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Auch das Mädchen über ihm fand keinen Schlaf. Auf der Kommode erlosch das Nachtlämpchen, das in einer flachen Schale stand, und erfüllte die Kammer mit dem häßlichen Geruch verkohlten Dochtes. In der Finsternis schimmerte das Weiß der auf den Fußboden geglittenen Röcke; die Augen der ewig wachen Katze leuchteten in grünem, phosphoreszierendem Glanz.
Im Nachbarhaus schrie unaufhörlich ein kleines Kind. Amélia hörte, wie die Mutter seine Wiege schaukelte und leise sang:
»Schlafe, schlaf, mein Bübchen,
Deine Mutter ging zum Brunnen.«
Es war die arme Plätterin Catarina, die der Leutnant Sousa mit einem Jungen hatte sitzenlassen; ein zweites Kind war unterwegs. Und der Leutnant hatte nach Estremoz geheiratet! Sie war so hübsch gewesen, so blond, und jetzt … verwelkt, verbraucht!
»Schlafe, schlaf, mein Bübchen,
Deine Mutter ging zum Brunnen.«
Wie gut Amélia das Liedchen kannte! Als sie sieben Jahre alt war, hatte es ihre Mutter in den langen Winternächten dem Brüderchen gesungen, das sterben mußte.
Sie erinnerte sich noch ganz deutlich. Die Familie wohnte damals in einem andern, an der Estrada de Lisboa gelegenen Haus. Vor dem Fenster ihres Zimmers wuchs ein Zitronenbaum, in dessen glänzendem Laubwerk die Mutter Joãos Windeln zum Trocknen aufhängte. Ihren Vater hatte sie kaum gekannt. Er war Soldat gewesen und jung gestorben. Und die Mutter seufzte heute noch, wenn sie erzählte, wie schön er in seiner Kavallerieuniform ausgesehen habe. Mit acht Jahren kam sie in eine Privatschule. Wie lebendig jene Zeit ihr vor Augen stand! Die Lehrerin war ein altes, rundliches Frauchen mit weißem Haar. Früher war sie Küchenschwester im Kloster der heiligen Joana de Aveiro gewesen. Wenn sie mit ihrer großen Brille nähend am Fenster saß, erzählte sie mit wahrer Leidenschaft allerlei Geschichten aus dem Kloster. Sie erzählte von der Bosheit der Sekretärin, die andauernd in ihren schadhaften Zähnen herumstocherte, von der harmlosen, faulen Pförtnerin mit ihrem schrecklichen Minhodialekt, von der Gesangslehrerin, die Bocage bewunderte und von der man sagte, daß sie von den Távoras abstamme. Sie erzählte wohl auch die Legende von einer Nonne, die an Liebeskummer starb und deren Seele, schmerzlich stöhnend und nach ihrem Augusto jammernd, in gewissen Nächten noch durch die Klostergänge irrte.
Amélia war entzückt von all diesen Geschichten. Die Kirchenfeste und das klösterliche Zusammenleben gefielen ihr so sehr, daß sie Nonne werden wollte, »ein wunderhübsches Nönnlein mit schneeweißem Schleierlein«. Die Mutter empfing viel geistlichen Besuch. Der Chorherr Carvalhosa, ein alter, robuster Mann, der asthmatisch schnaufte, wenn er die Treppe hinaufstieg, und mit näselnder Stimme sprach, kam als Freund des Hauses alle Tage. Amélia nannte ihn »Pate«. Wenn sie nachmittags von der Lehrerin kam, fand sie ihn immer mit der Mutter plaudernd im Wohnzimmer. Dabei hatte er die Soutane aufgeknöpft, so daß man seine lange schwarzsamtene Weste, in die gelbe Verzierungen gestickt waren, sehen konnte. Der Chorherr fragte sie, was sie in der Schule gelernt habe, und ließ sie das Einmaleins hersagen.
Abends gab es Gesellschaften. Da kamen der Pater Valente, der Kanonikus Cruz, ferner ein alter Kahlkopf mit einem Vogelgesicht und blauer Brille. Er war Franziskanermönch, und man hieß ihn »Bruder André«. Es erschienen auch die Freundinnen der Mutter mit ihren Strickstrümpfen und ein Hauptmann Couceiro vom Jägerregiment. Dieser hatte Finger, die vom Zigarettenrauchen ganz gelb aussahen; er brachte immer seine Gitarre mit. Um neun Uhr wurde Amélia ins Bett geschickt. Durch eine Türritze sah sie das Licht und hörte sie die Stimmen. Dann wurde es ein Weilchen still; der Hauptmann begann seine Gitarre zu zupfen und sang den kecken »Tanz der Figueira«.
So wuchs sie unter Geistlichen auf. Aber einige flößten ihr Abneigung ein, besonders der dicke Pater Valente, der immer schwitzte und an dessen fleischigen, qualligen Fingern ganz kleine Nägel saßen.
Er liebte es, sie zwischen die Knie zu nehmen und mit ihren Ohren zu spielen; dabei spürte sie seinen nach Zwiebeln und Zigaretten riechenden Atem. Ihr Liebling war der Kanonikus Cruz, ein magerer, weißhaariger Herr mit blendendweißer Wäsche und blitzenden Schnallen. Wenn er gemächlich ins Zimmer trat, legte er zum Gruß die Hand auf die Brust. Seine S-Laute klangen scharf zischend. Schon damals kannte Amélia ihren Katechismus und ihre Glaubenslehre. In der Schule und daheim wurde bei jedem kleinen Vergehen auf die Strafen des Himmels hingewiesen. So kam es, daß sie sich Gott als ein Wesen vorstellte, das immer nur Leiden und Tod verhängt und das man besänftigen muß, indem man betet, fastet, endlose Predigten anhört und zu den Geistlichen hält. Und wenn sie einmal beim Schlafengehen ein Salve Regina vergessen hatte, tat sie am nächsten Tag Buße, denn sie fürchtete, Gott könnte ihr zur Strafe ein Wechselfieber zudiktieren oder sie die Treppe hinunterfallen lassen.
