zunächst die Damen. Die Pelerine hing ihm noch um die Schultern.
»Guten Abend allerseits!« sagte er dann.
Natário pflanzte sich sofort vor ihn hin und schrie: »Nun, was sagen Sie dazu?«
»Was ist denn los?« fragte Amaro. Er bemerkte, daß ihn alle schweigend anblickten. »Ja, was gibt es denn? Ist etwas passiert?«
»Ja, haben Sie es denn nicht gelesen, Herr Pfarrer?« riefen verschiedene. »Haben Sie denn nicht den ›Distrikt‹ gelesen?«
Die »Stimme des Distrikts« sei eine Zeitung, die er nie in die Hand nehme, erwiderte er. Da riefen die entrüsteten Damen wie aus einem Munde: »Oh, es ist eine beispiellose Unverschämtheit! Es ist einfach skandalös, Herr Pfarrer!«
Natário, der die Hände in den Taschen hatte, betrachtete den Pfarrer sarkastisch lächelnd und meckerte leise: »Er hat nichts gelesen! Er hat nichts gelesen! Ja, was hat er denn gemacht?«
Amaros ängstliches Erstaunen wuchs noch, als er die Blässe Amélias und ihre rotgeweinten Augen sah. Schließlich erhob sich der Kanonikus und sagte mit schwerer Stimme: »Lieber Freund, man hat uns schrecklich verunglimpft: ein Schmähartikel! …«
»Um Gottes willen!« rief Amaro.
»Und zwar ein hanebüchener!«
Der Kanonikus Dias, der die Zeitung mitgebracht hatte, sollte den Artikel vorlesen.
»Lesen Sie, Dias, lesen Sie!« animierte Natário. »Zur allgemeinen Belustigung!«
Die Joaneira schraubte den Lampendocht in die Höhe. Der Kanonikus nahm am Tisch Platz, entfaltete die Zeitung, setzte sich umständlich die Brille auf und begann, das Schnupftuch auf den Knien, mit schläfriger Stimme das »Eingesandt« vorzulesen.
Der Anfang interessierte wenig: es waren weinerliche Ergüsse, in denen der »Liberale« den Pharisäern die Kreuzigung Jesu vorwarf. »Warum habt ihr ihn getötet?« klagte er. »Antwortet!« Und die Pharisäer antworteten: »Wir haben ihn getötet, weil er die Freiheit, die Emanzipation, die Morgenröte einer neuen Zeit war« und so weiter. Der »Liberale« skizzierte dann in großen Zügen die Nacht auf dem Kalvarienberg. »Siehe, da hängt er am Kreuz, von Lanzen durchbohrt; um seinen Mantel wird gewürfelt, und der Pöbel rast!« Und sich wieder an die unseligen Pharisäer wendend, höhnte der »Liberale«: »Ja, betrachtet nur euer schönes Werk!« Dann stieg er geschickt von Jerusalem zu Leiria herab. »Aberglauben die Leser vielleicht, daß die Pharisäer gestorben sind? Grober Irrtum! Sie leben; wir kennen sie; Leiria ist voll von ihnen, und wir wollen sie den Lesern vorstellen …«
»Jetzt geht es los«, sagte der Kanonikus und blickte über seine Brille hinweg in die Runde.
Und jetzt ging es wirklich los. In brutaler Weise, mit photographischer Treue, wurden der Reihe nach verschiedene Typen von Geistlichen gezeichnet, zuerst der Pater Brito. »Seht ihn euch an«, rief der »Liberale«, »wie er auf seiner braunen Stute reitet, plump wie ein Stier! …«
»Sogar die Farbe der Stute!« murmelte mit frommer Empörung Dona Maria da Assunção.
»… Dumm wie eine Melone, nicht einmal des Lateinischen kundig …«
Amaro machte erstaunt: »Oh! Oh!« Und der Pater Brito, rot vor Wut, rückte auf seinem Stuhl hin und her und rieb langsam die Knie aneinander.
»… ein Raufbold«, las der Kanonikus mit behaglicher Ruhe weiter, als genösse er die grausamen Sätze, »mit rohen, abstoßenden Manieren, der aber auch zärtlich sein kann und, wie wohlunterrichtete Leute behaupten, sich die legitime Ehefrau seines Gemeindevorstands zur Dulcinea erkoren hat …«
Der Pater Brito konnte nicht mehr an sich halten. »Ich reiße ihn in Stücke!« brüllte er und stand auf, fiel aber schwer in den Stuhl zurück.
»Hören Sie doch zu, Mensch!« sagte Natário.
»Ach was! Zuhören! In Stücke reiße ich ihn!«
Aber er wüßte doch gar nicht, wer der »Liberale« wäre!
»Was schiert mich der ›Liberale‹! Wen ich zerreiße, das ist der Doktor Godinho! Der Doktor Godinho ist der Besitzer der Zeitung! Den Doktor Godinho zerreiße ich!«
Britos Stimme war nur noch ein rauhes, heiseres Brüllen; mit wütenden Faustschlägen bearbeitete er seine Schenkel.
Man erinnerte ihn daran, daß es Christenpflicht sei, Beleidigungen zu verzeihen. Die Joaneira zitierte salbungsvoll den Backenstreich, den Jesus Christus ohne Murren hinnahm. Er müsse Christum nachahmen.
»Zum Teufel mit Christus!« raste Brito, der zu ersticken drohte.
Diese Ruchlosigkeit rief allgemeines Entsetzen hervor.
»Um Gottes willen, Pater Brito, um Gottes willen!« rief die Schwester des Kanonikus und stieß ihren Stuhl zurück.
Libaninho, der unter der Lästerung zusammengeknickt war, preßte die Hände an den Kopf und ächzte: »O schmerzensreiche Jungfrau, ein Blitz sollte einschlagen!«
Als der Pater Amaro auch Amélia entrüstet sah, sagte er ernst: »Brito, wahrhaftig, Sie sind zu weit gegangen.«
»Aber man treibt mich doch dazu!«
»Niemand treibt Sie dazu«, sagte Amaro streng. Und mit schulmeisterndem Ton: »Ich erinnere Sie nur daran – wie es meine Pflicht ist –, daß der ehrwürdige Pater Scomelli für solche Fälle schwerer Gotteslästerung Generalbeichte und zwei Tage Buße bei Wasser und Brot anempfiehlt.«
Pater Brito knurrte etwas Unverständliches.
»Schön, schön«, begütigte Natário. »Brito hat einen bösen Fehler gemacht; aber er wird schon Gott um Verzeihung bitten. Und die Barmherzigkeit des Herrn ist unerschöpflich!«
Eine Weile schwiegen alle tiefbewegt. Dona Maria da Assunção murmelte, daß ihr alles Blut aus dem Herzen gewichen sei, und der Kanonikus, der während der Katastrophe die Brille auf den Tisch gelegt hatte, setzte sie wieder auf und las gleichmütig weiter: »Kennt ihr den andern mit dem Frettchengesicht?« …
Seitenblicke richteten sich auf Pater Natário.
»Hütet euch vor ihm! Mißtraut ihm! Wenn er euch verraten kann, zögert er nicht, es zu tun. Wenn er euch schaden kann, freut er sich. Seine Intrigen bestürzen sogar das Domkapitel; denn er ist die gefährlichste Viper der Diözese. Aber trotzdem liebt er die Gärtnerkunst, denn mit liebevoller Sorgfalt pflegt er zwei Rosen in seinem Beet.«
»Das ist unerhört!« rief Amaro.
»Haben Sie Worte?« fragte Natário und stand auf; er war aschgrau geworden. »Wie finden Sie das? Sie wissen, daß ich, wenn ich von meinen Nichten rede, sie ›die zwei Rosen meines Beetes‹ zu nennen pflege. Es ist dies ein Scherz. Also sogar damit kommt man mir!« Und giftig, mit einem starren Lächeln, fuhr er fort: »Aber morgen werde ich wissen, wer es ist! Ja, ja, ich werde erfahren, wer es ist!«
»Strafen Sie ihn mit Verachtung, Pater Natário, strafen Sie ihn mit Verachtung!« meinte die Joaneira besänftigend.
»Danke, danke, gnädige Frau!« sagte Natário und verbeugte sich ironisch, »danke sehr! … Also ich habe mein Teil weg!«
Unerschütterlich setzte der Kanonikus seine Lektüre fort.
Jetzt wurde in gehässiger Weise sein Bild gezeichnet.
»… Ein gefräßiger, dickwanstiger Kanonikus, ehemaliger Mordgehilfe Dom Miguels, der aus der Kirchgemeinde Ourém verjagt wurde, früher Morallehrer in einem Seminar, heute Lehrer der Immoralität in Leiria …«
»Das ist infam!« erregte sich Amaro.
Der Kanonikus legte die Zeitung nieder und sagte mit schläfriger Stimme: »Sie denken wohl, das regt mich auf? Possen! Ich habe zu essen und zu trinken, Gott sei Dank! Laßt die Hunde nur bellen!«
»Nein, Bruder«, unterbrach ihn seine Schwester, »man muß doch auch ein bißchen Ehrgefühl haben!«
»Nanu, Schwester!« entgegnete der Kanonikus mit der Schärfe verhaltener Wut. »Nanu, Schwester! Es hat dich niemand um deine Meinung gefragt!«
»Mich braucht auch niemand darum zu fragen!« rief sie, sich steil aufrichtend. »Ich sage meine Meinung, wann ich will und wie ich will! Wenn du kein Schamgefühl hast, ich habe welches!«
»Ei, ei!« wollte man sie beruhigen.
»Nicht so hitzig, Schwester, hüte deine Zunge!« sagte der Kanonikus und schloß die Augen. »Paß auf, daß dir deine falschen Zähne nicht herausfallen!«
»Gemeiner Flegel!«
Sie wollte reden, erstickte aber vor Wut und fing plötzlich an zu schreien. Da man eine Ohnmacht befürchtete, schafften sie Dona Joaquina Gansoso und die Joaneira ins Erdgeschoß, legten sie aufs Bett und redeten ihr gut zu.
»Du bist von Sinnen! Um Himmels willen, Kind! Was machst du nur für einen Skandal! Die heilige Jungfrau stehe dir bei!«
Amélia ließ Orangengeist holen.
