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VIII

Pater Amaro war in dumpfem Schrecken nach Hause gegangen.

»Was nun? Was nun?« murmelte er, an die Fensterecke gelehnt, und das Herz krampfte sich ihm zusammen.

Er mußte augenblicklich das Haus der Joaneira verlassen! Er konnte hier nicht länger familiär verkehren, nachdem er sich »eine so grobe Ungehörigkeit der Kleinen gegenüber« erlaubt hatte.

Freilich war Amélia nicht übermäßig empört gewesen, nur verwirrt, erschrocken. Vielleicht hatte sie sich nur mit Rücksicht auf sein geistliches Gewand beherrscht, oder weil er der Gast ihres Hauses und mit dem Kanonikus befreundet war. Aber sie konnte es der Mutter erzählen, dem Schreiber … Was für einen Skandal würde es geben! Er stellte sich schon im Geist den Chorherrn vor, wie er die Beine übereinanderschlug und ihn durchbohrend anblickte – es war dies seine Haltung, wenn er Verweise erteilte. »Solche Sittenlosigkeiten«, würde er hoheitsvoll sagen, »sind es, die das Priestertum entehren. Ein Satyr auf dem Olymp würde sich nicht anders benommen haben!« Man konnte ihn auch wieder in irgendeine kleine Gemeinde ins Gebirge verbannen! Was würde die Gräfin von Ribamar sagen!

Und wenn er es nun darauf ankommen ließ? Wenn er hierbliebe und sie auch weiterhin in der gewohnten Intimität sähe? Mit ihren schwarzen Augen, dem schalkhaften Lächeln, dem Grübchen im Kinn, der Rundung ihres Busens? Würde nicht seine Leidenschaft heimlich weiterschwären und, immer aufs neue gereizt, immer gewaltsam zurückgedämmt, ihn wahnsinnig machen? Konnte er nicht in diesem Zustand irgendeine Eselei begehen?

Er beschloß, mit dem Kanonikus Dias zu reden. Sein schwacher Charakter brauchte immer die Stütze einer fremden Vernunft und einer fremden Erfahrung. Gewöhnlich wandte er sich an den Kanonikus, den er, aus anerzogener Disziplin heraus und weil er sein Vorgesetzter war, für intelligenter als sich selbst hielt. Überhaupt wirkte die Seminarzeit noch in ihm fort: Amaro stand immer noch in einer Art Schülerverhältnis zu seinem ehemaligen Morallehrer. Und dann: wenn er sich ein Haus und eine Aufwärterin verschaffen wollte, um in Zukunft für sich zu leben, brauchte er die Hilfe des Kanonikus, der Leiria wie seine Westentasche kannte.

Er fand ihn im Eßzimmer. Die Öllampe, deren Docht schwelte, verbreitete nur ein kümmerliches Licht. Die von einer dünnen Aschenschicht bedeckte Kohlenglut schimmerte rötlich in der Heizpfanne, und der Kanonikus, von der Wärme eingelullt, die Füße in eine Decke gewickelt, schlummerte in seinem Armstuhl. Die Pelerine hatte er nicht abgelegt; das Brevier ruhte auf seinen Knien; und die Katze schlief ausgestreckt in den Falten der Fußdecke.

Die Schritte Amaros weckten den Kanonikus, der langsam die Augen öffnete und brummte: »Ich glaube, ich wollte eben einschlafen.«

»Es ist noch früh«, sagte Pater Amaro. »Der Zapfenstreich wurde noch nicht geblasen. Was für eine Faulheit!«

»Ah!« machte der Kanonikus mit einem fürchterlichen Gähnen. »Sie sind es? Ich bin ziemlich spät vom Pfarrer heimgekommen. Bißchen Tee getrunken … war ganz zerschlagen …

Was haben Sie denn gemacht?«

»Ich bin hierhergegangen.«

»Das war heute ein famoses Essen beim Pfarrer. Das Ragout … himmlisch! Ich habe mich ein bißchen überladen«, ächzte der Kanonikus, indem er mit den Fingern das Brevier rieb.

»Wissen Sie, Meister …«, sagte Amaro unvermittelt. Er wollte fortfahren: Heute ist mir etwas passiert. Aber er hielt an sich und murmelte nur: »Ich fühle mich heute nicht ganz wohl … ich bin überhaupt in letzter Zeit etwas aus dem Geleise …«

»Ja, wahrhaftig, Sie sehen blaß aus«, bestätigte der Kanonikus, der ihm ins Gesicht schaute. »Da hilft eine Blutreinigungskur.«

Amaro starrte eine Weile schweigend ins Licht.

»Wissen Sie, ich – ich gehe mit dem Gedanken um, mir eine andere Wohnung zu suchen.«

Der Kanonikus hob den Kopf und riß die schläfrigen Äuglein weit auf.

»Was? Eine andre Wohnung suchen? Ja, warum denn?«

Pater Amaro rückte seinen Stuhl näher an ihn heran und sagte leise: »Sie werden einsehen … Ich habe mir überlegt, daß es doch eine eigentümliche Sache ist, mit zwei Frauen in einem Hause zu leben … mit einem jungen Mädchen …«

»Ach Unsinn! Was reden Sie da für Zeug! Sie sind Untermieter … Lassen Sie sich darüber keine grauen Haare wachsen! Das ist nun mal so in einer Pension.«

»Nein, nein, Meister … ich weiß schon, was ich will …«

Er seufzte und wünschte im stillen, daß der Kanonikus ihn fragte, ihm sein Geständnis erleichterte.

»Und das ist Ihnen erst heute eingefallen, Amaro?«

»Es ist wahr, ich habe heute daran gedacht. Ich habe meine Gründe.« Er wollte sagen: Ich habe eine Dummheit gemacht; aber er bezwang sich.

Der Kanonikus sah ihn einen Augenblick an.