In angenehmster Erinnerung hatte sie die Zeit, wo sie anfing, Musikstunden zu nehmen. Die Mutter hatte in einer Ecke des Speisezimmers ein altes Klavier stehen, auf dem eine grüne Decke lag. Es war so greulich verstimmt, daß es als Anrichtetisch benutzt wurde. Amélia pflegte trällernd durchs Haus zu gehen; ihre liebliche, frische Stimme gefiel dem Chorherrn, und die Freundinnen des Hauses sagten zu ihrer Mutter: »Du hast hier ein Klavier; warum läßt du dem Mädchen keine Stunden geben? Das ist doch viel wert; wer weiß, wie nützlich es ihr einmal werden kann!«
Der Chorherr kannte einen guten Lehrer, einen früheren Organisten der Kathedrale von Evora, dem großes Unglück widerfahren war. Seine einzige Tochter, bildschön, war mit einem Unterleutnant nach Lissabon durchgegangen. Zwei Jahre später hatte Silvestre da Praça, der viel in die Hauptstadt kam, sie am Arm eines englischen Seemanns auf der Rua do Morte gehen sehen. Sie trug eine scharlachrote Garibaldibluse; in einem Auge blitzte das Monokel. Der Alte wurde darüber tiefsinnig und geriet in großes Elend. Aus Mitleid hatte man ihm im Archiv der Kirchenverwaltung ein kleines Amt gegeben. Er machte eine traurig-groteske Figur. Furchtbar dürr, lang wie eine Pappel, ließ er sein weißes, weiches Haar bis zu den Schultern hinab wachsen. Seine müden Augen tränten unaufhörlich, aber sein gutes, resigniertes Lächeln war rührend. In seinem weinfarbenen Mäntelchen, das einen Astrachankragen hatte und ihm nur bis an die Hüften reichte, sah er immer aus, als fröre er. Die Leute nannten ihn den »Onkel Storch«, weil er so lang und dürr war und ein einsames, menschenscheues Dasein führte. Amélia hatte ihn einmal unbedachterweise »Onkel Storch« genannt und sich deswegen ganz beschämt auf die Lippen gebissen.
Der Alte mußte lachen: »Nennen Sie mich nur so, liebes Kind! Onkel Storch? … Nun, was ist dabei? Ich bin nun einmal ein Storch, und ein richtiger Storch, haha!«
Es war damals Winter. Gewaltige Regengüsse und Südostwinde hörten nicht auf; die rauhe Jahreszeit lag schwer auf den armen Leuten. In jenem Jahr sah man halbverhungerte Familien aufs Rathaus gehen und Brot verlangen. Der Onkel Storch kam immer um zwölf Uhr mittags zur Musikstunde. Sein blauer Regenschirm hinterließ ein rieselndes Bächlein auf der Treppe. Der alte Mann klapperte vor Kälte, und als er saß, versteckte er schamhaft seine schmutzigen Stiefel, deren Sohlen klafften. Er klagte besonders über die Kälte in den Händen, die ihn daran hinderte, die Klaviertasten sicher zu treffen, und ihm das Schreiben im Archiv fast unmöglich machte.
»Die Finger streiken«, sagte er traurig.
Aber nachdem ihm die Joaneira das Geld für die Stunden des ersten Monats gegeben hatte, erschien er das nächste Mal sehr glücklich mit einem Paar großer wollener Handschuhe.
»Ah, Onkel Storch, Sie kommen aber warm angezogen!« sagte Amélia zu ihm.
»Das macht Ihr Geld, mein liebes Kind! Jetzt spare ich für ein Paar wollene Strümpfe. Gott segne Sie, Kleine, Gott segne Sie!«
Die Tränen waren ihm in die Augen gestiegen. Amélia war seine »liebe kleine Freundin« geworden. Schon vertraute er ihr allerlei an; er erzählte ihr von seiner Not, von seiner Sehnsucht nach der Tochter, von seinen Triumphen in der Kathedrale von Evora, wenn er zum Beispiel vor dem Herrn Erzbischof, der in seinem scharlachroten Chorhemd gar prächtig in der Kirche saß, das Lausperenne Lausperenne – (lat.) Ewiges Lob. auf der Orgel begleitete.
Amélia vergaß nicht die wollenen Strümpfe für den Onkel Storch. Sie bat den Chorherrn, daß er ihr ein Paar wollene Strümpfe schenke.
»Nein, so was!« lachte er laut auf. »Wozu? … Für dich etwa?«
»Ja, für mich.«
»Nun hören Sie den Unsinn!« rief die Joaneira entrüstet. »Was für eine Idee!«
»Nein, kein Unsinn! Nicht wahr, Sie geben sie mir … ja?« Sie schlang die Arme um seinen Hals und blickte ihn zärtlich an.
»Ha, Sirene!« sagte der Chorherr lachend. »Was will sie nur, zum Teufel? … Nun gut, hier hast du.«
Und er gab ihr zwei Pintos Pinto – Alte portugiesische Silbermünze. für ein Paar wollene Strümpfe.
Am folgenden Tage hatte sie sie in Papier gewickelt, auf dem in großen Buchstaben zu lesen war: »Ihrem lieben Freund, dem Onkel Storch, seine Schülerin.«
Einige Zeit darauf sah sie ihn eines Morgens blasser und abgezehrter als sonst.
