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Die Zeit, die jetzt für Amaro angebrochen war, betrachtete er als die glücklichste seines ganzen Lebens.
Die Gnade Gottes ruht auf mir, dachte er manchmal des Nachts, wenn er sich auskleidete und sich nach alter geistlicher Gepflogenheit Rechenschaft über seine Tage ablegte: wie leicht, wie glatt, wie genußreich flossen sie dahin! In den letzten zwei Monaten hatte es keine Reibereien und Schwierigkeiten im geistlichen Amt gegeben; alle Welt war, wie Pater Saldanha sagte, vom Geist der Frömmigkeit erfüllt. Dona Josefa Dias hatte Amaro eine ausgezeichnete, dabei billige Köchin namens Escolástica besorgt. In der Rua da Misericórdia machte ihm sein bewundernder, frommer Hofstaat den Hof; jede Woche kam ein- oder zweimal jene selige Stunde im Hause des Onkels Esguelhas, und wie um das Glück vollzumachen, war sogar das Wetter so milde, daß im Morenal schon die Rosenknospen sich öffneten.
Aber was ihn besonders entzückte, war, daß weder die Alten noch die Kollegen, noch die Kirchendiener den leisesten Verdacht in bezug auf seine Zusammenkünfte mit Amélia hegten. Jene Besuche des Mädchens bei Totó waren schon für alle zu einer Selbstverständlichkeit geworden; man nannte sie »das fromme Liebeswerk der Kleinen«, und niemand stellte neugierige Fragen; denn bei solchen Liebeswerken gilt der Grundsatz, daß sie nur Gott und die ausübende Person angehen. Höchstens fragte dann und wann eine der Damen Amélia, wie es der Kranken gehe. Da erklärte sie, daß Totó schon ganz anders geworden sei und beginne, die Augen vor Gottes Gesetz zu öffnen. Und taktvoll lenkte man die Unterhaltung auf andere Gesprächsstoffe. Allerdings bestand der unbestimmte Plan, daß man später einmal, wenn Totó ihren Katechismus genau kannte und durch die Kraft des Gebets gut geworden wäre, gemeinsam zum Glöcknerhause wallfahren wollte, um das heilige Werk Amélias und die Demütigung des Erzfeindes zu bestaunen.
Angesichts des grenzenlosen Vertrauens, das man in ihre Tugend setzte, machte Amélia dem Pfarrer den Vorschlag, er solle den Freundinnen erzählen, daß er zuweilen ihrem frommen Werk an Totós Seele beiwohne. Das sei ein geschickter Schachzug.
»Wenn dich dann jemand beim Betreten des Glöcknerhauses überraschte, wäre jedem Verdacht die Spitze abgebrochen.«
»Ich halte das nicht für nötig«, meinte er. »Gott ist offensichtlich mit uns, Kind. So wollen wir uns also nicht in seine Pläne mischen. Er sieht weiter als wir …«
Sie war sofort damit einverstanden, wie überhaupt mit allem, was von seinen Lippen kam. Seit dem ersten Vormittag in des Onkels Esguelhas Haus gehörte sie ihm uneingeschränkt, war sie ihm mit Leib und Seele verfallen. Jedes Härchen auf ihrer Haut, jeder noch so unbedeutende Gedanke in ihrem Hirn gehörte dem Pater. Diese absolute Unterjochung ihres ganzen Seins war nicht allmählich erfolgt; sie war schon in dem Augenblick abgeschlossen, da er seine starken Arme um sie geschlungen hatte. Es war, als hätten seine Küsse ihr die Seele aus dem Leib gesogen: jetzt war sie nur noch ein willenloses Anhängsel seiner Person. Und sie machte vor ihm kein Hehl daraus. Sich zu demütigen, sich ihm anzubieten, sich ganz als seine Sklavin zu fühlen, erfüllte sie mit Lust. Er sollte glauben, daß sie nur für ihn existiere. Auf ihn legte sie beruhigt die ganze Last der Verantwortung, die ihr Leben bedrückt hatte. Ihr ganzes Denken und Urteilen floß aus dem Gehirn des Pfarrers, und dies schien ihr so natürlich, als wenn aus seinem Herzen das Blut käme, das in ihren Adern pulsierte. »Der Herr Pfarrer hat es gewünscht«, oder »Der Herr Pfarrer hat es gesagt«, war für sie ein unbedingt genügender, ja zwingender Grund. Gläubig, mit hündischem Gehorsam hingen ihre Augen an den seinen. Wenn es soweit war, genügte ein Wort von ihm, und sie entkleidete sich, um ihm zu Willen zu sein.