»Mensch, seien Sie offen!«

»Ich bin es.«

»Finden Sie es zu teuer hier?«

»Nein!« wehrte Amaro ärgerlich ab.

»Gut, dann ist es also etwas andres …«

»Ja! Wollen Sie es wissen?« Und mit einem halb verschmitzten, halb frivolen Lächeln, von dem er annahm, daß es bei dem Kanonikus auf Verständnis stieße, fuhr er fort: »Man liebt doch auch etwas Nettes …«

»Gut, gut«, lachte der andre, »ich bin im Bilde! Da ich der Freund des Hauses bin, wollen Sie mir durch die Blume zu verstehen geben, daß Ihnen der ganze Kram hier nicht paßt!«

»Unsinn!« stieß Amaro hervor und stand auf, weil er sich über diese unglaubliche Begriffsstutzigkeit ärgerte.

»Ach Mensch!« rief der Kanonikus, indem er die Arme ausbreitete. »Sie wollen ausziehen? Wegen irgend etwas! Nun, mir erschiene es besser, wenn …«

»Ganz recht! Ganz recht!« sagte Amaro, der mit großen Schritten im Zimmer auf und ab ging. »Aber es ist nun einmal so! Bitte sehen Sie, ob Sie mir ein billiges Häuschen mit einigen Möbeln besorgen können … Sie verstehen ja solche Dinge besser …«

Der Kanonikus saß eine Weile schweigend in seinem Armstuhl versunken und kratzte sich das Kinn.

»Ein billiges Häuschen …«, brummte er endlich. »Nun, ich werde sehen … Vielleicht …«

»Sie begreifen«, sagte Amaro lebhaft und näherte sich dem Kanonikus. »Das Haus der Joaneira …«

Aber da knarrte die Tür, und Dona Josefa Dias trat ein. Nachdem sie sich über das Essen beim Pfarrer, den Katarrh der armen Dona Maria da Assunção und über das Leberleiden ausgesprochen hatte, das den spaßigen Kanonikus Sanchez immer mehr herunterbrachte, ging Amaro hinaus. Er war beinahe zufrieden, daß er sich seinem alten Lehrer nicht offenbart hatte.

Der Kanonikus blieb neben der Heizpfanne sitzen und sann über das Gehörte nach. Dieser Entschluß Amaros, das Haus der Joaneira zu verlassen, kam ihm gelegen. Als er seinerzeit den Pfarrer als Untermieter in die Rua da Misericórdia brachte, hatte er mit der Joaneira vereinbart, den Zuschuß, den er ihr seit Jahren am Dreißigsten jedes Monats aushändigte, herabzusetzen. Aber er bereute es bald; denn die Joaneira schlief, wenn sie keinen Untermieter hatte, ganz allein im Erdgeschoß: Der Kanonikus durfte dann ungestört die Liebkosungen seines ältlichen Schatzes genießen – und Amélia, die sich oben in ihrem Kämmerchen befand, konnte absolut nichts davon merken, was in diesem »Liebesnestchen« vorging. Als aber Pater Amaro einzog, trat ihm die Joaneira die Parterrezimmer ab und schlief neben der Tochter in einem eisernen Bett. Und da mußte der Kanonikus zu seinem Kummer, wie er sagte, erkennen, »daß dieses Arrangement alles verdorben hatte«. Damit er nicht ganz und gar auf die süßen Schäferstunden mit der Joaneira zu verzichten brauchte, hatte es sich als nötig erwiesen, daß Amélia ab und zu anderswo zu Mittag speiste, daß die Ruça Wasser von der Quelle holte und was dergleichen lästige Sicherheitsmaßregeln mehr waren. Und er, der Kanonikus des Domkapitels, sah sich gezwungen, zu warten, zu spähen, zu lauschen, wenn er sich seinen Freuden, deren regelmäßiger Genuß der Gesundheit so zuträglich ist, hingeben wollte.

Er fühlte sich dann in derselben peinlich-schwierigen Lage wie ein Gymnasiast, der heimlich die Gattin seines Professors liebt. Das war ein harter Schlag für den Egoisten, der doch auch Rücksicht auf seine Gesundheit nehmen mußte. Wenn also Amaro auszöge, würde die Joaneira wieder Herrin des Parterrezimmers werden; die alte Bequemlichkeit, die ungestörten Mittagsruhen wären mit einem Schlag wieder da! Natürlich müßte er dann wieder den alten Monatszuschuß zahlen … Aber den würde er eben bewilligen!

»Zum Teufel!« beschloß er seine Betrachtungen. »Zum mindesten kann man dann wieder machen, was man will.«

»Nanu, du redest ja laut vor dich hin!« sagte Dona Josefa, die aus ihrem Halbschlaf, in den sie neben dem Kohlenbecken verfallen war, emporschreckte.

»Ich dachte eben darüber nach, wie ich mich am besten in der Fastenzeit kasteien könnte«, antwortete der Kanonikus mit einem derben Lachen.

 

Ein wenig später rief die Ruça den Pater Amaro zum Tee. Er stieg langsam und bangen Herzens die Treppe hinauf; denn er fürchtete einen Zusammenstoß mit der erzürnten Joaneira, die sicher schon Kenntnis von seinem unwürdigen Verhalten hatte. Er fand nur Amélia; sie hatte, als sie seine Schritte auf der Treppe hörte, schnell ihre Näharbeit ergriffen und stichelte nun eifrig, mit tiefgesenktem Kopf, drauflos. Ihr Gesicht war rot wie das Taschentuch des Kanonikus, das sie säumte.

»Guten Abend, Fräulein Amélia!«

»Guten Abend, Herr Pfarrer!«

Amélia pflegte ihn sonst mit einem liebenswürdigen »Hallo!« oder »Hurra!« zu empfangen. Dieser trockene Gruß machte ihn bestürzt, und er sagte sofort ganz betreten: »Fräulein Amélia, bitte verzeihen Sie mir … Ich war ungezogen … Ich wußte nicht, was ich tat … Aber glauben Sie mir … Ich bin entschlossen, von hier wegzuziehen. Ich habe schon den Herrn Kanonikus gebeten, mir ein Haus zu besorgen …«

Er blickte zu Boden, während er sprach und sah nicht, wie Amélias Blicke überrascht und verzweifelt emporschnellten.