»Onkel Storch«, sagte sie plötzlich, »wieviel gibt man Ihnen im Archiv?«
»Nun, liebes Kind, wieviel werden sie mir wohl geben? Eine Kleinigkeit. Vier Vinténs den Tag. Aber Senhor Neto greift mir etwas unter die Arme.«
»Ja, reichen denn die vier Vinténs aus?«
»Ei, natürlich reichen sie aus!«
Die Schritte ihrer Mutter näherten sich; Amélia markierte sofort die eifrige Schülerin und übte mit Hingebung die Tonleiter.
Nun bettelte sie ihre Mutter so lange, bis diese dem Onkel Storch an jedem Tag, an dem er Stunden erteilte, Frühstück und Mittagbrot gab. So entwickelte sich zwischen ihr und dem Alten eine große Intimität, und der arme Onkel Storch, der aus seiner kalten Einsamkeit herauskam, flüchtete sich in diese unverhoffte Freundschaft wie in ein warmes Nest. Er fand in Amélia das weibliche Element, das alten Männern so wohltut: kleine Liebesdienste, zärtliche Worte, krankenschwesterliche Besorgtheit. Er fand in ihr den einzigen Bewunderer seiner musikalischen Kunst, sah sie immer aufmerksam seinen alten Geschichten lauschen, den Erinnerungen an die alte Kathedrale von Evora, das er so sehr liebte und von dem er, wenn er von Prozessionen oder Kirchenfesten erzählte, zu sagen pflegte: »Ja, Evora! Nur in Evora gibt es das!«
Amélia widmete sich fleißig dem Klavierspiel; es wurde zum schönsten, köstlichsten Inhalt ihres Lebens. Schon spielte sie Quadrillen und Lieder alter, klassischer Komponisten. Dona Maria da Assunção wunderte sich, daß ihr Lehrer sie nicht den »Troubadour« spielen ließ.
»Das ist doch viel hübscher!« himmelte sie.
Aber der Onkel Storch kannte nur die klassische Musik: schlichte, süße Arien von Lully, Menuette, fromme, verschnörkelte Motetten aus der still-verträumten Zeit der Mönche.
An einem Vormittag fand der Onkel Storch Amélia sehr blaß und traurig. Sie fühlte sich seit dem Vorabend nicht wohl. Es war ein nebliger, sehr kalter Tag. Der Alte wollte wieder gehen.
»Nein, nein, Onkel Storch«, sagte sie. »Spielen Sie doch etwas, um mich zu zerstreuen.«
Er zog seinen Mantel aus, setzte sich und spielte eine einfache, aber sehr schwermütige Weise.
»Wie hübsch, wie hübsch!« rief Amélia, die neben dem Klavier stand.
»Was ist das?« fragte sie, als der Alte fertig war.
Er erzählte ihr, es sei der Anfang einer Meditation, die ein ihm befreundeter Mönch komponiert habe.
»Der Arme!« seufzte sie. »Er hatte wohl auch ein Herzeleid.«
Sie wollte etwas von ihm wissen und setzte sich, den Schal fester um ihre Schultern ziehend, auf den Klaviersessel. »Bitte erzählen Sie, Onkel Storch!«
Nun, der Betreffende hatte sich als Jüngling leidenschaftlich in eine Nonne verliebt, und diese war im Kloster an ihrer unglücklichen Liebe gestorben. Aus Schmerz darüber wurde er Franziskanermönch. »Mir ist, als sähe ich ihn vor mir«, sann der Alte.
»War er hübsch?«
»Ob er hübsch war? Das will ich meinen: ein Jüngling in der Blüte des Lebens … schön, wie schön! Eines Tages kam er zu mir an die Orgel und sagte: ›Sehen Sie, was ich gemacht habe.‹ Er zeigte mir ein Notenblatt. Das Stück begann in d-Moll. Und er fing an zu spielen, zu spielen … Ach, meine liebe Kleine, was für eine Musik! Aber der Rest ist mir entfallen …«
Der Alte spielte in tiefer Bewegung noch einmal die klagenden Klänge der Meditation in d-Moll.
Den ganzen Tag über mußte Amélia an diese Geschichte denken. In der Nacht befiel sie ein heftiges Fieber, und in schweren Träumen erschien ihr immer wieder, aus dem Schatten der Orgel von Evora emportauchend, die Gestalt des Franziskanermönchs. Sie sah seine tiefen Augen im verhärmten Antlitz glühen, sah in weiter Ferne die bleiche, weißgekleidete Nonne am schwarzen Klostergitter lehnen und sah sie weinen in tiefem Liebesweh! Und dann schritt der Zug der Franziskaner im langen Klostergang zum Chor. Der Jüngling aber wankte in seinen Sandalen ganz am Ende der Prozession. Er ging gebeugt, die Kapuze über den Kopf gezogen, und eine große Glocke sang in düstrer, nebliger Höhe das Totengeläute … Und dann – ein anderes Traumbild! Amélia sah im weiten, schwarzen Himmelsraum die Seelen von zwei Liebenden in klösterlichen Gewändern. Sie hielten sich innig umschlungen, und wie ein geheimnisvolles Rauschen zitterten ihre unersättlichen Küsse durch die Lüfte. Aber die Gestalten zerflossen wie Nebel, und in der ungeheuren Finsternis erschien ein großes, zuckendes Herz, von Schwertern durchbohrt, und die Blutstropfen, die ihm entquollen, überschwemmten den Himmel mit einer scharlachroten Flut …
Am nächsten Tage ließ das Fieber nach.
Der Doktor Gouveia beruhigte die Joaneira, indem er leichthin sagte: »Nur keine Angst, meine Liebe. Das sind eben die fünfzehn Mädchenjahre … Morgen noch ein bißchen Schwindel und Übelkeit, und dann ist es überstanden. Ja, sie ist zum Weibe erwacht.«
Die Joaneira verstand.