»Laßt sie nur«, knurrte der Kanonikus, »laßt sie nur! Das geht vorüber. Das kommt von der Wut!«
Amélia warf Amaro einen traurigen Blick zu und stieg zum Erdgeschoß hinab. Ihr folgten Dona Maria da Assunção und die taube Gansoso, die ebenfalls die arme Dona Josefa beruhigen wollten. Die Geistlichen waren jetzt allein, und der Kanonikus wandte sich an Amaro: »Nun passen Sie auf! Jetzt kommen Sie dran!« Er hatte die Zeitung wieder in die Hand genommen.
»Und nicht von Pappe!« grinste Natário.
Der Kanonikus räusperte sich, rückte die Lampe näher und deklamierte: »Aber die gefährlichsten sind die jungen, stutzerhaften Geistlichen, die durch den Einfluß von Grafen in der Hauptstadt zu ihrer Stellung kamen. Sie nisten sich in den Schoß guter Familien ein, wo es unerfahrene kleine Mädel gibt, und benutzen ihr heiliges Amt, um in die Seelen der unschuldigen Dinger den Samen verbrecherischer Liebe zu streuen!«
»Schändlich!« stieß Amaro hervor und wurde totenblaß.
»… Und nun sage mir, du Priester Christi, wohin willst du die unbefleckte Jungfrau schleifen? Willst du sie in den Pfuhl des Lasters zerren? Was gedenkst du hier, im Schoße dieser ehrbaren Familie, zu tun? Warum fliegst du um deine Beute herum wie der Weih um die unschuldige Taube? Zurück, Ruchloser! Du flüsterst ihr honigsüße, verführerische Worte ins Ohr, um sie vom Pfad der Tugend wegzulocken! Du verurteilst zum Unglück und zur Einsamkeit einen ehrlichen Jüngling, der ihr seine fleißige Hand anbieten möchte! Du entblödest dich nicht, ihr eine schreckliche, tränenvolle Zukunft zu bereiten! Und zu welchem Zweck? Um die schimpflichen Triebe deiner verbrecherischen Sinnengier zu befriedigen!«
»Schuft!« knirschte der Pater Amaro.
»… Aber sieh dich vor, entarteter Priester!« fuhr der Kanonikus pathetisch fort. »Schon hat der Erzengel das Schwert der Gerechtigkeit erhoben, und auf dich und deine Mitschuldigen ist das unparteiische Auge der berühmten Stadt Leiria gerichtet. Und wir, die Söhne der Arbeit, sind entschlossen, auf eure Stirn das Brandmal der Schande zu drücken. Zittert, ihr Trabanten des Syllabus! Hütet euch, ihr Schwarzröcke!«
»Zum Platzen!« rief der in Schweiß geratene Kanonikus und faltete die »Stimme des Distrikts« zusammen.
Tränen der Wut trübten die Augen des Paters Amaro; langsam fuhr er sich mit dem Taschentuch über die Stirn, seufzte und sagte mit zitternden Lippen: »Kollegen, ich weiß nicht, was ich hierzu sagen soll! Bei Gott, dies ist die unerhörteste Verleumdung!«
»Eine schamlose Verleumdung!« pflichteten die andern bei.
»Und ich bin der Meinung«, fügte Amaro hinzu, »daß wir uns an die Behörde wenden müssen!«
»Das habe ich auch schon gesagt«, bekräftigte Natário. »Wir müssen mit dem Generalsekretär sprechen …«
»Einen Knüppel brauchen wir!« tobte der Pater Brito. »Behörde, pah! In Stücke hauen müssen wir sie! Ihr Blut möchte ich trinken!«
Der Kanonikus, der sich nachdenklich das Kinn rieb, meinte: »Natário, Sie müssen zum Generalsekretär gehen. Sie sind beredt und ein logischer Geist.«
»Wenn dies der Wunsch der Kollegen ist«, sagte Natário mit einer Verbeugung, »gehe ich hin. Ich werde der Behörde ein Liedchen singen!«
Amaro blieb am Tisch sitzen, das Gesicht in die Hände vergraben. Libaninho sagte: »Ach, Kinder, mich geht ja eigentlich die ganze Sache nichts an, aber schon beim Anhören dieses Zeitungsgewäschs werden mir die Beine schwach …«
Da hörte man auf der Treppe die Stimme der Dona Joaquina Gansoso, und der Kanonikus gab den guten Rat: »Kollegen, das beste ist, wir sprechen vor den Damen nicht mehr darüber. Ich denke, wir haben nun alle genug davon.«
Gleich darauf, als Amélia eintrat, stand Amaro auf und verabschiedete sich von den Damen; er sagte, er habe heftige Kopfschmerzen.
»Nicht einmal ein Täßchen Tee wollen Sie mit uns trinken?« fragte die Joaneira.
»Nein, danke«, antwortete er und hängte seine Pelerine um. »Ich fühle mich wirklich nicht wohl. Gute Nacht allerseits! … Und Sie, Natário, kommen morgen um ein Uhr in die Kirche, nicht wahr?«
Einen Augenblick lag Amélias Hand weich und kraftlos in der seinen; dann entfernte sich Amaro gesenkten Hauptes.
Die Joaneira war betrübt und sagte: »Der Herr Pfarrer sah heute furchtbar bleich aus …«
Der Kanonikus erhob sich ungeduldig und warf gereizt hin: »Heute ist er blaß, morgen wird er rot aussehen. Und nun will ich Ihnen eins sagen: Dieses ganze Zeitungsgeschmiere ist der Gipfel der Verleumdung! Ich weiß nicht, wer es hingesudelt hat, warum er es getan hat. Aber es sind Albernheiten und zugleich Gemeinheiten. Wer es auch geschrieben haben mag, er ist ein Esel und ein Lump. Wir wissen, was wir zu tun haben. Und da wir schon genug über den Fall geredet haben, bitte ich unsere liebe Wirtin, den Tee kommen zu lassen. Schwamm drüber! Schluß der Debatte!«
Aber die Gesichter wollten sich nicht aufhellen. Da fügte der Kanonikus hinzu: »Und übrigens: da niemand gestorben ist, brauchen wir nicht wie Klageweiber hier zu sitzen. Marsch, Kleine, setz dich ans Instrument und klimpre die ›Chiquita‹.«
Der Generalsekretär, Senhor Gouveia Ledesma, war ein ehemaliger Journalist und hatte in jüngeren Jahren das sentimentale Buch »Schwärmereien eines Träumers« erscheinen lassen. Da der Zivilgouverneur zur Zeit abwesend war, vertrat er ihn.
Er war ein gesprächiger junger Mann und galt für ein Talent. Im akademischen Theater zu Coimbra hatte er mit großem Beifall die Liebhaberrollen gespielt, und zu jener Zeit pflegte er gegen Abend in der Sophienstraße zu promenieren und dabei dasselbe Gebaren wie auf der Bühne zur Schau zu tragen, wo er sich die Haare raufte oder im Liebestaumel das Taschentuch vor die Augen drückte. In Lissabon hatte er dann sein kleines Erbteil mit leichtfertigen Dämchen, teuren Soupers, eleganter Toilette und im Verkehr mit literarischen Schmarotzern durchgebracht. Mit dreißig Jahren war er arm, sehr quecksilberhaltig und Autor von zwanzig romantischen Feuilletons in der »Zivilisation«. Überall war er außerordentlich beliebt; in den Bordellen und Cafés hörte er auf den netten Spitznamen »Bibi«. In der Überzeugung, daß er nun das Leben gründlich kenne, ließ er sich Koteletten wachsen, zitierte Bastiat, Bastiat – Claude-Frédéric Bastiat (1801–1850), französischer Vulgärökonom; verteidigte das Freihandelssystem. besuchte alle möglichen öffentlichen Sitzungen und trat in den Verwaltungsdienst ein. Jetzt nannte er die Republik, für die er in Coimbra so sehr geschwärmt hatte, eine »alberne Chimäre«: Bibi war nunmehr ein Pfeiler des monarchischen Staats.
Er verabscheute Leiria, wo er für geistvoll galt, und erklärte den Damen bei den Abendgesellschaften des Abgeordneten Novais, »daß er das Leben satt habe«. Man munkelte, daß die Frau des guten Novais toll in ihn verliebt sei. Und in der Tat schrieb Bibi an einen Freund in der Hauptstadt: »Was Eroberungen anlangt, so ist jetzt wenig zu melden; ich habe nur die Novais am Halse.«
Bibi pflegte spät aufzustehen, und an jenem Vormittag saß er im Schlafrock am Frühstückstisch, zerlegte seine weichen Eier und las dabei wehmütig den temperamentvollen Bericht über ein ausgezischtes Stück im königlichen Schauspielhaus, als der Diener – den er aus Lissabon mitgebracht hatte – meldete, daß ein Geistlicher da sei.
»Ein Geistlicher? Laß ihn eintreten!« Und er schmunzelte: »Der Staat darf die Kirche nicht warten lassen.«
Er stand auf und streckte dem Pater Natário, der gemessen in seiner langen Lüstersoutane eintrat, beide Hände entgegen.
»Einen Stuhl, Trindade! Sie nehmen doch eine Tasse Tee, Herr Pfarrer? Prächtiger Morgen, nicht? Ich habe eben an Hochwürden gedacht, das heißt an den Klerus im allgemeinen. Ich las von den Wallfahrten nach Lourdes … Großartiges Beispiel! Tausende von Leuten aus der besten Gesellschaft … Es ist wirklich tröstlich, wenn man sieht, wie der Glaube wieder auflebt. Noch gestern sagte ich im Hause Novais: ›Schließlich ist doch der Glaube die Haupttriebfeder der menschlichen Gesellschaft.‹ Eine Tasse Tee, bitte … ein wahrer Balsam …«
»Nein, danke, ich habe schon gefrühstückt.«
»Aber nein, wenn ich sage ›ein wahrer Balsam‹, so meine ich den Glauben, nicht den Tee! Haha, sehr gut, was?«
Und er lachte belustigt weiter. Er wollte dem Pater Natário gefallen; es war sein Prinzip, den Geistlichen zu gefallen. Oft hatte er mit verschmitztem Lächeln geäußert: »Wer in der Politik steckt, muß die Pfaffen für sich haben.«
»Und dann«, fuhr er fort, »wie ich gestern im Hause Novais sagte, welch ein Vorteil für die Gemeinden! Lourdes, zum Beispiel, war ein elendes Dörfchen; jetzt ist es infolge des Zustroms der Frommen eine Stadt … Große Hotels, Boulevards, schöne Läden … Wir haben hier sozusagen den wirtschaftlichen Aufschwung, der parallel mit der religiösen Wiedergeburt läuft.«
Mit großer Befriedigung zog er seinen Kragen ein wenig hervor.