In diesem Moment kam die Joaneira herein, und noch in der Tür hob sie die Hände hoch. »Hurra! Ich weiß schon, ich weiß schon! Der Herr Pater Natário hat mir's schon erzählt: Großes Festessen! Erzählen Sie, erzählen Sie!«

Amaro mußte nun die Speisen aufzählen und von den Späßen des Libaninho und dem theologischen Streit berichten. Dann plauderten sie von dem Landgut, und Amaro stieg schließlich hinunter, ohne den Mut gefunden zu haben, der Joaneira von seinem beabsichtigten Wegzug Mitteilung zu machen, was für die Arme eine Einbuße von sechs Tostões den Tag bedeutete!

Am nächsten Tag kam der Kanonikus, ehe er zum Chor ging, zu Amaro. Der Pfarrer rasierte sich gerade am Fenster.

»Hallo, Meister, was gibt's denn?«

»Mir scheint, die Sache macht sich! Heute morgen, ganz zufällig … Da ist nämlich ein Häuschen in meiner Nachbarschaft, ein Glücksfund! Es gehörte dem Major Nunes, der am Fünften versetzt wurde.«

Diese übertriebene Eile mißfiel dem Pater Amaro. Er fragte, während er sein Rasiermesser schärfte: »Ist es möbliert?«

»Möbel, Geschirr, Wäsche – alles da!«

»Also …«

»Also einziehen und anfangen zu genießen! Und unter uns gesagt, Amaro: Sie haben recht. Ich habe mir die Sache überlegt … Es ist besser für Sie, wenn Sie allein wohnen. Also ziehen Sie sich an; wir wollen uns das Häuschen ansehen.«

Amaro schabte sich verzweifelt das Gesicht.

Das Haus war in der Rua das Sousas gelegen, einstöckig, sehr alt, mit wurmstichigem Gebälk. Das Mobiliar »reif für den Ruhestand«, wie der Kanonikus bemerkte. Ein paar verblichene Lithographien hingen traurig an großen schwarzen Nägeln, und der liederliche, schmutzige Major Nunes hinterließ zerbrochene Fensterscheiben, gräßlich bespuckte Zimmerdielen, vom Anstreichen der Zündhölzer zerkratzte Wände, und auf dem Fensterbrett lagen zwei schmutzstarrende Socken.

Amaro mietete das Haus. Und noch am selben Morgen engagierte ihm der Kanonikus eine Haushälterin, die Dona Maria Vicência, eine ehemalige Köchin des Doktors Godinho. Sie war sehr fromm, groß und dürr wie eine Kiefer und – wie der Kanonikus Dias vermutete – die richtige Schwester der berühmten Dionísia!

Die Dionísia war früher einmal die Kameliendame, die Ninon de Lenclos, die Manon von Leiria gewesen. Sie hatte die Ehre gehabt, die Konkubine zweier Zivilgouverneure und des furchtbaren Majoratsherrn von Sertejeira zu sein, und die frenetischen Leidenschaften, die sie entfesselt hatte, waren für fast alle Familienmütter Leirias der Anlaß zu Tränenausbrüchen, Ohnmachten und hysterischen Anfällen gewesen. Jetzt ging sie in die Häuser plätten und besorgte Gänge aufs Leihhaus; auch verstand sie viel von sogenannter Geburtshilfe, »protegierte hübsche kleine Ehebrüche« (um einen Ausdruck des alten Senhor Luis da Barrosa zu gebrauchen, welcher »der Infame« genannt wurde) und trieb den Herren Staatsbeamten kleine Wäscherinnen zu. Es gab kaum eine Liebesaffäre im ganzen Bezirk, von der sie nicht Kenntnis hatte. Man sah sie noch immer, wie einst im Mai, kokett lächelnd durch die Straßen stöckeln; allerdings fehlten ihr schon zwei Vorderzähne. Sie hatte einen karierten Schal um, und unter einer Art Frisierjacke, die sehr schmutzig war, wogte ihr üppiger Busen.

Der Kanonikus teilte der Joaneira noch am selben Nachmittag den Entschluß Amaros mit. Das war ein mächtiger Schreck für die treffliche Dame! Sie beklagte sich bitter über den Undank des Herrn Pfarrers.

Der alte Geistliche hustete stark und sagte: »Hören Sie zu, meine Liebe. Ich war es, der die Geschichte arrangiert hat. Und ich will Ihnen auch sagen warum: die Sache mit dem Zimmer da oben und so weiter fängt an, meine Gesundheit zu untergraben.«

Er führte noch andre kluge Gründe hygienischer Art ins Feld, indem er ihr wohlwollend den Hals streichelte, und schloß mit den Worten: »Und wenn Sie befürchten, eine materielle Einbuße zu erleiden, so seien Sie ganz unbesorgt: ich werde Ihnen denselben Zuschuß wie früher geben. Und da die Ernte gut geraten ist, werde ich noch ein halbes Goldstück für die Toilette der Kleinen zusteuern. Also geben Sie mir einen herzhaften Schmatz, kleiner Schäker! Und für heute lade ich mich bei Ihnen zu Gast.«

Unterdessen packte Amaro unten seine Sachen. Aber jeden Augenblick hielt er inne, seufzte schwer und sah sich im Zimmer um. Da standen das mollige Bett, der Tisch mit der weißen Decke, der bequeme Polsterstuhl, in dem er im Brevier zu lesen pflegte und dabei das Geträller Amélias im ersten Stockwerk hörte.

Nie wieder! dachte er. Alles aus!