»Dieses Mädchen ist heißblütig und wird starke Leidenschaften durchmachen«, fügte der alte Praktiker lächelnd hinzu und nahm eine Prise.
In diesen Tagen fiel der Chorherr, als er gerade seine Morgensuppe aß, plötzlich tot um: der Schlag hatte ihn gerührt. Die Joaneira verlor beinahe den Kopf darüber. Zwei Tage lang irrte sie unfrisiert, im Unterrock, in der Wohnung umher und weinte und stöhnte in einem fort. Dona Maria da Assunção und die Gansosos kamen, um sie zu beruhigen, und Dona Josefa Dias sagte tröstend: »Weine nicht, Kind, es wird dir schon jemand beistehen!«
Es war Anfang September. Dona Maria da Assunção, die ein Haus am Strande von Vieira besaß, schlug vor, die Joaneira und Amélia mit in dieses Seebad zu nehmen, damit sie dort, in der frischen, gesunden Seeluft und in andrer Umgebung, über ihren Schmerz hinwegkäme.
»Es ist ein Almosen, was du mir da anbietest«, sagte die Joaneira. »Ach, hier hat er immer seinen Regenschirm hingestellt! Und hierher setzte er sich, um mir beim Nähen zuzusehen!«
»Schön, schön, beruhige dich nur. Iß und trink und nimm deine Bäder; das übrige wird sich schon finden. Du lieber Gott, er war doch auch schon ein Sechziger!«
»Immerhin, meine Liebe! Solche Freundschaft finde ich nie wieder!«
Amélia war damals fünfzehn Jahre alt, groß und schon gut entwickelt. Der Aufenthalt in Vieira bereitete ihr große Freude. Niemals hatte sie das Meer gesehen; sie wurde nicht müde, im Sonnenschein am Strand zu sitzen, ganz berauscht von dem Anblick der weiten blauen Fluten. Manchmal zog am Horizont die dünne Rauchfahne eines Dampfers hin. Das monotone, klagende Rauschen der Wellen lullte sie ein; rechts und links von ihr dehnte sich endlos der weiße Sand und funkelte und blitzte unter dem dunkelblauen Himmel.
Wie gut sie sich daran erinnerte! Ganz zeitig am Morgen war sie schon auf. Es war die Zeit, wo man badete: Badezelte zogen sich den ganzen Strand entlang hin; Damen mit offenen Sonnenschirmen saßen auf Holzstühlchen und schauten plaudernd aufs Meer hinaus; Männer in weißen Strandschuhen lagen faul auf Matten, sogen an ihren Zigaretten und zeichneten Figuren in den Sand. Unterdessen wandelte der Dichter Alcoforado einsam, mit düsterer, leidvoller Miene, nur von seinem Neufundländer begleitet, am Ufer auf und ab, und viele Blicke schauten ihm bewundernd nach.
Amélia kam dann in ihrem blauen flanellenen Badeanzug aus ihrem Zelt hervor. Sie hatte ein Handtuch über dem Arm hängen und schauerte vor Furcht und Kälte. Ganz insgeheim bekreuzigte sie sich, ehe sie sich krampfhaft an die Hand des Bademeisters klammerte, um, im nassen Sand unsicher dahinschlitternd, ins Wasser zu gehen und den Kampf mit der grünlichen, brandenden Flut aufzunehmen. Schäumend rollten die Wellen heran; sie hielt ihnen stand, tauchte nervös und atemlos unter und spuckte salziges Wasser. Aber wenn sie dann wieder herauskam, fühlte sie sich sehr befriedigt. Lachend wickelte sie das Handtuch um den Kopf und schleppte sich, unter dem Gewicht des triefenden Badekostüms keuchend, erfrischt zu ihrem Zelt.
»Nun, wie war's, Kleine? Frisch, was?« fragten dann freundliche Stimmen.
Und an den Nachmittagen gab es Strandausflüge mit Muschelsuchen. Da schaute sie dem Einholen der Netze zu, in denen, auf dem feuchten Sand wie Silber glänzend, Tausende und aber Tausende von Sardinen wimmelten. Und welche Pracht, wenn am Abend die Sonne in goldenem Glanz ins weite, traurige, seufzende Meer versank!
Zu Dona Maria da Assunção war gleich nach der Ankunft ein junger Verwandter, der Sohn des Senhor Brito aus Alcobaça, zu Besuch gekommen. Er hieß Agostinho und studierte bereits im fünften Jahr Jura. Es war ein schlanker Jüngling mit braunem Schnurr- und Kinnbärtchen. Er trug einen Kneifer und hatte sein schönes langes Haar nach hinten gekämmt. Agostinho rezitierte oft Verse, konnte Gitarre spielen, erzählte Studentenwitze, arrangierte Reunions, und die Männerwelt von Vieira schaute zu ihm auf, weil er es verstand, bei den Damen den liebenswürdigen Schwerenöter zu spielen.
Ja, der Agostinho, hieß es, der hat's hinter den Ohren! Bald schäkert er mit der, bald mit jener! Als Gesellschaftsmensch schießt er den Vogel ab!
Schon in den ersten Tagen bemerkte Amélia, daß Agostinhos Augen immer recht verliebt auf ihr ruhten. Sie errötete dann heftig, während ihr das Herz dabei aufging. Sie bewunderte ihn, fand ihn nett.
Eines Tages wurde Agostinho im Hause der Dona Maria da Assunção gebeten, etwas zu rezitieren.
»Aber meine Damen!« rief er aufgeräumt, »wir sind doch hier nicht in einer Versschmiede!«
»Ach was! Lassen Sie sich nicht bitten!« drang man in ihn.