Amaro schwelgte im Gefühl dieser Herrschaft; sie entschädigte ihn für die Vergangenheit, die er in steter Abhängigkeit verbracht hatte: im Hause des Onkels, im Seminar, im weißen Saal des Grafen von Ribamar … Sein Priesterdasein war ihm wie eine Demütigung erschienen, die seine Seele peinigte; er hatte im Gehorsam vor dem Herrn Bischof gelebt, vor der geistlichen Behörde, den Kirchenvorschriften, der Regel, die ihm nicht einmal gestattete, nach Belieben mit dem Küster zu verkehren. Und jetzt hatte er – endlich! diesen Leib zu seinen Füßen, besaß er diese Seele, dieses Wesen, über das er despotisch herrschte! Wenn er seine Tage damit verbrachte, Gott von Berufs wegen zu loben, anzubeten und zu beweihräuchern, so war er jetzt selbst der Gott einer Kreatur, die ihn fürchtete und ihn zum Gegenstand eines regelrechten Kultes machte. Für sie wenigstens war er schön, war er Grafen und Herzögen überlegen, war er der bischöflichen Mitra so würdig wie die Weisesten aller Kleriker. Hatte sie doch selbst zu ihm eines Tages, nachdem sie ihn einen Augenblick nachdenklich betrachtet hatte, gesagt: »Du könntest auch noch Papst werden!«
»Aus solchem Holz werden sie geschnitzt«, hatte er ernst geantwortet.
Und sie glaubte es; nur fürchtete sie, daß dann seine hohe Stellung ihn von ihr entfernen, ihn von Leiria fortführen würde. Diese Leidenschaft, in der sie unterging und die sie völlig durchtränkte, machte sie geradezu dumm und begriffsstutzig gegen alles, was sich nicht auf den Pater und ihre Liebe bezog. Dazu kam, daß Amaro bei ihr Interessen, die nichts mit seiner Person zu tun hatten, nicht duldete. Er verbot ihr sogar, Romane und Gedichte zu lesen. Warum sollte sie auch eine Gelehrte werden? Was kümmerte es sie, was in der Welt vorging?
Als sie eines Tages den Wunsch andeutete, an einem Ball bei den Via Claras teilzunehmen, war er empört wie über einen Verrat. Er überschüttete sie im Hause des Onkels Esguelhas mit schrecklichen Anklagen: sie sei ein eitles, verdorbenes Ding, eine Tochter des Satans! …
»Ich bringe dich um, verstehst du? Ich töte dich!« rief er, packte sie bei den Händen und durchbohrte sie mit zornflammenden Blicken.
Amaro lebte in der quälenden Furcht, daß sie sich eines Tages seiner Herrschaft entziehen könnte und er dann auf ihre stumme, bedingungslose Anbetung verzichten müßte. Manchmal dachte er, sie könne mit der Zeit eines Mannes müde werden, der nicht ihre kleinen weiblichen Eitelkeiten und Liebhabereien befriedigte, der immer in einer schwarzen Soutane steckte und mit glattrasiertem Gesicht und einer Tonsur herumlief. Er bildete sich ein, bunte Krawatten, keck in die Höhe gezwirbelte Schnurrbarte, trabende Pferde und glänzende Uniformen müßten auf jedes Weib unbedingt faszinierend wirken. Und wenn er Amélia von einem Offizier der Garnison oder einem vornehmen Herrn der Gesellschaft reden hörte, wurde er maßlos eifersüchtig.
»Er gefällt dir, nicht wahr? Du magst ihn gern? Wegen seiner bunten Lappen, wegen seines Schnurrbartes, nicht? …«
»Ich … ihn gern haben? Ach Liebling, ich habe den Menschen doch nie gesehen!«
Dann sei es auch ganz überflüssig, von ihm zu reden! Wenn sie an andre dächte, käme sie nur auf dumme Gedanken! Aus solch mangelnder Wachsamkeit über die Seele und den Willen ziehe der Teufel Nutzen! …
So kam es, daß sein Haß sich auf die ganze Laienwelt erstreckte, weil sie Amélia anziehen und aus dem Schatten seiner Soutane reißen konnte. Der Pfarrer führte allerlei sophistische Gründe ins Feld, um das Mädchen an jeglichem Verkehr in der Stadt zu hindern. Er brachte sogar die Mutter dazu, daß sie Amélia nicht allein auf den Markt und in die Läden gehen ließ. Und immer wieder stellte er die Männer als gottlose, dumme und falsche Ungeheuer hin, die, von Sünden wie mit einer dicken Kruste bedeckt, der Hölle verfallen seien! Von fast allen jungen Männern Leirias wußte er entsetzliche Dinge zu berichten. Dann fragte sie ihn furchtsam, aber neugierig: »Woher weißt du dies alles?«
»Das darf ich dir nicht sagen«, antwortete er und ließ durchblicken, daß ihm das Beichtgeheimnis die Zunge binde.