Vorbei waren die schönen Vormittage, an denen er neben ihr saß und ihr beim Nähen zusah! Vorbei die frohen Stunden des Nachtischs, der sich bis zum Anbruch der Dunkelheit erstreckte! Vorbei die Teestunden beim glühenden Kohlenfeuer, wenn der Wind draußen heulte und es in den kalten Dachrinnen sang! Vorbei, alles vorbei! …

Der Kanonikus und die Joaneira erschienen bald darauf in der Tür. Der erstere strahlte; die Frau sagte sehr betrübt: »Ich weiß schon, Sie Undankbarer!«

»Ja, es ist wahr«, bedauerte Amaro achselzuckend. »Aber es sind da Gründe … Es tut mir leid …«

»Ach, Herr Pfarrer«, unterbrach ihn die Joaneira, »nehmen Sie mir's nicht übel, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie wie einen Sohn geliebt habe …« Und sie führte das Taschentuch an die Augen.

»Ach Unsinn!« rief der Kanonikus. »Kann er denn nicht auch fernerhin in aller Freundschaft hierherkommen, plaudern und ein Täßchen Kaffee trinken? Er geht doch nicht nach Brasilien!«

»Gewiß, gewiß«, schluchzte die arme Frau. »Aber es ist doch etwas anderes, wenn man ihn hier im Hause wohnen hat!«

Schließlich gab sie zu, daß man sich im eignen Heim eben doch wohler fühle … Sie erteilte ihm gute Ratschläge betreffs der Wäscherin – und er solle nur ja herschicken, wenn er Geschirr oder Bettücher brauche …

»Und sehen Sie zu, daß Sie hier nichts vergessen, Herr Pfarrer!«

»Danke sehr! Danke sehr!«

Während Amaro beim Einpacken fortfuhr, verwünschte er seinen Entschluß, auszuziehen. Die Kleine hatte augenscheinlich nichts verraten. Ja, warum verließ er dann dieses billige, komfortable, gastfreundliche Haus? Und er haßte den Kanonikus wegen seines übertriebenen Eifers.

Das Mittagessen verlief traurig. Amélia, offenbar in der Absicht, ihre Blässe zu motivieren, klagte über Kopfschmerzen. Beim Kaffee bat der Kanonikus um seine »Prise Musik«, und das Mädchen sang, sei es absichtlich, sei es mechanisch, ihr Lieblingslied:

»Leb wohl, die süßen Tage sind zu Ende,
Da glücklich ich an deiner Seite war!
Die Glocke schlägt, grausame Schicksalswende!
Nun heißt es scheiden, Lieb, auf immerdar!«

Als Amaro dieser Weise lauschte, in der jedes Wort, jeder Ton von Trennungsschmerz erfüllt war, fühlte er sich so ergriffen, daß er jäh aufstehen und das Gesicht an die Fensterscheiben drücken mußte, um die Tränen zu verbergen, die ihm heiß aus den Augen quollen. Amélia war ebenfalls schmerzlich bewegt und fand sich auf den Tasten nicht mehr zurecht, so daß es selbst die Joaneira merkte und ihr zurief: »Du lieber Gott, Mädchen, spiel doch etwas anderes!« Aber der Kanonikus erhob sich schwerfällig und sagte: »Nun ist es Zeit, Herrschaften. Wir wollen gehen, Amaro. Ich begleite Sie bis an die Rua das Sousas …«

Amaro wollte der Schwachsinnigen adieu sagen; aber sie schlief, von einem heftigen Hustenanfall erschöpft.

»Lassen wir sie in Frieden«, sagte Amaro. Und indem er der Joaneira die Hand drückte: »Herzlichen Dank für alles! Glauben Sie mir …«

Ein würgendes Gefühl im Hals ließ ihn verstummen, und auch die Joaneira mußte den Schürzenzipfel ans Auge pressen.

»O meine Liebe«, lachte der Kanonikus, »ich habe es schon vorhin gesagt: der Mann geht doch nicht nach Amerika!«

»Ach, wenn man ihn aber so gern hat!« klagte die Joaneira weinerlich.

Amaro machte einen schwachen Versuch zu scherzen. Amélia stand totenbleich dabei und biß sich auf die Lippen.

Endlich ging Amaro, und João Bicha, der ihm schon bei seiner Ankunft in der Rua da Misericórdia, betrunken und das Bendito grölend, den Koffer getragen hatte, schaffte ihn nun nach der Rua das Sousas. Er war wie damals bezecht; diesmal aber schmetterte er das Lied »Der König ist erschienen.«

 

Als sich Amaro in dieser Nacht allein in seinem neuen traurigen Heim sah, übermannte ihn eine so qualvolle Melancholie, ein so tiefer Ekel vorm Leben, daß er, der willensschwache Charakter, sich am liebsten in einen Winkel verkrochen hätte, um zu sterben.

Er blieb in der Mitte des Zimmers stehen und ließ seine Blicke rundum schweifen: die Bettstelle war von Eisen, klein, mit einer harten Matratze bedeckt, darüber eine rote Decke, der Spiegel auf dem Tisch zerkratzt und blind. Da es keinen Waschtisch gab, standen Waschbecken und Wasserkrug auf dem Fensterbrett, daneben lag ein winziges Stück Seife.

Alles roch hier nach Schimmel und Moder, und draußen in der finstern Straße regnete es – traurig, traurig … Was für ein Dasein! Und so würde es immer sein! …

Voll Erbitterung dachte er an Amélia und ballte die Fäuste: ihr schob er die Schuld zu, daß er um seine Behaglichkeit gekommen war, daß er in dieser kahlen Höhle hausen mußte, daß ihm Ausgaben erwuchsen, daß von nun an eisige Einsamkeit sein Los war! Wenn sie ein Weib von Gemüt wäre, hätte sie in sein Zimmer kommen und sagen müssen: »Herr Pfarrer Amaro, warum wollen Sie denn ausziehen? Ich bin Ihnen nicht böse.« Aber wer hatte ihm denn sein Scheiden übelgenommen? Etwa Amélia mit ihrem zuckerigen Getue und ihren schmachtenden Blicken? Nein, sie hatte ihn ruhig packen lassen, ihn fortgehen lassen, kein freundliches Abschiedswort gefunden, sondern den Kußwalzer heruntergepaukt!