»Nun gut, wir wollen uns deswegen nicht zanken.«
»›Die Jüdin‹, Brito!« schlug der Steuereinnehmer von Alcobaça vor.
»Ach, gehen Sie mir mit der ›Jüdin‹!« rief er. »Nein, lieber ›Die Braune‹!« Dabei sah er Amélia an. »Es ist ein Gedicht, das ich gestern gemacht habe.«
»Ich werde begleiten!« sagte ein Sergeant vom sechsten Jägerregiment und nahm die Gitarre.
Es wurde still; Agostinho warf seine Mähne zurück, drückte den Kneifer fest auf die Nase, stützte seine Hände auf die Lehne eines Stuhls und begann, indem er Amélia ansah:
»Die Braune von Leiria …
Leiria ist deine Heimat,
Das Wiesenparadies;
Bist schön und frisch wie die Rose,
Dein Name ist honigsüß …«
»Pardon!« rief der Steuereinnehmer, »Dona Juliana ist nicht wohl!«
Juliana war die Tochter des Gerichtsschreibers von Alcobaça. Sie war kreideweiß geworden und langsam, mit hängenden Armen, das Kinn auf der Brust, in ihrem Stuhl zusammengesunken. Man besprengte sie mit Wasser und brachte sie in Amélias Stube. Als man ihr Kleid geöffnet und ihr Essig zu riechen gegeben hatte, erhob sie sich auf dem Ellenbogen, blickte sich im Kreise um und fing mit zitternden Lippen an zu weinen. Draußen steckten die Männer die Köpfe zusammen.
»Die Hitze war dran schuld«, meinten einige.
»Hitze! … ich weiß schon, was für Hitze!« knurrte der Jägersergeant.
Senhor Agostinho drehte ärgerlich an seinem Schnurrbart. Einige Damen begleiteten Dona Juliana nach Hause. Dona Maria und die Joaneira gingen, in ihre Schals gehüllt, auch mit. Es war windig, ein Diener trug einen Lampion, und alle marschierten schweigsam im Sande.
»Die Dinge entwickeln sich zu deinem Vorteil«, tuschelte Dona Maria da Assunção und blieb ein wenig hinter den andern zurück.
»Zu meinem!?«
»Ja, zu deinem! … Hast du denn gar nichts bemerkt? Die Juliana aus Alcobaça ist doch in den Agostinho verschossen. Aber der Junge hat es auf Amélia abgesehen. Das hat die Juliana gerochen, denn sie sah, wie er beim Deklamieren seiner Verse immer deine Tochter anhimmelte. Und bums! …«
»Nicht möglich!« staunte die Joaneira.
»Laß nur – der Agostinho erbt ein paar tausend Goldfüchse von seinen Tanten. Eine gute Partie!«
Als sich am folgenden Tage – es war zur Badezeit – die Joaneira in ihrem Zelt anzog, wartete Amélia gelangweilt am Strand.
»Hallo – ganz allein?« erscholl es hinter ihr.
Es war Agostinho. Amélia schwieg und fing an, mit ihrem Sonnenschirm im Sand zu malen. Agostinho seufzte, glättete mit dem Fuß eine Sandscholle und schrieb »Amélia«. Da wurde sie rot und wollte den Namen mit der Hand fortwischen.
»Nun?« sagte Agostinho leise. Und sich über sie neigend: »Es ist der Name der ›Braunen‹ … Sie wissen es doch! … ›Ihr Name ist honigsüß!‹ …«
Sie sagte lächelnd: »Gehen Sie – Sie sind schuld daran, daß die arme Juliana gestern in Ohnmacht fiel.«
»Ach, was mache ich mir aus der! Die Vogelscheuche fällt mir auf die Nerven! Was wollen Sie? … So bin ich nun einmal: Ebenso wie ich offen sage, daß ich mir nichts aus ihr mache, sage ich auch, daß es eine Person gibt, für die ich alles hingäbe … Ich weiß …«
»Wer ist es? Dona Bernarda?«
Das war ein altes Scheusal, die Witwe eines Obersten.
»Getroffen!« lachte Agostinho. »Gerade in sie bin ich leidenschaftlich verliebt!«
»Ah, Sie sind leidenschaftlich verliebt!« sagte Amélia langsam. Sie hatte die Augen gesenkt und malte im Sand.
»Sagen Sie mal«, rief Agostinho, indem er einen Stuhl heranzog und sich neben Amélia setzte, »wollen Sie mich verhöhnen?«
Amélia stand auf.
»Ist es Ihnen unerwünscht, daß ich mich neben Sie setze?« fragte der junge Mann verletzt.
»Ich bin nur des langen Sitzens müde.«
Darauf schwiegen beide einen Augenblick.
»Haben Sie schon gebadet?« fragte Amélia.
»Ja.«
»War es heute kalt?«
»Ja.«
Die Antworten Agostinhos klangen sehr trocken.
»Sind Sie mir böse?« fragte sie sanft und legte die Hand leicht auf seine Schulter.
»Böse? Ganz verrückt bin ich nach Ihnen!«
»Pst!« machte sie.
Amélias Mutter trat eben mit dem Badetuch über dem Arm aus dem Zelt. Sie hatte sich warm angezogen und trug ein Tuch um den Kopf gewickelt.
»Nun, erfrischt?« fragte sogleich Agostinho, den Strohhut ziehend.
»Schon lange hier?«
»Ich wollte bloß einmal herschauen. Und jetzt wird gefrühstückt, nicht?«
»Wenn es gefällig ist …«, sagte die Joaneira.
Agostinho bot der Mama galant den Arm.