»Ich möchte nämlich«, kam endlich Natário zu Worte, »mit Ihnen wegen eines Artikels in der ›Stimme des Distrikts‹ reden.«
»Ah«, unterbrach ihn der Generalsekretär, »ganz recht; ich habe es gelesen! Famoses Pamphlet … aber vom literarischen Standpunkt aus betrachtet … stilistisch … und was die Vergleiche anlangt … erbärmlich!«
»Und was gedenken Sie zu tun, Herr Generalsekretär?«
Senhor Gouveia Ledesma lehnte sich in den Stuhl zurück und fragte erstaunt: »Ich?«
Natário sagte, jedes Wort sorgfältig abwägend: »Die Behörde hat die Pflicht, die Staatsreligion zu schützen und damit auch ihre Priester … Wollen Sie bitte im Auge behalten, daß ich nicht im Namen des Klerus hierherkomme …« Und die Hand auf die Brust legend, fuhr er fort: »Ich bin nur ein armer Pater ohne Einfluß … Ich komme in eigener Sache und möchte den Herrn Generalsekretär fragen, ob es zulässig ist, daß ehrbare Geistliche unserer Diözese derartig mit Kot beworfen werden …«
»Es ist gewiß sehr bedauerlich, daß eine Zeitung …«
Natário nahm eine steife Haltung an und sagte entrüstet: »… Eine Zeitung, die schon längst suspendiert werden müßte, Herr Generalsekretär.«
»Suspendiert? Um Himmels willen, Herr Pfarrer! Aber Sie können doch nicht von mir verlangen, daß ich in die Praktiken mittelalterlicher Stadttyrannen zurückverfalle! Eine Zeitung suspendieren! Wo doch die Freiheit der Presse ein geheiligter Grundsatz ist! Nicht einmal die Pressegesetze erlauben das … Und beim Ministerium Beschwerde führen, weil eine Zeitung ein paar faule Witze über das Domkapitel macht? Unmöglich! Dann müßten wir uns über die gesamte portugiesische Presse beschweren, ausgenommen die ›Nation‹ und das ›Öffentliche Wohl‹! Wohin sollte es führen, wenn man der Freiheit der Meinung, einem dreißigjährigen Fortschritt, der eigentlichen Regierungsidee in die Zügel fallen wollte? Wir sind doch keine engherzigen Politiker im Sinne Cabrals Cabral – Antonio Bernardo Costa Cabral, Graf von Tomar (1803–1889), reaktionärer portugiesischer Staatsmann., mein lieber Herr! Wir wollen Licht, sehr viel Licht! Das ist es ja gerade, was wir brauchen: Licht!«
Natário hüstelte und sagte: »Gewiß. Wenn aber dann bei den Wahlen die Behörde unsere Hilfe beansprucht, so werden wir, falls wir keinen Schutz bei ihr finden, einfach sagen: Non possumus Non possumus! – (lat.) Wir können nicht!!«
»Ja, glauben Sie denn, Herr Pfarrer, daß wir um einiger Stimmen willen, die uns die Herren Geistlichen bringen, die Zivilisation verraten?« Und der ehemalige »Bibi« warf sich mächtig in die Brust, als er die große Phrase hinausposaunte: »Wir sind Söhne der Freiheit! Nie werden wir unsere Mutter verleugnen!«
»Aber der Doktor Godinho, der eigentliche Leiter der Zeitung, gehört der Opposition an«, bemerkte Natário. »Seine Zeitung in Schutz nehmen bedeutet soviel wie seine Manöver in Schutz nehmen …«
Der Generalsekretär lächelte.
»Mein lieber Herr Pfarrer, Sie kennen nicht die geheimen Fäden der Politik. Zwischen dem Doktor Godinho und der Zivilregierung besteht keine Feindschaft, nur eine kleine Unstimmigkeit. Der Doktor Godinho ist ein kluger Kopf … Wir wissen sehr wohl, daß die Maia-Gruppe nichts ausrichtet … Der Doktor Godinho schätzt die Politik der Regierung, und die Regierung schätzt den Doktor Godinho.« Und sich in den Nimbus des Staatsgeheimnisses hüllend: »Doch das sind Dinge, die in das Ressort der hohen Politik gehören, mein lieber Herr.«
Natário stand auf. »Also …«
»Impossibilis est Impossibilis est – (lat.) Es ist unmöglich.«, sagte der Generalsekretär. »Übrigens will ich Ihnen gern zugeben, Herr Pfarrer, daß mich als Privatmann der Artikel empört; aber als Verwaltungsmensch muß ich die freie Meinungsäußerung respektieren … Aber glauben Sie mir, und Sie dürfen dies ruhig der ganzen Geistlichkeit dieser Diözese sagen, die katholische Kirche hat keinen ergebeneren Sohn als mich, Gouveia Ledesma … Aber ich will eine liberale Religion, eine Religion, die mit dem Fortschritt, mit der Wissenschaft im Einklang steht … Das ist immer meine Idee gewesen, und diese habe ich stets offen vertreten: in der Presse, auf der Universität und in der Versammlung. So finde ich zum Beispiel, daß es keine erhabenere Poesie gibt als die Poesie des Christentums! Und ich bewundere Papst Pius IX. Eine große Gestalt! Ich bedaure nur, daß er nicht die Fahne der Zivilisation aufpflanzt!« Und der ehemalige »Bibi«, der sich an seiner Phrase weidete, wiederholte: »Ja, ich bedauere, daß er nicht die Fahne der Zivilisation aufpflanzt … Der Syllabus ist unmöglich in diesem Zeitalter der Elektrizität, Herr Pfarrer! Und wahr ist ferner, daß wir uns nicht über eine Zeitung beschweren können, weil sie ein paar faule Witze über das Priestertum macht. So können wir auch nicht, aus gewichtigen politischen Gründen, den Doktor Godinho vor den Kopf stoßen … Sehen Sie, so denke ich über die Sache.«
»Herr Generalsekretär«, sagte Natário und verbeugte sich.
»Ergebener Diener, Herr Pfarrer! Ich bedaure, daß Sie nicht eine Tasse Tee mittrinken … Und wie geht's unserem lieben Chorherrn?«
»Seine Hochwürden haben, wie ich zu wissen glaube, in den letzten Tagen an Schwindelanfällen gelitten.«
»Sehr bedauerlich … Auch ein kluger Kopf übrigens! Großer Lateiner! … Passen Sie auf, hier ist eine Stufe! …«
Natário eilte nervös nach der Kathedrale und schimpfte dabei leise vor sich hin. Amaro, die Hände auf dem Rücken, ging auf der Terrasse auf und ab. Er sah alt aus und hatte tiefe Ringe unter den Augen.
»Nun?« fragte er, indem er rasch auf Natário zuging.
»Nichts!«
Amaro biß sich auf die Lippen, und während ihm Natário aufgeregt über seine Unterredung mit dem Generalsekretär Bericht erstattete – der Mensch habe nur immer geschwafelt und geschwafelt –, legte sich auf sein Gesicht ein Schatten der Verzweiflung. Wütend scharrte er mit der Spitze seines Schirms das Gras aus den Spalten der Terrasse.
»Ein hohler Schwätzer!« faßte der Pater Natário mit wegwerfender Gebärde zusammen. »Bei der Behörde ist nichts zu erreichen – ausgeschlossen! Aber nun handelt es sich noch um mich und den ›Liberalen‹, Pater Amaro! Ich muß wissen, wer das ist, Pater Amaro! Und ich werde ihn zertreten, Pater Amaro … ich! …«
Seit diesem Sonntag triumphierte João Eduardo: sein Artikel erregte ungeheures Aufsehen; achtzig Nummern der Zeitung wurden extra verlangt, und Agostinho behauptete, daß es in der Apotheke am Markt nur eine Meinung gäbe: der »Liberale« kenne die Pfaffenschaft gründlich und sei ein gescheiter Kerl!
»Du bist ein Genie, Junge!« sagte Agostinho. »Du mußt mir noch so einen Artikel bringen! Noch so einen Artikel!«
João Eduardo freute sich königlich, daß in der ganzen Stadt von nichts anderem als »seinem Skandal« gesprochen wurde.
Mit dem Entzücken, das ein Vater über sein wohlgeratenes Kind empfindet, las er den Artikel immer wieder; und hätte er nicht gefürchtet, sich die Joaneira zur Feindin zu machen, so wäre er in die Läden gerannt und hätte laut verkündet: »Ich war es! Ich habe das geschrieben!« Und schon brütete er über einem neuen Artikel, der noch viel schrecklicher sein würde als der erste. Er sollte heißen: »Der Teufel als Eremit« oder »Die Priesterschaft Leirias vor dem Forum des 19. Jahrhunderts«.
Der Doktor Godinho traf ihn auf dem Marktplatz und sprach ihn wohlwollend an: »Die Sache hat mächtigen Staub aufgewirbelt. Sie sind ein Teufelskerl! Der Hieb gegen Brito war famos! … Ich hatte noch gar nichts gewußt … Ist denn die Frau des Ortsvorstehers hübsch? …«
»Sie haben noch gar nichts davon gewußt?«
»Keine Ahnung … hat mir riesigen Spaß gemacht! … Sie sind ein Mordskerl! … Ich hatte dem Agostinho gesagt, er solle die Sache als ›Eingesandt‹ bringen. Sie verstehen … Ich will keinen Streit auf Tod und Leben mit dem Klerus … Und dann: meine Frau; Sie wissen ja, wie die Weiber sind: Skrupel! … Schließlich gehört es sich auch, daß die Frauen Religion im Leibe haben … Aber innerlich habe ich mich diebisch gefreut … Besonders über die Sache mit Brito. Der Schuft hat mich bei der letzten Wahl aufs heftigste bekämpft … Ach, noch eins: die Sache mit Ihrer Anstellung wird gemacht; in einem Monat sind Sie Beamter in der Zivilregierung.«
»Oh, Herr Doktor … Exzellenz …«
»Machen Sie keine Geschichten! Sie haben es wohl verdient!«
João Eduardo ging in die Kanzlei; er zitterte vor Freude. Herr Nunes Ferral war fortgegangen. Der Schreiber schnitt sich langsam eine Feder zurecht und machte sich an die Abschrift einer Vollmacht; aber plötzlich sprang er auf, packte seinen Hut und rannte nach der Rua da Misericórdia.