Er schwur sich, nie wieder das Haus der Joaneira zu betreten. Und mit großen Schritten das Zimmer durchmessend, überlegte er, wie er Amélia demütigen könnte. Er könnte sie wie einen Hund verächtlich behandeln! Er könnte Einfluß in der frommen Welt Leirias gewinnen und sich beim Chorherrn lieb Kind machen. Er könnte den Kanonikus und die Gansosos ihrem Hause entfremden, könnte gegen sie intrigieren und die gute Gesellschaft veranlassen, sie am Hochaltar bei der Messe kühl zu schneiden. Er könnte ihnen zu verstehen geben, daß ihre Mutter eine Prostituierte sei … In den Staub mit ihr! Schmutz über sie! Und wenn sie dann aus der Messe kam, in ihr schwarzes Mäntelchen verkrochen, von allen gemieden, könnte er an der Kirchentür ostentativ mit der Gattin des Zivilingenieurs plaudern und mit der Baronesse von Via Clara schöntun! Und dann würde er zur Fastenzeit eine gewaltige Predigt halten, und Amélia müßte hören, wie die Leute in den Bogengängen und in der Vorhalle tuschelten: »Ein bedeutender Mann, der Pater Amaro!« Er wollte von nun an ehrgeizig werden, intrigieren und, von der Gräfin von Ribamar protegiert, zu kirchlichen Würden emporsteigen …

Was würde Amélia sagen, wenn sie ihn eines Tages als Bischof von Leiria sähe, bleich und interessant in seiner reichvergoldeten Mitra. Von weihrauchschwingenden Chorknaben gefolgt, würde er das Kirchenschiff entlangschreiten, unter Orgelklang durch ein Spalier von knienden Büßern wandeln. Und was würde sie dann sein? Ein verwelktes, dürftiges Geschöpf, das in seinem billigen Schal eine klägliche Figur machte! Und der Senhor João Eduardo, der einstige Geliebte, der Gatte? Er würde ein armer, schlechtbezahlter Schreiber sein, der über seinen Aktenbogen hockte, von niemandem beachtet, äußerlich ein lobhudelnder Kriecher, im Innern vom Neid zerfressen! Und er, der Bischof, würde in seiner mächtigen, weiten Kathedrale hoch über den Menschen schweben, in den Sphären des Lichts, das von Gottes Angesicht ausstrahlt! – Ja, er würde ein Pair des Königreichs sein, und die Geistlichen seiner Diözese würden zittern, wenn er die Stirn runzelte!

In der Kirche nebenan schlug es langsam zehn Uhr.

Was mag sie wohl jetzt tun? dachte Amaro. Sicherlich nähte sie im Eßzimmer; der Schreiber war da, man spielte Karten, man lachte. Vielleicht stieß sie ihn heimlich unter dem Tisch mit dem Fuß an! Er erinnerte sich ihres Fußes und des Strumpfes, den er flüchtig gesehen hatte, als sie über die Pfützen im Landgut sprang. Und in seiner erhitzten Phantasie sah er mehr: die geschwungene Linie der Waden, den Busen und andere versteckte Schönheiten … Oh, wie liebte er sie noch, die verwünschte Dirne! Dabei keine Möglichkeit, sie zu besitzen! Und jeder dumme, häßliche Kerl durfte hingehen, um ihre Hand anhalten und zu ihm in der Kirche sagen: »Herr Pfarrer, trauen Sie mich mit diesem Mädchen!« Durfte ihre Arme und ihren Busen küssen … Er nicht: er war ein Pater! Daran war jener Höllenbraten schuld, die Marquise de Alegros! …

Amaro haßte jetzt die ganze nichtgeistliche Welt, weil er für immer von ihren Privilegien ausgeschlossen war. Und da das Priestertum ihm die Teilnahme an den menschlichen und gesellschaftlichen Genüssen versagte, suchte er, um sich zu entschädigen, Zuflucht in der Idee von der geistigen Überlegenheit, die ihm sein Stand über die Menschen verlieh. Diese miserable Schreiberseele durfte das Mädchen heiraten und besitzen, und doch … was war er im Vergleich mit einem Pfarrer, dem Gott die ungeheure Gewalt übertragen hatte, Himmel und Hölle zuzusprechen? Er weidete sich an diesem Gefühl, schwelgte in aufgeblähtem Priesterstolz. Aber schnell überkam ihn das niederschmetternde Bewußtsein, daß diese Herrschaft doch nur im abstrakten Reich der Seelen etwas zu bedeuten hatte; nie konnte er sie durch triumphierende Taten im Rahmen der Gesellschaft ausüben. Er war ein Gott innerhalb der Kirchenmauern, aber kaum trat er aus ihnen heraus, war er ein armseliger Plebejer. Eine religionsfeindliche Welt reduzierte seine ganze priesterliche Tätigkeit auf die lächerliche Beherrschung einiger frommer Seelen. Und das war es, was er bitter beklagte: diese Herabsetzung der Kirche in der Gesellschaft, diese Verstümmelung der kirchlichen Gewalt, die dem Körper, dem Leben und den Reichtümern der Menschen gegenüber rechtlos war … Was er schmerzlich vermißte, war jener entschwundene tyrannische Zeitgeist, da die Kirche die Nation und der Priester auch der weltliche Herr der Herde war. Was bedeutete ihm persönlich das mystische Recht, die Pforten zum Himmel zu öffnen oder zu versperren? Ihm lag weit mehr an dem alten Recht, die Pforten der Kornkammern nach Belieben zu öffnen oder zu schließen! Mehr frommte ihm, daß solche Schreiberseelen und solche Amélias vor dem Schatten seiner Soutane zitterten …