Von da an war er immer um Amélia herum, des Morgens im Bad, nachmittags am Strand. Er holte ihr Muscheln und widmete ihr ein neues Gedicht – »Der Traum«. Eine Stelle war stark:
»Ich fühlte dich an meinem Herzen ruhn,
Und ängstlich bebend gabst du nach …«
Amélia murmelte diese Verse inbrünstig, wenn sie nachts seufzend ihr Kopfkissen umschlang.
Der Oktober ging zu Ende und mit ihm die Ferien. Eines Nachts machte die fröhliche Gesellschaft, die sich um Dona Maria da Assunção gruppiert hatte, eine Mondscheinpartie. Auf dem Heimweg jedoch wurde es stürmisch; schwere Wolken bedeckten den Himmel; Regentropfen klatschten hernieder. Man befand sich gerade bei einem kleinen Fichtenhain, und die Damen flüchteten kreischend hinein. Agostinho, der Arm in Arm mit Amélia ging, lachte laut und drang in ziemlicher Entfernung von den anderen in das Tannicht ein. Und unter dem eintönig klagenden Rauschen der Zweige stieß er leise mit zusammengebissenen Zähnen hervor: »Ich bin verrückt nach dir, Mädchen!«
»Wer's glaubt!« flüsterte sie.
Aber Agostinho sagte in ernstem Ton: »Weißt du, daß ich vielleicht schon morgen fort muß?«
»Sie gehen? …«
»Vielleicht. Ich weiß noch nicht. Übermorgen beginnt das Semester.«
»Sie gehen …«, seufzte Amélia.
Er drückte wild ihre Hand und flehte: »Schreib mir!«
»Und Sie schreiben mir auch?«
Da umschlang er ihre Schultern und preßte gierige, schmerzende Küsse auf ihre Lippen.
»Lassen Sie mich! Lassen Sie mich!« stöhnte sie halb erstickt.
Aber plötzlich seufzte sie – es klang wie ein leises Girren – und überließ sich ihm. In diesem Augenblick schrie die Stimme der Dona Joaquina Gansoso: »Der Regen läßt nach! Schnell nach Hause!«
Und Amélia, die sich wie im Traume losriß, flüchtete unter den Schutz des mütterlichen Regenschirms.
Am folgenden Tage reiste Agostinho tatsächlich ab. Es kamen die ersten Regengüsse, und bald darauf kehrten auch Amélia, ihre Mutter und Dona Maria da Assunção nach Leiria zurück.
Der Winter verging, und eines Tages erschien Dona Maria da Assunção bei der Joaneira, um zu verkünden, daß sich – man hatte es ihr aus Alcobaça geschrieben – Agostinho Brito nächstens mit der Tochter des Vimeiro verheiraten würde.
»Alle Wetter!« rief Dona Joaquina Gansoso. »Das bringt ihm nicht weniger als dreißig Contos Conto – Portugiesische und brasilianische Rechnungseinheit. ein! Seh einer den Kerl an!«
Und vor aller Augen brach Amélia in Tränen aus.
Sie liebte Agostinho; nie konnte sie seine nächtlichen Küsse im finstern Tannenhain vergessen. Sie glaubte niemals wieder froh werden zu können! Immer wieder mußte sie an jenen Jüngling des Onkel Storch denken, der aus Liebeskummer in die Einsamkeit des Klosters geflohen war: auch sie wollte Nonne werden. Amélia lebte nun ganz der Frömmigkeit, was ja eigentlich nur die Steigerung eines Hanges bedeutete, der schon von klein an durch den beständigen Umgang mit Geistlichen in ihrer sensiblen Natur gepflegt worden war. Den ganzen Tag las sie in Gebetbüchern; die Wände ihres Zimmers schmückte sie mit zahlreichen bunten Heiligenbildern; stundenlang kniete sie in der Kirche und betete ein Salve Regina nach dem andern zu der heiligen Mutter der Inkarnation. Alle Tage hörte sie Messen, wollte jede Woche das heilige Abendmahl nehmen, und die Freundinnen ihrer Mutter erklärten, sie sei so fromm, daß das Beispiel ihrer Tugend selbst gänzlich Ungläubige bekehren müßte!
Es war um jene Zeit, als der Kanonikus Dias und seine Schwester, Dona Josefa Dias, anfingen, im Hause der Joaneira ein und aus zu gehen. Binnen kurzem war der Kanonikus der erklärte »Freund der Familie«. Nach dem Frühstück erschien er todsicher mit seinem Hündchen, wie früher todsicher der Chorherr mit seinem Regenschirm.
»Ich hege große Freundschaft für ihn«, sagte die Joaneira. »Er tut mir viel Gutes. Aber der Chorherr … ach, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke!«
Die Schwester des Kanonikus hatte damals mit der Joaneira die »Gesellschaft der Dienerinnen der Frömmigkeit« gegründet, der sich auch Dona Maria da Assunção und die Gansosos »affiliierten«. So entwickelte sich das Haus der Joaneira zu einer Art geistlichem Zentrum. Das war die Glanzzeit im Leben der Joaneira. »Der Sitz der Kirche«, sagte angeekelt der Apotheker Carlos, »ist jetzt in der Rua da Misericórdia« (wo die Joaneira wohnte). Ein Teil der Stiftsherren, auch der neue Chorherr, kam regelmäßig am Freitag. Es gab überall Heiligenbilder, nicht nur im Eßzimmer, sondern sogar in der Küche. Ehe ein Dienstmädchen genommen wurde, mußte es eine hochnotpeinliche Prüfung in Religion durchmachen. Hier wurde auch oft über den Ruf und das Ansehen der Leute entschieden. Wenn es von einem Menschen hieß: »Er ist nicht gottesfürchtig«, so war es Pflicht, ihn zu diskreditieren. Die Ernennungen von Glöcknern, Totengräbern, Kirchendienern wurden hier mit feinen Intrigen und frommem Redeschwall besorgt. Der ganze Unterhaltungston war auf schwarz, zum mindesten auf violett gestimmt; das ganze Haus roch nach Kerzen und Weihrauch, und die Joaneira nahm sogar den Handel mit Hostien für sich allein in Anspruch.