Die Joaneira war allein; sie saß nähend am Fenster. Amélia war nach dem Morenal gegangen. Gleich beim Eintreten rief João Eduardo: »Eine Neuigkeit, Dona Augusta! Ich habe eben mit dem Doktor Godinho gesprochen. Er sagt, daß ich in einem Monat meine Anstellung habe …«
Die Joaneira nahm ihre Brille ab und ließ die Hände in den Schoß fallen. »Was Sie nicht sagen!«
»Jaja, es ist wahr!« Der Schreiber rieb sich nervös die Hände und lachte vor Freude. »Was für ein Glück!« rief er. »Wenn also die kleine Amélia einverstanden ist …«
»Ach, João Eduardo!« sagte die Joaneira mit einem tiefen Seufzer, »Sie nehmen mir eine Last vom Herzen … Ich habe nämlich … sehen Sie, ich habe nämlich gar nicht mehr geschlafen! …«
João Eduardo ahnte, daß sie von dem Artikel reden wollte. Er legte den Hut auf einen Stuhl und ging, die Hände in den Taschen, zum Fenster. »Warum denn nicht?« fragte er.
»Diese Gemeinheit im ›Distrikt‹! Was sagen Sie dazu? Solch eine Verleumdung! Ach, ich bin zehn Jahre älter geworden!«
João Eduardo hatte den Artikel unter dem Ansporn der Eifersucht geschrieben, nur um dem Pater Amaro »sein Grab zu schaufeln«. An die Gefühle der beiden Frauen, die doch auch mit betroffen waren, hatte er gar nicht gedacht. Und als er nun die Tränen der Joaneira sah, empfand er beinahe Reue.
Er sagte unsicher: »Ich habe die Zeitung gelesen; es ist eine verwünschte Sache …«
Als er den Gram der Joaneira bemerkte, wollte er ihn für seine Zwecke ausnützen. Er setzte sich, rückte den Stuhl näher an die Frau heran und sagte: »Ich wollte eigentlich nicht davon reden, Dona Augusta. Aber sehen Sie, Amélia hat den Pfarrer mit viel, vielleicht etwas zuviel Vertraulichkeit behandelt … Und durch die Gansosos, durch den Libaninho – vielleicht haben sie es gar nicht gewollt – ist die Sache durchgesickert … Ich weiß sehr wohl, daß die arme Kleine sich nichts Böses dabei gedacht hat … Aber Sie kennen ja Leiria. Böse Zungen, böse Zungen!«
Die Joaneira erklärte nun, daß sie wie zu einem Sohn mit ihm reden wolle: der Artikel sei ihr sehr nahegegangen, besonders mit Rücksicht auf ihn, João Eduardo. Denn schließlich könne auch er daran glauben und die Verlobung aufheben … welcher Verdruß! Aber sie versichere ihm als ehrbare Frau, daß es zwischen dem Pfarrer und der Kleinen nichts gäbe, nichts, nichts, nichts! Amélia sei immer ein mitteilsames, vertrauensseliges Mädchen gewesen. Der Pfarrer immer zart, immer anständig … Sie habe immer gesagt, daß der Pater Amaro ein Benehmen habe, das die Herzen einnehme …
»Ganz gewiß«, bestätigte João Eduardo, der mit gesenktem Haupt an seinem Schnurrbart nagte.
Die Joaneira sah ihm in die Augen und legte die Hand leicht auf sein Knie. »Sehen Sie, ich weiß nicht, ob es sich schickt, es Ihnen zu sagen, aber das Mädchen hat Sie wirklich gern, João Eduardo.«
Das Herz klopfte dem Schreiber in sanfter Rührung.
»Und ich!« rief er. »Sie kennen ja meine Leidenschaft für sie, Dona Augusta! Und was der Artikel für mich bedeutet!«
Die Joaneira wischte sich die Augen mit der weißen Schürze. Wie sie das freue! Sie habe immer gesagt, daß es in Leiria keinen ehrenwerteren jungen Mann gebe als João Eduardo! »Sie wissen, daß ich Sie wie einen Sohn liebe!«
Der Schreiber wurde ganz gerührt. »Also wollen wir Ernst machen; dann wird den Leuten der Mund gestopft …« Er stand auf und sagte mit komischer Feierlichkeit: »Dona Augusta, ich habe die Ehre, Sie um die Hand Ihrer Tochter zu bitten …«
Sie lachte, und João Eduardo küßte sie in seiner Freude wie ein Sohn auf die Stirn.
»Sprechen Sie also noch heute abend mit Amélia!« sagte er, als er sich verabschiedete. »Ich komme morgen wieder, und das Glück kann nicht ausbleiben …«
»Gott sei gelobt!« atmete die Joaneira auf, als sie ihre Näharbeit wieder aufnahm.
Kaum war am Abend Amélia vom Morenal zurückgekehrt, sagte die Joaneira, die gerade den Tisch deckte: »João Eduardo war hier …«
»Ah …«
»Er hat mit mir gesprochen, der arme Kerl …«
Amélia schwieg und legte ihren wollenen Mantel zusammen.
»Er beklagte sich …«, fuhr die Mutter fort.
»Worüber denn?« fragte Amélia errötend.
»Nun, worüber denn? Daß in der Stadt soviel über den Artikel im ›Distrikt‹ gesprochen wird. Daß man sich fragt, auf wen denn eigentlich die Zeitung mit den ›unerfahrenen kleinen Dingern‹ hinziele. Und die Antwort sei: Wer kann es denn sein? Die Amélia der Joaneira in der Rua da Misericórdia! Der arme João ärgert sich furchtbar darüber … Aus Zartgefühl hat er nicht mit dir darüber reden wollen … Und nun …«
»Aber was soll ich denn tun?« rief Amélia, der die Tränen in die Augen stiegen.
Die Worte der Mutter fielen in ihr wundes, gequältes Herz wie Essig auf eine frische Wunde.
»Ich sage dies, um dir auf den richtigen Weg zu helfen. Tu, was du willst, Mädchen! Ich weiß wohl, was Verleumdungen wert sind! Aber du weißt auch, was das Gerede der Welt bedeutet … Ich kann dir sagen, daß João Eduardo nicht an die Verleumdungen in der Zeitung glaubt. Und das hatte ich befürchtet … Glaube mir, dieser Gedanke hat mich um den Schlaf gebracht … Also er sagt, daß er dem Artikel gar keine Bedeutung beimißt, daß er zu dir steht wie früher und daß er nichts sehnlicher wünscht, als dich zu heiraten … Und wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich so bald wie möglich heiraten, um die Leute zum Schweigen zu bringen. Ich weiß schon, daß du nicht sterblich in ihn verliebt bist. Laß nur gut sein! Das kommt schon noch. Der João ist ein guter Junge, wird bald fest angestellt sein …«
»Fest angestellt?«
»Ja! Er ist extra hierhergekommen, um es mir zu sagen. Der Doktor Godinho hat ihm versichert, daß er Ende dieses Monats als Regierungsbeamter angestellt wird … Also mach, was du willst. Und bedenke wohl, daß ich alt bin, Mädchen! Jeden Augenblick kann mir etwas zustoßen …«
Amélia antwortete nicht. Sie stand am Fenster und schaute nach dem gegenüberliegenden Dach, um das die Spatzen flatterten. Die Spatzen waren in diesem Augenblick sicher lustiger als die Gedanken, die ihr durch den Sinn flogen.
Seit diesem Sonntag war sie wie vor den Kopf geschlagen. Sie wußte wohl, daß sie, Amélia, das »unerfahrene junge Ding« war, auf welches der Artikel hindeutete, und es erfüllte sie mit Schmerz und Empörung, ihre Liebe in der Zeitung profaniert zu sehen. Und konnte dieser Skandal nicht alles verderben? War das nicht der Anfang vom Ende? So dachte sie immer wieder mit tränenschweren Augen und biß sich in stummer Wut auf die Lippen. Auf dem Markt, in den Laubengängen, wurde sicher schon boshaft gewitzelt: »Also die kleine Amélia hat sich mit dem Pfarrer eingelassen?« Zweifellos würde der Chorherr, der in bezug auf »Weibersachen« so überaus streng war, den Pater Amaro scharf tadeln … O Gott! Wegen einiger Blicke, einiger Händedrücke sollte ihr Ruf zerstört und ihre Liebe vernichtet sein!
Als Amélia am Montag nach dem Morenal ging, war es ihr, als hörte sie spöttisches Lachen hinter ihrem Rücken. Der Gruß des würdigen Apothekers Carlos schien heute merkwürdig kühl, fast tadelnd zu sein. Bei ihrer Rückkehr traf sie den Eisenwarenhändler Marques: nicht einmal den Hut zog er vor ihr. So kam sie sich, als sie das mütterliche Haus betrat, verachtet, verfemt vor. Sie bedachte allerdings nicht, daß der gute Marques so kurzsichtig war, daß er im Laden zwei Brillen gleichzeitig trug.
»Was soll ich tun? Was soll ich tun?« murmelte sie und preßte die Hände an die Schläfen. Ihr frommer Sinn gab ihr nur Antworten religiöser Art: sie konnte in ein Büßerhaus eintreten, der Schmerzensreichen Jungfrau ein Gelübde tun, »damit diese sie aus ihrer Not befreie«, sie konnte beim Pater Silvério beichten … Schließlich setzte sie sich resigniert mit ihrer Näherei neben die Mutter und stellte wehmütige Betrachtungen darüber an, wie unglücklich sie doch schon von klein auf gewesen war!