Ja, die Priester der früheren Kirche, die waren zu beneiden gewesen! Die konnten aus Denunziationen Vorteile ziehen, aus der Furcht vor dem Henker, konnten hier in dieser Stadt, unter der Gerichtsbarkeit der Kirche, diejenigen bei dem Gedanken an die Folterstrafe zittern machen, die sich in den Genuß von Wonnen setzen wollten, die ihm, dem Priester, versagt waren. Er dachte dabei an João Eduardo, an Amélia und bedauerte, nicht die Scheiterhaufen der Inquisition anzünden zu dürfen! – So suchten stundenlang diesen an sich friedlichen, harmlosen jungen Mann, den enttäuschte Leidenschaft in zornige Erbitterung versetzte, ehrgeizig-phantastische Träume von katholischer Tyrannenherrschaft heim. Denn jeder Pater, auch der dümmste, niedrigste, hat Augenblicke, in denen ihn der Geist der Kirche so durchdringt, daß er entweder auf alles Irdische völlig verzichten oder die ganze Welt beherrschen möchte. Jeder kleine Subdiakon fühlt sich einmal fähig, Papst oder Heiliger zu werden; es gibt keinen Seminaristen, der sich nicht, und wäre es nur für einen Augenblick, nach der Höhle des heiligen Hieronymus gesehnt hätte, um dort in der Wüste den Sternenhimmel zu betrachten und erschauernd zu fühlen, wie ihm die göttliche Gnade, einem überfließenden Milchstrom gleich, die Brust umspült. Auch in dem feisten Äbtlein, das des Nachmittags wie ein gemütlicher Papa auf der Veranda sitzt, seinen Kaffee schlürft und in den hohlen Zähnen stochert, muckt noch, wenn auch ganz tief und leise, ein kleiner Torquemada Torquemada – Tomas de Torquemada (1420–1498), für seinen Fanatismus berüchtigter spanischer Geistlicher, 1484 Großinquisitor für ganz Spanien..

 

Das Leben Amaros wurde eintönig. Der März war sehr naß und kalt. Nach dem Dienst in der Kathedrale ging er nach Hause, zog die schmutzigen Stiefel aus, schlüpfte in die Pantoffeln und langweilte sich. Um drei Uhr speiste er, und nie hob er den zersprungenen Terrinendeckel auf, ohne mit schmerzlicher Sehnsucht der hübschen Mahlzeiten in der Rua da Misericórdia zu gedenken, wo Amélia, deren Hals so weiß schimmerte, ihm liebevoll lächelnd die Erbsensuppe reichte. Und hier? Hier servierte neben ihm die steife, baumlange, ewig erkältete Vicência, die wie ein Soldat in Weiberröcken aussah. Ab und zu wandte sie den Kopf zur Seite, um sich geräuschvoll in die Schürze zu schneuzen. Und schmutzig war sie! Die Messergriffe waren noch naß vom fettigen Aufwaschwasser. Amaro, obschon angewidert, regte sich nicht auf und beschwerte sich nicht. Er aß schlecht und flüchtig, ließ sich Kaffee kommen und saß dann stundenlang weltverloren am Tisch, wobei er mechanisch auf der Untertasse Zigaretten zerdrückte. Ein stummer, dumpfer Ekel schüttelte ihn; Füße und Knie wurden ihm kalt von der Zugluft, die durch die Ritzen der allen Winden preisgegebenen Wohnung drang.

Zuweilen besuchte ihn der Koadjutor, der ihn niemals in der Rua da Misericórdia aufgesucht hatte, nach beendetem Mahle. Er setzte sich in einiger Entfernung vom Tisch nieder, klemmte den Regenschirm zwischen die Knie und verhielt sich zunächst schweigend. Dann, wenn er meinte, daß es dem Pfarrer angenehm wäre, begann er die Unterhaltung jedesmal mit denselben Worten: »Hier fühlen Sie sich doch sicher wohler; es geht eben nichts über ein eigenes Heim.«

»Das ist klar«, brummte Amaro.

Am Anfang sprach er, um seinem Verdruß Luft zu machen, mit einem Anflug von Geringschätzung von der Joaneira. Auch wollte er dadurch den Koadjutor, der aus Leiria stammte, animieren, etwas Näheres von dem Skandal in der Rua da Misericórdia zu erzählen. Der Koadjutor sagte nichts, aber aus serviler Gefälligkeit ließ er ein stummes, etwas perfides Lächeln um seine Lippen spielen.

»Dort ist etwas faul, nicht?« fragte der Pfarrer leichthin.

Der andere zuckte nur die Achseln und hob mit maliziöser Miene die gespreizten Finger an die Ohren; aber kein Ton kam über seine Lippen. Er fürchtete, daß Amaro seine Mitteilungen weitergeben könnte, und wenn der Kanonikus davon erführe, würde er mit Recht gewaltig empört sein. So kam keine rechte Unterhaltung in Fluß. Nur ab und zu warf einer eine belanglose Bemerkung hin: über eine bevorstehende Taufe, über einen Ausspruch des Kanonikus Campos, über eine Altardecke, die der Reinigung bedürftig war. Diese Unterhaltung langweilte Amaro. Er fühlte sich im Augenblick nur sehr wenig als Pater, war sich kaum bewußt, daß er im geistlichen Gewand dasaß. Was interessierten ihn die kleinen Intrigen des Domkapitels, die vielbesprochene Parteilichkeit des Chorherrn, die Diebstähle im Armenhaus, die Reibereien der geistlichen Kanzlei mit der Zivilregierung! In dergleichen kirchlichen Erörterungen erwies er sich immer als ziemlich wenig beschlagen und schlecht informiert; er stand ihnen innerlich fremd und kühl gegenüber und wunderte sich über die andern Geistlichen, die daran ein geradezu weibisches Vergnügen fanden. Ihm waren diese Dinge nur kindische Possen und kleinliche Ränke.