So vergingen die Jähre. Allmählich jedoch zerstreute sich das Häuflein der Frommen: die Verbindung des Kanonikus Dias mit der Joaneira, die zu vielem Gerede Anlaß bot, verscheuchte die Pfarrer des Domkapitels. Auch starb der neue Chorherr am Schlagfluß: das war so eine Art Tradition in dieser Diözese, wo die Chorherren verhängnisvollen Mächten zu erliegen schienen. Und so kam es, daß die Lottospiele am Freitag beinahe nicht mehr unterhaltsam waren. Amélia hatte sich sehr verändert; sie war ein schönes, stattliches Mädchen von zweiundzwanzig Jahren mit weichen Sammetaugen und purpurnen Lippen geworden und dachte an ihre Leidenschaft für Agostinho nur noch als an eine Kindertorheit. Ihre Frömmigkeit bestand noch, aber in anderer Form: Was sie jetzt an der Religion liebte, war die Aufmachung, der festliche Prunk. Sie liebte die schönen Messen, die mit Orgelbegleitung gesungen wurden, die goldgestickten Kirchengewänder, die zwischen den hohen Kerzen funkelten, den Hochaltar im Schmuck der duftenden Blumen, das leise Klirren der silbernen Weihrauchbecken, die Unisonos, die rauschend und leuchtend in das Halleluja einstimmten. Die Kathedrale war ihre Oper, Gott ihr Luxus. An Meßsonntagen zog sie gern feine Kleider an und besprengte sich mit Eau de Cologne, um dann, an den Teppich des Hochaltars geschmiegt, dem Pater Brito oder dem Kanonikus Saldanha zuzulächeln. Aber an manchen Tagen »welkte« sie, wie ihre Mutter sagte. Der alte Trübsinn überkam sie dann wieder; sie schlich blaß, mit einem müden, alten Zug um den Mund umher und verspürte während dieser Anfälle ein unbestimmtes, krankhaftes Weh. Nur wenn sie das Santissimo oder die Melodie des Totengeläutes sang, verspürte sie einigen Trost. Kehrte ihre Heiterkeit zurück, fand Amélia wiederum Geschmack am festlich-frohen Gottesdienst, und sie bedauerte nur, daß die Kathedralkirche ein so hoher, weiter, im kalten Jesuitenstil gehaltener Steinbau war. Ihr wäre eine kleine Kirche mit viel Vergoldung, vielen Teppichen und Wandbehängen, schönen Tapeten und Gasbeleuchtung lieber gewesen. Und außerdem: hübsche Pfarrer, die vor einem wie eine Etagere geschmückten Altar den Gottesdienst verrichteten.
Sie feierte gerade ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag, als sie João Eduardo näher kennenlernte. Es war am Tage der Fronleichnamsprozession, im Hause des Notars Nunes Ferral, wo der junge Mann eine Schreiberstelle innehatte. Amélia, ihre Mutter und Dona Josefa Dias hatten sich dorthin begeben, um von des Notars schöner Veranda aus, die mit gelben Damastdecken geziert war, die Prozession zu sehen. João Eduardo war auch da, bescheiden, ernst, im schwarzen Anzug. Sie hatte ihn schon oft gesehen, aber als sie an diesem Nachmittag seine weiße Hautfarbe und den feierlichen Ernst bemerkte, mit dem er niederkniete, erschien er ihr als ein »sehr schmucker junger Mann«.
Nach dem Abendtee lief der enorm dicke Nunes mit seiner weißen Weste im Saal umher und ließ begeistert seine zirpende Stimme ertönen: »Paarweise antreten! Bitte, paarweise antreten!« Denn schon hatte die älteste Tochter sich ans Klavier gesetzt und schmetterte eine feurige französische Masurka herunter. João Eduardo ging auf Amélia zu.
»Oh, ich tanze nicht!« sagte sie kühl.
João Eduardo tanzte auch nicht, sondern lehnte sich an einen Türpfosten und beobachtete, die Hand im Westenausschnitt, fortgesetzt Amélia. Sie sah es und wandte sich ab, war aber nicht böse. Und als João Eduardo, der einen Stuhl neben ihr frei sah, sich zu ihr setzen wollte, machte sie ihm erfreut Platz, indem sie den seidenen Besatz ihres Kleides beiseite zog. Der Schreiber zwirbelte verlegen und mit unsicheren Fingern sein Bärtchen. Schließlich redete ihn Amélia an.
»Sie tanzen also auch nicht?«
»Und Sie, Dona Amélia?« fragte er leise.
Sie neigte ihren Oberkörper zurück und trommelte auf ihr Kleid.
»Ich? Ach, ich bin zu alt für solche Vergnügungen. Ich bin eine ernste Person.«
»Und Sie lachen auch nie?« fragte er mit verschmitzter Betonung.
»Ach, ich lache schon manchmal … wenn es etwas zu lachen gibt«, sagte sie und blickte ihn von der Seite an.
»Über mich zum Beispiel.«
»Über Sie! Warum nicht gar! Sie wollen wohl Witze machen? Warum sollte ich wohl über Sie lachen? … Sehr gut! … Also was soll denn Lächerliches an Ihnen sein?« Sie fächelte sich mit ihrem schwarzen Seidenfächer.