Die Joaneira sprach zu ihr nicht klar und ohne Umschweife über den Artikel, sondern machte nur zweideutige Bemerkungen. »Es ist eine Schamlosigkeit«, sagte sie. »Man muß so etwas mit Verachtung strafen … Wenn einer ein reines Gewissen hat, pfeift er darauf …«
Aber Amélia sah sehr wohl, wie die Mutter darunter litt. Ihr gealtertes Gesicht, ihr trauriges Schweigen, ihre plötzlichen Seufzer, wenn sie, die Brille auf der Nasenspitze, am Fenster strickte – dies alles sprach eine beredte Sprache. Und da wurde es ihr zur Gewißheit, daß es ein »schreckliches Gerede« in der Stadt gab, über welches die Mutter durch die Gansosos und durch Dona Josefa Dias unterrichtet wurde. Das war etwas für diese Weiber, deren Mund weniger Speichel als gehässigen Klatsch erzeugte. »O welche Schande, Jesus!«
Jetzt erschien ihr ihre Liebe zu dem Pfarrer, die sie in dieser Gesellschaft von Frauenröcken und Soutanen bisher als etwas Natürliches angesehen hatte, ungeheuerlich; denn sonst würde diese Liebe nicht von Personen wie Guedes, Marques und Vaz, für die sie von jeher die größte Hochachtung empfunden hatte, verdammt werden. Es ging ihr wie mit einem bei Lampenlicht gemalten Bild, dessen Farben in dieser Beleuchtung richtig erscheinen; wenn aber das Licht der Sonne darauf fällt, nehmen dieselben Farben ganz falsche, unwirkliche Töne an. So erfüllte es sie beinahe mit Freude, daß Amaro nicht wieder in die Rua da Misericórdia gekommen war.
Und dennoch, mit welcher Sehnsucht erwartete sie jeden Abend sein Erscheinen! Wenn die Türglocke bimmelte, durchfuhr sie ein freudiger Schreck. Aber er kam nicht, und dieses Fernbleiben, das ihre Vernunft als kluge Vorsicht würdigte, bereitete ihrem Herzen die Verzweiflung verratener Liebe. Am Mittwochabend konnte sie sich nicht mehr beherrschen; über ihrer Näharbeit errötend, sagte sie: »Was mag nur aus dem Pfarrer geworden sein?«
Der Kanonikus, der in seinem Lehnstuhl überm Einschlafen zu sein schien, hustete heiser, rückte hin und her und knurrte: »Er hat jetzt mehr zu tun … Und so zeitig kann er ja noch gar nicht da sein! …«
Amélia wurde auf einmal wachsbleich. Es wurde ihr zur furchtbaren Gewißheit, daß der Pfarrer, entsetzt über den Zeitungsskandal und beraten durch die eingeschüchterten Kollegen, die um den »guten Ruf des Klerus« bangten, sich nunmehr von ihr zurückziehen würde! Aber vorsichtig verbarg sie vor den Freundinnen ihrer Mutter ihre Verzweiflung. Sie setzte sich sogar ans Klavier und spielte so lärmende Masurkas, daß der Kanonikus in seinem Lehnstuhl unruhig wurde und grunzte: »Weniger Radau, Mädchen! Mehr Gefühl!«
Amélia verbrachte eine qualvolle Nacht, fand aber keine Tränen. Ihre Leidenschaft für den Pfarrer flammte wie eine vom Sturm gereizte Flamme empor; und doch grollte sie ihm wegen seiner Feigheit. Eine boshafte Anspielung in der Zeitung hatte genügt, um ihn in seiner Soutane zittern zu machen; er getraute sich nicht einmal mehr, Amélia zu besuchen. Dachte er denn jetzt gar nicht daran, daß auch sie in ihrer Ehre getroffen war, ohne daß ihr befriedigte Liebe als Entschädigung zuteil wurde? Und er war es doch gewesen, der sie mit sanften Worten und verliebtem Getändel in Versuchung geführt hatte! Wie gemein! Sie verlangte heftig danach, ihn ans Herz zu pressen und … ihn zu ohrfeigen. Ihr kam die unsinnige Idee, am nächsten Tag in die Rua das Sousas zu gehen und sich ihm in die Arme zu werfen. Sie würde sich bei ihm häuslich einrichten und damit einen solchen Skandal heraufbeschwören, daß er notgedrungen aus der Diözese fliehen mußte … Warum auch nicht? Sie waren beide jung, waren stark, konnten fern von hier, in einer anderen Stadt, ein neues Leben beginnen … Eine Art hysterischer Taumel ergriff Amélia: sie schwelgte in übertriebenen Vorstellungen von der Süßigkeit dieses Daseins, dachte nur immer daran, wie sie ihn küssen würde, küssen, küssen! In ihrer Überreiztheit erschien ihr dieser Plan sehr praktisch und leicht ausführbar: sie würden nach Algarve fliehen; dort würde sich Amaro das Haar wachsen lassen (um wieviel hübscher er dann aussähe!), und niemand käme auf den Gedanken, daß er ein Geistlicher sei. Er könnte Latein lehren, sie nähen gehen; und sie würden in einem netten kleinen Häuschen wohnen, wo in ihrer Einbildung das Bett mit zwei eng beieinander liegenden Kopfkissen die Hauptrolle spielte. Die einzige Schwierigkeit, die sie in diesem herrlichen Plan sah, war das unbemerkte Entkommen aus dem mütterlichen Hause; denn der Koffer mit ihren Sachen mußte ja mitgenommen werden! …
Aber als sie aufwachte, zerflossen diese krankhaften Entschlüsse im hellen Tageslicht wie dünner Nebel. Jetzt erschien ihr dies alles so unmöglich und Amaro ihr so unerreichbar, als ob sich zwischen der Rua da Misericórdia und der Rua das Sousas alle Gebirge der Welt unüberwindlich erhöben. Ach, sicher hatte der Herr Pfarrer sie aufgegeben! Er wollte nicht die Vorteile seiner Stellung und die Achtung seiner Vorgesetzten verlieren! … Armes Ding! Sie meinte, ihr Glück sei nun auf ewig dahin, und das Leben lohne sich nicht mehr, gelebt zu werden … Und doch hatte sie den heftigen Wunsch, sich an Pater Amaro zu rächen.
So kam es, daß Amélia zum ersten Mal den Schreiber ernsthaft in Erwägung zog. Es fiel ihr ein, daß João Eduardo seit dem Erscheinen des Artikels sie niemals wieder besucht hatte. Auch er kehrt mir den Rücken, dachte sie bitter. Aber das berührte sie nicht tiefer. In dem Schmerz, den ihr die Treulosigkeit Amaros bereitete, erschien ihr der Verlust der Liebe des philiströsen, kleinlichen Schreibers als ein sehr geringfügiges Übel. Was hatte sie denn von ihm? Er war ihr weder nützlich noch angenehm. Beim ersten Unglück, das ihr widerfuhr, sank seine Zuneigung, die nur ihrer Eitelkeit geschmeichelt hatte, in sich zusammen. Aber es ärgerte sie doch, daß er nun nicht mehr mit der Gefügigkeit eines Hundes an ihren Röcken hängen würde … All ihre Tränen galten jedoch dem Pfarrer, »der nichts mehr von ihr wissen wollte«! Die Abtrünnigkeit João Eduardos beklagte sie nur insofern, als sie damit ein oft erprobtes Mittel, den Pater Amaro wütend zu machen, verloren hatte …
Die Angelegenheit gewann ein ganz anderes Ansehen, nachdem Amélia erfahren hatte, daß João Eduardo, der seiner festen Anstellung sicher war, mit der Mutter gesprochen hatte. Sie stand an jenem Abend noch immer schweigend am Fenster und schaute den Spatzen zu, die da drüben um das Dach herumflogen. Mit Genugtuung dachte sie an die Verzweiflung, mit welcher der Pfarrer ihr Aufgebot in der Kathedrale lesen würde. Die nüchtern-praktischen Worte der Mutter fuhren fort, in ihrer Seele zu wirken: das Amt in der Zivilregierung brachte fünfundzwanzigtausend Réis im Monat ein; wenn sie heiratete, war ihre Frauenehre wiederhergestellt, und wenn ihre Mutter starb, konnte sie, dank dem Gehalt des Mannes und dem Ertrag des Gutes, sehr anständig leben, im Sommer sogar an die See gehen … Sie sah sich schon in Vieira, von den Herren umworben, vielleicht gar im Verkehr mit der Gattin des Zivilgouverneurs.
»Sie meinen also wirklich, Mutter?« fragte Amélia plötzlich. Sie war jetzt entschlossen: der Vorteil lag auf der Hand. Aber als willensschwache Natur wollte sie überzeugt und vorwärtsgetrieben werden.
»Sicher ist sicher«, lautete die Antwort der Joaneira.
»Jaja, es ist schon das beste«, sagte Amélia leise, als sie in ihr Zimmer ging. Sie setzte sich traurig neben ihr Bett; die Melancholie der Abenddämmerung ließ ihre Sehnsucht nach den schönen Zeiten, wo sie mit dem Herrn Pfarrer zusammensaß, noch heißer werden.
An diesem Abend regnete es sehr; die beiden Frauen blieben allein. Die Joaneira, die nun wesentlich ruhiger geworden war, saß schläfrig am Tisch. Der Strickstrumpf ruhte in ihrem Schoß; das Kinn fiel ihr jeden Augenblick auf die Brust herab. Amélia legte ihre Näherei auf den Tisch und klappte den grünen Lampenschirm herunter, sie dachte an ihre Heirat: João Eduardo war ein guter armer Kerl, so recht der Typ des in kleinbürgerlichen Kreisen geschätzten Ehemanns; er war nicht häßlich und hatte ein Amt. Ganz gewiß erschien ihr seine Werbung, die er trotz der Gemeinheiten der Zeitung aufrechterhielt, nicht – wie die Mutter ganz richtig sagte – »als eine überwältigende Chance«. Aber seine hingebende Liebe schmeichelte ihr nach dem schnöden Verzicht Amaros, und João Eduardo verehrte sie nun schon zwei Jahre … Und sie fing an, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was ihr an ihm gefiel: sein ernstes Wesen, seine schönen weißen Zähne, seine saubere, gepflegte Kleidung.
Draußen raste der Sturm, und der Regen klatschte hart an die Scheiben. Kein Wunder, daß sie sich da nach Geborgenheit, Wärme, trauter ehelicher Gemeinschaft sehnte … Und der Kleine mußte in der Wiege schlafen, denn ein Junge würde es sein, Carlos geheißen, und er würde die schwarzen Augen des Paters Amaro haben. Der Pater Amaro! … Wenn sie verheiratet war, würde sie natürlich dem Herrn Pater Amaro wieder begegnen … Und da durchzuckte sie ein Gedanke! Sie stand jäh auf und flüchtete in die Dunkelheit des Fensters, um die brennende Röte ihres Gesichts zu verbergen. O nein! Das nicht! Das nicht! Furchtbarer Gedanke! … Aber wie ein riesenstarker Arm packte sie immer und immer wieder dieser Gedanke, er erstickte sie und erfüllte sie mit wollustvollem Grausen. Und da brach die alte Liebe, die Zorn, Kummer und bittre Not in die Tiefen ihrer Seele zurückgestoßen hatten, wieder hervor und verschlang sie wie eine Sturmflut. Leidenschaftlich die Hände ringend, ächzte sie wiederholt den Namen Amaros; gierig verlangte sie nach seinen Küssen … Oh, sie betete ihn an! Und alles war aus, alles aus! Und sie mußte sich verheiraten, die Arme! … Leise weinte sie am Fenster vor sich hin und blickte in die dunkle Nacht hinaus.