Gleichzeitig wurde er nicht müde, ihr von der Herrlichkeit des Priestertums vorzuschwärmen. Die ganze Gelehrsamkeit seiner alten Lehrbücher kramte er prahlerisch vor ihr aus und rühmte die hohen Amtspflichten und die Überlegenheit der Geistlichen. In Ägypten, dem gewaltigsten Reiche des Altertums, konnte nur jemand König werden, wenn er Priester war! In Persien, in Äthiopien hatte ein einfacher Priester das Privilegium, Könige zu entthronen und über Kronen zu verfügen! Wo gab es eine Macht, die an die seine heranreichte? Nicht einmal im Himmel! Der Pater stand über den Engeln und Seraphim, weil diesen nicht, wie dem Pater, die wunderbare Gewalt verliehen war, die Sünden zu vergeben! Und selbst die Jungfrau Maria: hatte sie eine größere Macht als er, der Pater Amaro? Nein! Bei allem Respekt, den er der Majestät der Heiligen Jungfrau schuldete, konnte er mit dem heiligen Bernhardin von Siena sagen: »Der Priester überragt dich, geliebte Himmelsmutter!« Denn wenn Gott im keuschen Schoß der Jungfrau einmal Mensch geworden war – durch den Priester, beim heiligen Meßopfer, wurde er jeden Tag Mensch! Und dies sei nicht das Resultat seiner eigenen Logik, sondern alle heiligen Kirchenväter gäben es ohne weiteres zu … »Was sagst du nun?«
»O Liebling!« murmelte sie staunend, in frommer Wollust erschauernd.
Dann blendete er sie mit ehrwürdigen Zitaten: Der heilige Clemens nannte den Priester »den Gott auf Erden«. Der beredte heilige Chrysostomus sagte, »der Priester sei der Gesandte, der die Befehle Gottes übermittelt«. Und der heilige Ambrosius schrieb: »Zwischen der Würde des Königs und der Würde des Priesters ist ein größerer Unterschied als zwischen Blei und Gold!«
»Und das Gold ist dieses hier«, sagte Amaro, indem er sich auf die Brust klopfte. »Was sagst du nun?«
Sie warf sich ihm in die Arme und küßte ihn gierig, als wollte sie in ihm »das Gold des heiligen Ambrosius«, den »Gesandten Gottes« fühlen und an sich reißen, das Höchste und Edelste, was es auf Erden gab, das Wesen, das an Gnade die Erzengel übertraf!
Diese göttliche Macht des Paters, diese Vertraulichkeit mit Gott war es, die sie ebenso oder noch mehr als der Einfluß seiner Stimme an das Versprechen glauben ließ, das er ihr immer von neuem wiederholte: von einem Priester geliebt zu werden bedeutete für sie, daß Gott ihr sein Interesse, seine Freundschaft zuwende. Nach ihrem Tode würden sie Engel bei der Hand nehmen, sie begleiten und alle Zweifel zerstreuen, die der heilige Petrus, der Himmelspförtner, hegen könnte. Und auf ihrem Grabe würden, wie es in Frankreich einem Mädchen geschehen sei, das von einem Pater geliebt wurde, weiße Rosen erblühen, als Bestätigung des Himmels, daß die Jungfräulichkeit in den heiligen Armen eines Geistlichen keinen Schaden nähme …
Das entzückte sie. Die Idee, daß aus ihrem Grabe duftende weiße Rosen sprießen würden, gab ihr einen Vorgeschmack mystischen Glücks, und sie seufzte bei dieser Vorstellung beseligt auf. Dann zog sie ein Mäulchen und sagte, sie möchte jetzt sterben.
Amaro lachte belustigt. »Vom Sterben redest du und bist so frisch und mollig!«
Sie war in der Tat voller geworden und von reifer, ausgeglichener Schönheit. Jener unruhige Gesichtsausdruck, der ihren Mund herb und ihre Nase spitz gemacht hatte, war verschwunden. Auf ihren Lippen lag ein warmes, feuchtes Rot; ihre Augen erstrahlten in ruhig-heiterem Glanz; ihr ganzes Wesen atmete Reife und Fruchtbarkeit. Sie war bequem geworden: zu Hause unterbrach sie jeden Augenblick ihre Arbeit, sann sie lächelnd und mit weit geöffneten Augen vor sich hin. Alles schien für Augenblicke zu schlafen: die Nadel, der Stoff, an dem sie nähte, ihr ganzes Wesen … Sie träumte von dem Stübchen im Glöcknerhaus, von jenem Bett, vom Herrn Pfarrer, der in Hemdsärmeln dasaß …
Den ganzen Tag wartete sie nur darauf, daß die Uhr acht schlug; zu dieser Stunde pflegte Amaro mit dem Kanonikus zu kommen. Aber die Abendgesellschaften wurden ihr oft zur Last. Der Pfarrer hatte ihr größte Zurückhaltung anempfohlen; und in übertriebenem Gehorsam wagte sie sich nicht einmal beim Tee neben ihn zu setzen oder ihm Kuchen anzubieten. Ihr graute vor der Gegenwart der Alten, vor ihrem Geschnatter und vor der Langeweile des Lottospiels. Nur mit ihm allein sein! Alles andere in der Welt erschien ihr unerträglich … Aber dann, im Hause des Glöckners, welche Entschädigung! Ihr leidenschaftlich zuckendes Gesicht, ihre keuchende Raserei, ihr Seufzen und Stöhnen, dem tödliche Erschlaffung folgte, erschreckten zuweilen den Pfarrer. Unruhig erhob er sich auf dem Ellenbogen und fragte: »Ist dir nicht wohl?«
Sie öffnete entsetzt die Augen, als kehrte sie aus einer andern Welt ins Dasein zurück. Wie schön sie war, wenn sie dann die nackten Arme über der weißen Brust kreuzte und verneinend den Kopf schüttelte …