Er schwieg; offensichtlich suchte er nach einer passenden, geistreichen Bemerkung.
»Also im Ernst, Sie tanzen nicht?« sagte er schließlich.
»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt. Sie sind furchtbar neugierig!«
»Weil ich mich für Sie interessiere.«
»Ach, hören Sie auf!« Sie begleitete diese Worte mit einer lässig abwehrenden Geste.
»Ehrenwort!«
Aber Dona Josefa Dias, die die beiden scharf beobachtete, trat mit gerunzelter Stirn auf sie zu, worauf Eduardo eingeschüchtert die Segel strich.
Als die Gesellschaft aufbrach und Amélia sich im Korridor anzog, näherte sich ihr João Eduardo noch einmal und sagte, den Hut in der Hand: »Hüllen Sie sich ordentlich ein! Erkälten Sie sich nicht!«
»Also Sie interessieren sich immer noch für mich?« fragte sie, während sie den Kragen ihres wollenen Mantels um den Hals schlug.
»Im höchsten Grade, glauben Sie mir!«
Zwei Wochen später kam eine Operettengesellschaft nach Leiria. Man sprach viel von der Altistin, der Gamacho. Dona Maria da Assunção hatte eine Loge gemietet und nahm die Joaneira und Amélia mit. Das Mädchen hatte sich zwei Nächte vorher mit rührender Eile ein Musselinkleid, das reich mit blauen Seidenbändern garniert war, geschneidert.
Im Theater trat die Gamacho auf. Furchtbar gepudert, mit einer Valenciamantille angetan, ließ sie mit der senilen Grazie alternder Chansonetten ihren Flitterfächer vibrieren und sang dabei mit gellenden Trillern spanische Tanzweisen. João Eduardo, der im Parkett saß, merkte wenig davon: sehnsüchtig starrte er nur nach Amélia. Am Ausgang des Theaters begrüßte er sie und bot ihr den Arm, um sie nach der Rua da Misericórdia zu geleiten. Hinter den beiden gingen die Joaneira, Dona Maria da Assunção und der Notar Nunes.
»Nun, hat Ihnen die Gamacho gefallen, Senhor João Eduardo?«
»Um die Wahrheit zu gestehen: ich habe sie nicht einmal angesehen.«
»Ja, was haben Sie denn gemacht?«
»Ich habe Sie angeschaut«, antwortete er entschlossen.
Sofort blieb sie stehen und sagte befangen: »Wo bleibt meine Mama?«
»Ach, lassen Sie doch die Mama!«
João Eduardo neigte sein Gesicht zu ihr herab und sprach von seiner »großen Leidenschaft«. Und indem er erregt ihre Hand ergriff, wiederholte er immer wieder: »Ich habe Sie doch so lieb! Ich habe Sie doch so lieb!«
Auch Amélia war nach der Musik ein wenig erregt; dazu kam die Wärme der Sommernacht, das Flimmern der Sterne am weiten Firmament … Sehnsucht überkam ihr Herz, sie ließ João Eduardo ihre Hand und seufzte leise.
»Sie haben mich auch lieb, nicht wahr?« fragte er.
»Ja«, antwortete sie und drückte heftig João Eduardos Hand.
Aber diese Neigung war, wie sie gleich geahnt hatte, nur ein Strohfeuer gewesen. Einige Tage später, als sie João Eduardo näher kennenlernte, als sie ungezwungen mit ihm reden durfte, erkannte sie, daß sie »kein tieferes Gefühl für ihn empfand«. Sie schätzte ihn, fand ihn sympathisch, nett, glaubte auch, daß er ein guter Ehemann sein könnte. Allein … in ihrem Herzen regte sich nichts … es schlief.
Der Schreiber kam von nun an fast jeden Abend in die Rua da Misericórdia. Die Joaneira achtete ihn wegen seines gesetzten, vernünftigen Wesens und seiner Ehrenhaftigkeit, aber Amélia zeigte ihm immer eine gewisse Kühle. Zwar stand sie am Fenster, wenn er morgens zur Kanzlei ging; sie sah ihn auch abends lieb an, aber nur, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen, nur, um in ihrem ziemlich inhaltlosen Leben einen Flirt, etwas wie ein kleines Liebesabenteuer zu haben.
João Eduardo sprach eines Tages mit der Mutter von seinen Heiratsplänen.
»Wie Amélia will«, sagte die Joaneira. »Ich persönlich …« Und als Amélia gefragt wurde, antwortete sie ausweichend: »Später vielleicht; vorläufig nicht. Wir werden schon sehen.«
Schließlich kam man stillschweigend überein, fürs erste zu warten, bis João Eduardo eine Stelle als Regierungsschreiber erhielte, die ihm großzügig vom Doktor Godinho – dem sonst so vorsichtigen Doktor Godinho – in Aussicht gestellt worden war.
So hatte Amélia bis zur Ankunft Amaros gelebt. Und in dieser Nacht ließ sie ihr Leben im Geiste vorüberziehen. Stückweise, wie Wolken, die der Wind vor sich herfegt und zerfetzt, kamen ihr die Erinnerungen. Spät schlief sie ein und erwachte erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Sie reckte und dehnte sich im Bett, als sie die Ruça im Eßzimmer sagen hörte: »Soeben geht der Herr Pfarrer mit dem Kanonikus in die Kirche.«
Amélia sprang hastig aus dem Bett, eilte im Hemd ans Fenster und guckte, den Musselinvorhang ein wenig hebend, hinaus. Es war ein strahlender Morgen, und sie sah, wie Pater Amaro in der Mitte der Straße mit dem Kanonikus plauderte, der sehr stattlich aussah in seiner Soutane aus feinem Stoff und sich gerade in sein weißes Taschentuch schneuzte.