Beim Tee sagte die Joaneira plötzlich: »Da die Sache nun entschieden ist, würde ich an deiner Stelle schnell machen … Fang also mit der Ausstattung an, und wenn möglich, heirate noch gegen Ende des Monats.«
Amélia antwortete nicht, aber bei diesen Worten geriet ihre Seele in Aufruhr. In einem Monat verheiratet sein! Obwohl ihr João Eduardo gleichgültig war, erschauerte sie im tiefsten Innern bei dem Gedanken an diesen jungen, verliebten Mann, der dann mit ihr zusammen wohnen, mit ihr schlafen würde.
Als die Mutter in ihr Zimmer hinabgehen wollte, sagte Amélia: »Was meinen Sie, Mutter? … Es fällt mir schwer, mich mit João Eduardo in lange Erklärungen einzulassen, um schließlich ja zu sagen. Das beste ist, ich schreibe ihm …«
»Ganz recht, Kind, schreibe ihm nur … Die Ruça schafft den Brief morgen hin … Schreib nur recht nett, damit sich der Junge freut.«
Lange saß Amélia am Tisch des Eßzimmers und entwarf den Brief, der folgendermaßen lautete:
»Senhor João Eduardo!
Mama hat mir von der Unterredung, die Sie mit ihr hatten, erzählt. Wenn Ihre Neigung aufrichtig ist – und ich glaube es nach den vielen Beweisen, die Sie mir davon gegeben haben –, so ist sie gern einverstanden, denn sie kennt auch meine Gefühle für Sie. Was Papiere und Ausstattung anbetrifft, so können wir ja morgen darüber reden, denn wir erwarten Sie zum Tee. Mutter ist sehr zufrieden, und ich hoffe und wünsche, daß alles zu unserem Glück ausschlägt, wozu uns Gott verhelfen möge! Mit herzlichen Grüßen, auch von Mama, verbleibe ich die Ihrige, die Sie sehr liebt.
Amélia Caminha«
Kaum hatte sie den Brief geschlossen, lockten sie die weißen Papierbogen, die vor ihr lagen, an Pater Amaro zu schreiben. Aber wie? Sollte sie ihm ihre Liebe bekennen und dazu dieselbe Feder, dieselbe Tinte benutzen, mit der sie soeben »dem andern« ihr Jawort geschrieben hatte? Ihn der Feigheit zeihen, ihm ihren Verdruß zeigen? … Nein, das hieße sich demütigen! Und obwohl sie keine Veranlassung hatte, ihm zu schreiben, malte sie mit Entzücken die ersten Worte: »Mein angebeteter Amaro! …« Aber sie hielt inne, denn sie überlegte, daß sie ja niemanden hatte, durch den sie ihm den Brief schicken konnte. Ach, so mußten sie sich also schweigend und für immer trennen! … Warum sich trennen? dachte sie. Nach der Hochzeit kannte sie sehr wohl den Pater Amaro wiedersehen. Und die Idee von vorhin kam ihr wieder, aber nicht mehr in abstoßender Form: gewiß, Pater Amaro durfte ihr Beichtvater sein! Er war in der ganzen Christenheit die Person, die am besten ihre Seele, ihren Willen, ihr Gewissen führen konnte. Es würde dann zwischen ihnen einen beständigen, köstlichen Austausch von Geständnissen einerseits und von sanften Ermahnungen andrerseits geben. Alle Sonnabende würde er sie im Beichtstuhl empfangen, und seine Augen würden auf ihr ruhen, seine Stimme zu ihr sprechen. O welches Glück! Und dies alles würde keusch, wenn auch ein wenig pikant sein … und Gott zur Ehre!
In der etwas unklaren Vorstellung eines Daseins, in dem das Fleisch seine legitime Befriedigung fand und ihre Seele die Wonnen verliebter Hingebung genoß, fühlte sie sich beinahe glücklich. So kam also alles zu einem guten, erfreulichen Ende … Bald nach dem Zubettgehen verfiel sie in einen ruhigen Schlaf und träumte von »ihrem Häuschen« und »ihrem« Mann … und sie spielte Manilha mit den alten Freundinnen … im Frieden mit der ganzen Kirche … und saß dabei auf den Knien des Herrn Pfarrers …
Am nächsten Morgen trug die Ruça den Brief zu João Eduardo. Den ganzen Vormittag nähten die beiden Frauen am Fenster und sprachen von der Hochzeit. Amélia wollte sich nicht von der Mutter trennen, und da das Haus genügend Raum bot, sollte das junge Paar im Erdgeschoß wohnen, während die Mutter oben ihre Zimmer hätte. Sicherlich würde der Herr Kanonikus zur Ausstattung beisteuern, und sie könnten ihren Honigmond auf dem Gut der Dona Maria verbringen. Amélia wurde ganz rot bei diesen glücklichen Aussichten, und die Mutter sah sie über ihre Brille hinweg nur immer gerührt und bewundernd an.
Als das Ave-Maria läutete, schloß sich die Joaneira unten in ihrem Zimmer ein, um ihren Rosenkranz zu beten. Auch wollte sie Amélia zu einer Aussprache mit João Eduardo allein lassen. Und tatsächlich zog dieser nach einer Weile die Glocke. Er erschien in schwarzen Handschuhen, roch stark nach Eau de Cologne und machte einen nervösen Eindruck. Als er in das Eßzimmer trat, fand er es ohne Licht, und er entdeckte die hübsche Gestalt Amélias, die im Zwielicht am Fenster saß. Er legte seinen Mantel in die gewohnte Ecke, näherte sich dem Mädchen, das unbeweglich blieb, während er sich unruhig die Hände rieb. »Ich habe Ihr Briefchen erhalten, Dona Amélia …«
»Ich schickte die Ruça am Morgen, um Sie noch zu Hause zu erwischen«, fiel ihm Amélia heftig errötend ins Wort.
»Ich wollte eben zur Kanzlei gehen und war schon auf der Treppe … So gegen neun Uhr …«
»Ja, um diese Zeit war es«, sagte Amélia.
Sie schwiegen beide sehr verlegen. Dann ergriff er zart ihre Hände und flüsterte: »So wollen Sie also noch immer?«
»Ich will«, hauchte sie.
»Und so schnell wie möglich, nicht wahr?«
»Freilich … gewiß.«
Er atmete froh auf.
»Wir werden sehr glücklich sein, sehr glücklich!« rief er, und seine Hände streichelten ihre Arme zärtlich bis zu den Ellenbogen hinauf.
»Mama meint, daß wir alle drei zusammen wohnen können«, sagte sie und bemühte sich, ruhig zu sprechen.
»Selbstverständlich!« stimmte er eifrig zu, »und ich werde Bettzeug bestellen.«
Da zog er sie ungestüm an sich und küßte sie auf die Lippen. Amélia schluchzte leise, während sie sich widerstandslos, fast hingebend, seinen Armen überließ.
»O Mädchen, Mädchen!« keuchte der Schreiber.
Aber die Schuhe der Mutter knarrten auf der Treppe, und Amélia eilte zum Anrichtetisch, um die Lampe anzuzünden.
Die Joaneira blieb in der Tür stehen. Mit wohlwollendem Blicke überflog sie die Situation und sagte lächelnd, um ihr mütterliches Einverständnis zum ersten Mal zu bekunden: »Na, ihr seid ja hier im Finstern, Kinder …«
Es war der Kanonikus Dias, der dem Pater Amaro eines Morgens in der Kathedrale von der bevorstehenden Hochzeit Amélias Mitteilung machte. Er sprach davon, »wie außerordentlich gelegen« diese Heirat käme, und fügte hinzu: »Ich freue mich, denn so wird dem Mädchen aufs beste gedient, und für die arme alte Frau ist es eine Erleichterung.«
»Ganz gewiß«, murmelte Amaro, der bleich geworden war.
Der Kanonikus räusperte sich geräuschvoll und fuhr fort: »Und jetzt lassen Sie sich wieder dort sehen, da doch alles wieder in Ordnung ist. Nach der Gemeinheit in der Zeitung kräht nun kein Hahn mehr … Schwamm drüber!«
»Das ist klar, das ist klar«, knurrte Amaro. Er warf schneit die Pelerine über und verließ die Kirche.
Er war empört; kaum konnte er auf der Straße seine Flüche unterdrücken. An der Ecke der Rua das Sousas rannte er beinahe mit Natário zusammen, der ihn am Ärmel ergriff und ihm ins Ohr tuschelte: »Ich weiß noch nichts!«
»Wovon?«
»Über den ›Liberalen‹ und den Artikel. Aber ich bin am Werk! Ich bin am Werk!«
Amaro, der nur nach einer Gelegenheit suchte, um seinen Gefühlen Luft zu machen, stieß hervor: »Wissen Sie schon die Neuigkeit? Die Heirat Amélias … Was meinen Sie dazu?«
»Libaninho, der Esel, hat's mir schon erzählt. Er sagt, daß der Kerl eine feste Anstellung erwischt hat … Durch den Doktor Godinho … Das ist auch so einer! … Da sehen Sie, was das für ein Pack ist: der Doktor Godinho, der in der Zeitung auf die Zivilregierung loshackt, und die Zivilregierung, die dafür nette Pöstchen für die Schützlinge des Doktor Godinho bereithält … Das soll einer verstehen! Wir leben in einem Lande der Lumpen und Verbrecher!«
»Es heißt, daß große Freude im Haus der Joaneira herrscht!« sagte der Pfarrer bitter.