»Wir haben Südwind?« fragte er endlich gähnend.

»Immer noch!« bestätigte der Koadjutor.

Amaro steckte die Lampe an. Der Koadjutor stand auf, schüttelte den Regenschirm und tauschte einen Blick mit der Vicência.

Jetzt kam die schlimmste Zeit für ihn: die Nacht, wo er mutterseelenallein war. Er versuchte zu lesen, aber die Bücher widerten ihn an: nicht mehr an Lektüre gewöhnt, verstand er kaum mehr, was er las. Amaro stellte sich ans Fenster: die Nacht war finster; schwach glänzten die Steinfliesen der Straße. Wann würde dieses Leben aufhören? Er steckte sich eine Zigarette an und nahm, die Hände auf dem Rücken, seine Wanderung vom Tisch zum Fenster, vom Fenster zum Tisch wieder auf. Manchmal legte er sich nieder, ohne zu beten: und er empfand keine Gewissensbisse. Auf Amélia verzichtet zu haben erschien ihm schon wie eine Buße. Was brauchte er sich noch mit dem Lesen von Gebeten zu ermüden! Er hatte ja »sein Opfer gebracht« und fühlte sich gewissermaßen dem Himmel gegenüber quitt.

So verharrte er in seinem Einsiedlerleben. Der Kanonikus kam niemals in die Rua das Sousas, »weil sich ihm«, wie er sagte, »der Magen umdrehte, schon wenn er den Fuß über die Schwelle des Hauses setzte«. Und Amaro, der jeden Tag hartnäckiger und verdrießlicher wurde, ging schon gar nicht zur Joaneira. Er nahm es ihr furchtbar übel, daß sie ihn nicht wieder zu den Freitagsgesellschaften eingeladen hatte, und schrieb diesen Schimpf der Feindseligkeit Amélias zu. Um sie nicht mehr zu sehen, hatte er sogar mit dem Pater Silveira die Mittagsmesse getauscht, zu welcher sie zu gehen pflegte. Er selbst las nun die Neunuhrmesse, wütend über das neue Opfer, das er damit bringen mußte!

 

Jeden Abend, wenn Amélia an der Tür die Glocke hörte, klopfte ihr das Herz so heftig, daß sie einen Augenblick wie erstickt dastand. Aber es waren nur die knarrenden Stiefel João Eduardos oder die weichen Gummischuhe der Gansosos, die sie auf der Treppe hörte. Da stützte sie sich auf die Stuhllehne und schloß die Augen wie unter der Bürde einer neuen Enttäuschung. Sie wartete auf den Pater Amaro. Manchmal, gegen zehn Uhr, wo es schon kaum mehr möglich war, daß er kommen konnte, packte sie eine wilde Melancholie. Nur mit größter Anstrengung konnte sie die Seufzer unterdrücken, die ihre Kehle schwellten. Sie mußte dann die Näharbeit beiseite legen.

»Ich gehe zu Bett«, sagte sie. »Ich habe unerträgliche Kopfschmerzen.«

Sie warf sich aufs Bett, wühlte ihr Gesicht in die Kissen und murmelte verzweifelt: »O schmerzensreiche Mutter, meine Schutzheilige! Warum kommt er nicht? Warum kommt er nicht?«

In den ersten Tagen nach seinem Weggehen erschien ihr das ganze Haus traurig und leer. Wenn sie in seinem Zimmer die Kleiderhaken ohne seine Sachen, die Kommode ohne seine Bücher sah, brach sie in Tränen aus. Sie küßte das Kopfkissen, auf dem sein Haupt im Schlaf geruht, drückte wie verzückt das Handtuch, mit dem er sich zuletzt die Hände getrocknet hatte, an die Brust. Immer schwebte ihr sein Gesicht vor Augen, und ihre Träume waren voll von ihm. Und wie ein Feuerbrand, den man isoliert, nur um so heftiger emporlodert, flammte ihre Liebe nach der Trennung mit unerhörter Gewalt auf.

Eines Nachmittags wollte Amélia eine Kusine besuchen, die im Hospital Krankenpflegerin war. Als sie an die Brücke kam, sah sie eine Menge gaffender Menschen dort stehen, die mit großem Behagen das Gebaren eines Mädchens verfolgten. Die Dirne trug eine scharlachrote Garibaldibluse; ihr Haarschopf war zur Seite gerutscht. Mit heiserer Stimme und drohend geschwungenen Fäusten schimpfte sie auf einen Soldaten ein. Der Bursche, der sicher vom Lande stammte und ein dickes, gewöhnliches, von hellen Härchen bedecktes Gesicht hatte, drehte ihr, die Hände tief in die Taschen vergraben, achselzuckend den Rücken und knurrte: »Ich hab ihr ja gar nichts getan!«

Senhor Vasques, der ein Tuchgeschäft in den Laubengängen am Markt besaß, war auch stehengeblieben und beobachtete entrüstet »diesen groben Unfug«.

»Ein Tumult?« fragte ihn Amélia.

»Ah, Dona Amélia! Nein, ein Soldatenspaß. Er hat ihr nur eine tote Ratte ins Gesicht geworfen. Und nun macht das Weibsbild diesen Krawall … Vettel!«

Da drehte sich das Mädchen mit der Garibaldibluse um, und Amélia erkannte in ihr bestürzt Joaninha Gomes, eine ehemalige Schulkameradin. Sie war die Geliebte des Paters Abilio gewesen! Der Pater wurde für einige Zeit seines Amtes enthoben; er ließ sie sitzen. Joaninha ging nach Pombal, dann nach Porto, und als sie von Stufe zu Stufe gesunken war, kehrte sie nach Leiria zurück. Hier lebte sie in einem Gäßchen neben der Kaserne, schwindsüchtig, von einem ganzen Regiment Soldaten verwüstet! – Welches Beispiel, o heiliger Gott! Welches Beispiel!