»Mögen sie sich amüsieren! Ich habe keine Zeit, hinzugehen … Ich habe überhaupt für gar nichts Zeit! … ich habe nur ein Ziel im Auge: ich will wissen, wer der »Liberale‹ ist, und ihm den Schädel einschlagen! Ich kann es nicht mit ansehen, wie die Leute, die auf uns einhauen, sich die Hände reiben und herumhorchen! Nein, das kann ich nicht! Ich bin hinter ihnen her!« Ihn schüttelte die Wut; wie Krallen krümmten sich seine Finger, und seine magere Brust sank in sich zusammen, als er zischte: »Ha, wenn ich hasse, dann hasse ich gut!«
Er schwieg eine Weile und weidete sich an seinem Grimm. »Wenn Sie in die Rua da Misericórdia gehen, so bringen Sie den Leuten dort meine Glückwünsche …« Und Amaro mit seinen listigen Äuglein fixierend, fuhr er fort: »Der Trottel von Schreiber führt das hübscheste Mädchen der Stadt heim! Er wird sich gütlich tun I«
»Auf Wiedersehen!« stieß Amaro grimmig heraus und eilte fort.
Seit jenem furchtbaren Sonntag, an dem der Artikel erschienen war, dachte Pater Amaro anfangs selbstsüchtigerweise nur an die Folgen – »verhängnisvolle Folgen, heiliger Gott!« –, die ihm selbst aus dem Skandal erwachsen konnten. Wie, wenn nun in der Stadt ruchbar würde, daß er der »stutzerhafte Pater« war, den der »Liberale« bezeichnet hatte? Zwei Tage lebte er in einer scheußlichen Angst; jeden Augenblick fürchtete er, der Pater Saldanha könnte kommen und mit honigsüßer Stimme verkünden, »daß Seine Exzellenz der Chorherr seine Gegenwart wünsche«. Er überlegte schon, welche Erklärungen, geschickten Antworten und Schmeicheleien bei Seiner Exzellenz am wirksamsten wären. Aber als er sah, daß trotz der Heftigkeit des Artikels Seine Exzellenz es für gut befand, »die Augen zuzudrücken«, beschäftigte er sich wieder mit seiner Liebe, die so gewaltsam gestört worden war. Die Furcht machte ihn schlau; und so beschloß er, eine Zeitlang der Rua da Misericórdia fernzubleiben.
»Erst das Gewitter vorüberlassen!« philosophierte er.
Nach Verlauf von zwei bis drei Wochen, wenn Gras über den Artikel gewachsen war, würde er von neuem im Hause der Joaneira erscheinen. Er ließe das Mädchen fühlen, daß er es noch immer anbetete, vermiede aber die alte Vertraulichkeit, die leisen Unterhaltungen und das enge Beieinandersitzen beim Lottospiel. Später würde er es durch die Vermittlung der Dona Maria da Assunção und der Dona Josefa Dias erreichen, daß Amélia ihn statt des Paters Silvério zum Beichtvater nähme. Da gäbe es Gelegenheit, sich im Beichtstuhl zu verständigen: sie würden geheime Abmachungen treffen, vorsichtig ausgedachte Rendezvous an diesem oder jenem Ort vereinbaren, mit Hilfe des Dienstmädchens Briefe wechseln. Und ihre Liebe, auf diese Weise gepflegt und mit Vorsicht gehegt, kam nicht wieder in die Gefahr, eines Morgens in der Zeitung angeprangert zu werden! Er freute sich schon über diese geschickten Kombinationen, und da kam die große Enttäuschung: das Mädchen wollte heiraten!
Nach der ersten Verzweiflung, die er mit Fußstampfen und wilden Lästerungen – er bat allerdings sogleich Unsern Herrn Jesum Christum um Verzeihung – ausgetobt hatte, wollte er sich beruhigen, wollte er den Dingen vernünftig ins Gesicht sehen. Wohin führte ihn diese Leidenschaft? Zum Skandal! … Gut! Wenn sie verheiratet war, fügte sich eben ein jeder vernünftig und geziemend seinem Schicksal: sie gehörte ihrer Familie, er seiner Kirchgemeinde. Wenn sie sich dann begegneten, ein freundlicher Gruß. Und er könnte hocherhobenen Hauptes durch die Stadt gehen. Keine Furcht mehr vor dem hämischen Getuschel in den Laubengängen, keine Anspielungen in den Zeitungen, keine vom Chorherrn zu gewärtigenden Vorhaltungen, keine Gewissensbisse! Glückliches Leben, das ihm winkte! Aber nein, bei Gott, sein Leben konnte ohne sie nicht glücklich sein! Was blieb ihm, wenn er die Besuche in der Rua da Misericórdia nicht mehr hatte, nicht mehr ihren süßen Händedruck, nicht mehr die Hoffnung auf mehr, auf besseres? … Wie ein Schwamm in den feuchten Winkeln des Kirchenhofes würde er dahinvegetieren! Und sie, sie, die ihn verrückt machte mit ihrem Augenspiel und ihrem Getue … kaum sah sie den andern, so drehte sie den Rücken und tat schön mit ihm, dem Gatten mit seinen fünfundzwanzigtausend Réis im Monat! All ihre Seufzer, ihr Erröten … Hohn und Spott! Sie machte sich nur über den Herrn Pfarrer lustig! …
O wie er sie haßte! Und doch nicht so sehr wie den andern, den andern, der da triumphierte, weil er ein Mann war … seine Freiheit, sein volles Haar, seinen Schnurrbart hatte und … einen freien Arm, den er ihr auf der Straße geben konnte! Und in grausamer Selbstpeinigung malte er sich das Glück des Schreibers aus: wie er sie stolz zur Kirche führte, wie er ihr Hals und Busen küßte … Wenn er sich das vorstellte, stampfte er wütend auf den Fußboden, so daß die Vicência entsetzt in der Küche aufhorchte.
Dann suchte er sich zu beruhigen, die Führung über seine Sinne wiederzugewinnen, alle seine Fähigkeiten auf ein Ziel zu lenken: Rache zu nehmen, eine gute Rache! Wieder überfiel ihn die alte Verzweiflung, daß er nicht mehr in den Zeiten der Inquisition lebte, da er mit einer Anklage wegen Ketzerei oder Hexerei beide in den Kerker schicken konnte. Ah, wie hatte es doch in jenen Zeiten ein Priester gut gehabt! Hingegen jetzt, in den Zeiten, wo die liberalen Herren triumphierten! Da mußte er zusehen, wie ein elender Schreiber mit fünfundzwanzigtausend Reis Gehalt sich des Mädchens bemächtigte … Und er, der gelehrte Priester, der Bischof, ja Papst werden konnte, er mußte den Kopf einziehen und einsam an seinem Grimm fressen! Ah, wenn Gottes Fluch einen Wert hatte, verflucht sollten sie sein! Er wünschte, daß sie Kinder bekämen, viele Kinder! Und kein Brot, keinen Teller sollten sie haben, die letzte Decke auf dem Leihhaus, vor Hunger berstend, sich gegenseitig schmähend! … Und er würde hohnlachen, sich an ihrem Elend weiden!
Am Montag hielt er es nicht mehr aus; er ging in die Rua da Misericórdia. Die Joaneira war im Erdgeschoß beim Kanonikus Dias. Kaum sah sie Amaro kommen, rief sie: »Oh, der Herr Pfarrer! Willkommen! Ich sprach eben von Ihnen! Wir haben uns schon gewundert, daß Sie nicht mehr kamen, wo jetzt wieder Freude im Haus ist!«
»Ich weiß schon, ich weiß schon«, murmelte Amaro.
»Na, einmal mußte es doch kommen«, sagte der Kanonikus heiter. »Gott mache sie glücklich und beschere ihnen wenig Kinder, denn das Fleisch ist teuer!«
Amaro lächelte; er hörte oben Klavier spielen.
Amélia spielte wie früher den »Walzer der zwei Welten«, und João Eduardo, der sich an sie schmiegte, wendete die Noten um.
»Wer ist denn gekommen, Ruça?« rief sie, als sie die Schritte des Mädchens auf der Treppe hörte. »Der Herr Pater Amaro.«
Eine Blutwelle färbte ihr Gesicht rot, das Herz schlug ihr so stark, daß ihre Finger einen Moment unbeweglich auf den Tasten lagen.
»Der Herr Pater Amaro könnte auch bleiben, wo der Pfeffer wächst«, knurrte João Eduardo vor sich hin.
Amélia biß sich auf die Lippen. Sie haßte den Schreiber; in diesem Augenblick fühlte sie einen tiefen Widerwillen gegen seine Stimme, sein Gebaren, seine Gestalt an ihrer Seite. Mit Entzücken dachte sie daran, wie sie nach ihrer Verheiratung beim Pater Amaro zur Beichte gehen und nie aufhören würde, ihn zu lieben!
In dieser Minute empfand sie nicht die geringsten Gewissensbisse; und fast wünschte sie, der Schreiber könnte ihr vom Gesicht ablesen, welcher Sturm der Leidenschaften sie durchraste.
»Mein Gott«, sagte sie zu ihm, »rücken Sie doch ein wenig weg; Sie lassen mir ja kaum die Arme zum Spielen frei!«
Amélia unterbrach brüsk den »Walzer der zwei Welten« und fing an, das »Leb wohl!« zu singen:
»Leb wohl, die süßen Tage sind zu Ende,
Da ich an deiner Seite glücklich war!«
Ihr Gesang schwang in heißer Leidenschaft empor und ließ das Herz des Pfarrers im Erdgeschoß schneller schlagen.
Amaro, den Spazierstock zwischen den Knien, saß auf dem Sofa und lauschte inbrünstig dem Klang ihrer Stimme, während die Joaneira geschwätzig von dem gekauften Bettzeug, der Wohnungseinrichtung des jungen Paares und den Vorteilen erzählte, die das Zusammenwohnen bot …
»Und außerdem das Glück, das Glück!« ergänzte der Kanonikus, der sich schwerfällig erhob. »Jetzt wollen wir aber hinaufgehen; so ein Brautpaar soll man nicht allein lassen …«
»Ach, keine Bange«, lachte die Joaneira, »auf João Eduardo kann man sich verlassen; er ist ein Ehrenmann durch und durch.«
Als Amaro die Treppe hinaufstieg, zitterte er, und kaum war er im Eßzimmer, ergriff ihn ein Schwindelgefühl. Er war wie geblendet von dem Antlitz Amélias, das vom hellen Lampenlicht bestrahlt wurde und ihm wie vom Glück des Brautstandes verklärt schien. Die lange Trennung machte sie ihm nur noch begehrenswerter. Er drückte ihr und dem Schreiber die Hand und sagte leise, ohne sie anzusehen: »Meinen Glückwunsch … meinen Glückwunsch …«
Dann drehte er ihnen den Rücken zu und unterhielt sich mit dem Kanonikus, der über Langeweile klagte und nach Tee verlangte.
Amélia war wie geistesabwesend und ließ mechanisch die Finger über die Tasten gleiten. Das Benehmen Amaros bestätigte ihre Vermutung: er wollte um jeden Preis von ihr weg, der Undankbare! Er tat, »als ob es gar nichts gegeben hätte«, der Schuft! In seiner Pfaffenfeigheit, seiner Angst vor dem Chorherrn, der Zeitung und dergleichen stieß er sie aus seinem Sinn, seinem Herzen, seinem Leben, wie man ein giftiges Insekt von sich stößt! … Um ihn zu erzürnen, fing sie nun an, zärtlich mit dem Schreiber zu flüstern; sie schmiegte sich hingebend an seine Schulter und kicherte leise. Sie versuchten unter freudigem Hallo ein vierhändiges Stück; dann zwickte sie ihn, und er schrie in übertriebener Weise auf. – Und die Joaneira schaute selig auf das Paar, während der Kanonikus schon nickte und Amaro, der verlassen in einer Ecke saß, wie einst der Schreiber, in einem alten Album blätterte.
Plötzlich schrillte die Glocke, und alle fuhren erschreckt empor. Schnelle Schritte kamen die Treppe herauf; auch unten hörte man jemanden ins Zimmer eintreten. Die Ruça steckte den Kopf herein und sagte, unten sei der Herr Pater Natário; er wolle nicht heraufkommen, sondern nur dem Herrn Kanonikus etwas mitteilen.
»Sonderbare Stunde, einem etwas mitzuteilen«, grunzte der Kanonikus, indem er sich mit großer Anstrengung aus dem bequemen Lehnstuhl erhob.
Amélia klappte sogleich den Klavierdeckel herunter; und die Joaneira, die den Strickstrumpf beiseite legte, schlich auf den Zehen hinaus, um hinunterzulauschen. Es war stürmisch, in der Gegend des Marktplatzes hörte man den Zapfenstreich blasen.
Schließlich rief der Kanonikus aus dem unteren Zimmer herauf: »He, Amaro!«
»Meister?«
»Kommen Sie herunter; Senhora Caminha kann auch mitkommen.«
Die Joaneira stieg mit etwas bänglichen Gefühlen hinab; Amaro vermutete, daß der Pater Natário endlich den »Liberalen« ausfindig gemacht habe.
Das Zimmer machte mit der kleinen Kerze, die auf dem Tisch brannte, einen kalten, unheimlichen Eindruck, der noch durch ein an der Wand hängendes, vom Altar stark nachgedunkeltes Bild verstärkt wurde. Das Bild, das der Kanonikus vor kurzem der Joaneira geschenkt hatte, stellte einen bleichen Mönch und einen Totenschädel dar.
Der Kanonikus hatte sich's in der Ecke des Sofas bequem gemacht, wo er soeben nachdenklich eine Prise nahm. Natário lief aufgeregt im Zimmer herum und rief, als die Joaneira mit dem Pfarrer eintrat: »Guten Abend, Senhora Caminha! … Holla, Amaro! Ich bringe Neuigkeiten! … Ich wollte nicht hinaufgehen, denn ich konnte mir denken, daß der Schreiber oben ist. Was ich zu sagen habe, ist nur für uns. Ich war eben dabei, dem Kollegen Dias zu erzählen … Pater Saldanha war bei mir. Nette Neuigkeiten!«
Der Pater Saldanha war der Vertraute des Chorherrn, und Amaro, der schon unruhig wurde, fragte: »Geht es uns an?«
Natário hob feierlich den Arm und begann: »Erstens: der Kollege Brito aus der Gemeinde Amor versetzt ins Gebirge, in die Hölle …«
»Was sagen Sie da?« rief die Joaneira.
»Das Werk des »Liberalen‹, Senhora Caminha! Unser würdiger Chorherr hat lange über den Artikel im ›Distrikt‹ nachgedacht; aber schließlich hat er gehandelt! Der arme Brito wird zur Strafe weggejagt! …«
»Also ist es doch wahr, was man über die Frau des Gemeindevorstehers munkelte …«, staunte die gute Frau.
»Holla!« unterbrach sie streng der Kanonikus. »Senhora Caminha, in diesem Hause wird nicht gemunkelt! … Fahren Sie mit Ihrer Botschaft fort, Kollege Natário.«
»Zweitens«, fuhr Natário fort, »wie ich schon vorhin dem Kollegen Dias sagte … der Chorherr ist angesichts des Artikels und anderer Angriffe der Presse entschlossen, ›die Sitten und Gebräuche des Klerus seiner Diözese zu reformieren‹, das sind die eigenen Worte des Paters Saldanha. Ihm mißfallen höchlichst die Konventikel von Geistlichen und Damen … Er will wissen, was es mit den stutzerhaften Geistlichen, die hübsche Mädchen in Versuchung führen, für eine Bewandtnis hat … Kurz, das sind die authentischen Worte Seiner Exzellenz, ›er ist entschlossen, den Augiasstall auszumisten'! … Das heißt in gutem Portugiesisch, meine sehr verehrte Frau, daß der alte Schlendrian aufhört.«
Alle schwiegen, aufs höchste bestürzt.
Natário, der, die Hände in den Taschen, mitten im Zimmer stand, rief: »Was sagen Sie nun, Herrschaften?«
Der Kanonikus stand schläfrig auf und sagte: »Sehen Sie, Kollege, unter Toten und Verwundeten gibt es immer ein paar, die entschlüpfen …« Und sich an die Joaneira wendend: »Stehen Sie doch nicht da wie die Mater dolorosa! Lassen Sie den Tee servieren; das ist jetzt die Hauptsache.«
»Ich habe zum Pater Saldanha gesagt …«, wollte Natário fortfahren, aber der Kanonikus ließ ihn nicht ausreden.
»Der Pater Saldanha ist ein Angeber! … Jetzt hinauf, die gerösteten Brotschnitten warten! Und dort oben vor den jungen Leuten den Mund halten!«
Beim Tee ging es ziemlich still her. Der Kanonikus schnaufte bei jedem Bissen mißmutig oder runzelte die Stirn; die Joaneira wollte zwar die Unterhaltung in Fluß bringen, indem sie von dem Katarrh der Dona Maria da Assunção erzählte; sie gab es aber bald auf und stützte matt den Kopf auf die Hand; Natário fegte im Zimmer herum und erzeugte mit seinem flatternden Mantel einen wahren Sturm.
»Wann ist denn nun die Hochzeit?« fragte er, plötzlich vor Amélia und dem Schreiber, der seinen Tee am Klavier trank, stehenbleibend.
»Bald«, antwortete das Mädchen lächelnd.
Da stand Amaro langsam auf, zog seine große »Zwiebel« und sagte müde: »Es ist nun Zeit, daß ich mich in die Rua das Sousas zurückziehe, meine Damen.«
Aber die Joaneira wollte davon nichts wissen. »Herrgott, Sie sitzen ja alle so langweilig da, als wäre hier eine Trauerversammlung! … Wir wollen doch zur Ermunterung Lotto spielen!«
Der Kanonikus jedoch, der seine Müdigkeit abschüttelte, sagte streng: »Sie irren sich, niemand ist hier langweilig. Und haben wir nicht allen Grund, froh zu sein? Nicht wahr, Herr Bräutigam?«
João Eduardo rückte auf seinem Stuhl und sagte lächelnd: »Ich wenigstens habe keine Ursache, nicht glücklich zu sein, Herr Kanonikus.«
»Das glaube ich!« lachte dieser. »Und nun gute Nacht, allerseits. Ich werde mich jetzt in mein Bett verkriechen, und Amaro auch.«
Amaro drückte Amélia still die Hand, und die drei Geistlichen stiegen schweigend die Treppe hinunter.
Im Zimmer des Erdgeschosses brannte noch eine Kerze mit schwelendem Docht. Der Kanonikus ging hinein, um seinen Regenschirm zu holen. Er rief die beiden andern, schloß geräuschlos die Tür und sagte leise:
»Kollegen, ich wollte der armen Frau vorhin nur nicht bange machen; aber … die Sache mit dem Chorherrn … dieses Gerede … Es ist verteufelt!«
»Und vor allem Vorsicht, Kinder!« zischte Natário.
»Es ist ernst, sehr ernst«, sagte düster Pater Amaro.
Sie standen in der Mitte der Stube. Draußen heulte der Wind; das flackernde Licht der Kerze ließ auf dem Bild den Totenschädel bald aufleuchten, bald im Dunkel verschwinden, und oben trällerte Amélia die »Chiquita«.
Amaro mußte an andere, glücklichere Nächte denken, wo er triumphierend und sorglos die Frauen zum Lachen gebracht hatte … Und Amélia hatte ihm damals verliebte Augen gemacht und gesungen »O Liebchen, sage ja, nicht nein!«
»Ich«, sagte der Kanonikus, »habe, wie Sie wissen, zu essen und zu trinken; mir kann es gleich sein … Aber die Ehre des Standes muß gewahrt bleiben!«
»Darüber besteht kein Zweifel«, nickte Natário. »Wenn aber noch ein Artikel kommt und neues Gerede, schlägt es sicher ein …«
»Siehe den armen Brito«, murmelte Amaro. »Ins Gebirge verbannt! …«
Oben wurde wohl eben ein Witz gemacht, denn man hörte das Gelächter des Schreibers.
»Großer Spaß da oben!« murrte Amaro.
Sie gingen. Als sie die Tür öffneten, schlug dem Pater Natário der Sturm einen Regenschauer ins Gesicht.
»Scheußliche Nacht!« rief er wütend.
Nur der Kanonikus hatte einen Regenschirm; er öffnete ihn langsam und sagte: »Na, Kinder, das eine ist sicher: wir sitzen in der Klemme …«
Aus dem erleuchteten Fenster im ersten Stock drangen die Töne der »Chiquita«. Der Kanonikus schnaufte, während er seinen Regenschinn mit Anstrengung gegen den Wind hielt. Neben ihm trippelte Natário, in seinen Mantel vergraben; in ihm kochte die Galle, er knirschte mit den Zähnen. Amaro ging auf der andern Seite und ließ im kläglichen Gefühl des Besiegtseins den Kopf hängen. Und während die drei Geistlichen, von vorn notdürftig durch den Regenschirm des Kanonikus geschützt, durch die Pfützen der finstern Straßen patschten, peitschte der tückische Regen ihren Rücken und weichte sie bis auf die Haut ein.