Sie liebte ja auch einen Pater! Auch sie, wie einst die Joaninha, weinte über ihrer Näharbeit, wenn der Pater Amaro nicht kam! Wohin trieb sie diese Leidenschaft? In das Schicksal der Joaninha! In die Schmach, ein Pfaffenliebchen zu sein! Sie stellte sich vor, wie man auf der Straße und in den Laubengängen am Markt mit Fingern auf sie wies. Und später von ihm verlassen, ein Kind unterm Herzen, ohne ein Stückchen Brot! Wie ein kräftiger Sturmwind, der in einem Augenblick den Himmel von Nebelwolken säubert, so wirkte auf Amélia die Begegnung mit der Joaninha: Sie fegte die Nebel krankhafter Verliebtheit, in denen sie sich zu verirren im Begriff war, aus ihrem Sinn. Amélia nahm sich vor, aus der Trennung Nutzen zu ziehen, Amaro zu vergessen. Sie wollte sogar ihre Heirat mit João Eduardo beschleunigen, um sich in den Hafen einer gebieterischen Pflicht zu flüchten. Einige Tage zwang sie sich, Interesse an ihm zu finden, sie fing sogar an, ihm Pantoffeln zu sticken …

Aber allmählich begann »das Böse«, das sich, angegriffen, wie eine Schlange zusammengerollt und totgestellt hatte, wieder das Haupt zu erheben und erneut auf Amélia einzudringen! Tag und Nacht, beim Nähen und beim Beten, tauchte die Erinnerung an Pater Amaro auf. Seine Augen, seine Stimme lockten sie unablässig mit immer wachsendem Zauber! Was er wohl trieb? Warum kam er nicht? Liebte er eine andre? Eine unbestimmte, aber nagende, brennende Eifersucht ergriff Amélia. Und diese Leidenschaft umhüllte sie immer mehr wie eine Atmosphäre, aus der sie nicht wieder heraus konnte, die ihr nachströmte, wenn sie ihr entfliehen wollte, und die – dennoch! – ihr Leben verlieh! Ihre ehrbaren Entschlüsse verdorrten, starben wie zarte Blüten in dem Feuer, das sie durchraste. Wenn, was zuweilen geschah, die Erinnerung an Joaninha sich regte, stieß sie sie ärgerlich zurück, und leidenschaftlich klammerte sie sich an all die unsinnigen Vernunftgründe, die sie konstruierte, um ihre Liebe zu Amaro zu rechtfertigen! Nur ein Gedanke beherrschte sie jetzt: die Arme um seinen Hals zu schlingen und ihn zu küssen! Und dann, wenn es sein müßte, zu sterben!

So fing sie an, sich über die Liebe João Eduardos zu ärgern. Sie fand ihn dumm und albern. O welche Qual! dachte sie, wenn sie ihn abends die Treppe heraufkommen hörte.

Sie konnte ihn nicht mehr ausstehen, wenn er sie, in seiner schwarzen Lüsterjacke dasitzend, unverwandt anstarrte. Und seine ewigen Gespräche über die Zivilregierung!

Amélia idealisierte Amaro. In den Nächten schwelgte sie in erotischen Träumen; tagsüber ließ die Eifersucht sie nicht zur Ruhe kommen. Dies und Anfälle düstrer Schwermut bewirkten, daß sie, wie ihre Mutter sagte, »zu einer Vogelscheuche wurde, über die man sich wütend ärgern konnte«!

Amélias Wesen wurde herb, verbittert,

»Mein Gott, Mädchen! Was hast du nur?« rief ihre Mutter.

»Ich fühle mich nicht wohl. Mir muß etwas fehlen.«

Sie sah in der Tat wächsern aus und aß so gut wie nichts. Eines Tages blieb sie fiebernd im Bett liegen. Die Mutter holte in ihrer Angst den Doktor Gouveia, und der alte Praktiker untersuchte Amélia, kam in das Eßzimmer zurück und sog mit Behagen eine Prise Schnupftabak in die Nase.

»Nun, Herr Doktor?« fragte die Joaneira.

»Hier hilft nur heiraten, meine liebe Joaneira. Verschaffen Sie dem Mädchen einen Mann! Ich habe es Ihnen doch schon so oft gesagt, Menschenskind!«

»Aber Herr Doktor …«

»Verschaffen Sie ihr einen Mann, liebe Freundin! Hier hilft bloß heiraten!« wiederholte er, als er die Treppe hinunterstieg und dabei das rechte Bein ein wenig nachschleifte, das ein hartnäckiger Rheumatismus beeinträchtigte.

Amélias Zustand besserte sich endlich, zur großen Freude João Eduardos, der während der Krankheit des Mädchens höchst betrübt umhergeschlichen war. Wie sehr hatte er bedauert, nicht bei ihrer Pflege helfen zu können! Gar manche Träne war im Büro aus seinen Augen auf das Stempelpapier des gestrengen Senhor Nunes Ferral getropft.

 

Am folgenden Sonntag stieg Amaro zur Neunuhrmesse zum Altar der Kathedrale hinauf, ehrfürchtig wichen die frommen Frauen zur Seite. Da sah er zufällig Amélia neben ihrer Mutter in ihrem schwarzen, gefältelten Seidenkleid knien. Er schloß einen Moment die Augen; kaum konnte er den Kelch in den zitternden Händen halten.

Als Amaro, nachdem er das Evangelium gemurmelt hatte, das Kreuz über dem Meßbuch schlug, sich bekreuzigte und sein Gesicht der versammelten Gemeinde zuwandte, um das Dominus vobiscum zu sprechen, sagte die Frau des Apothekers Carlos leise zu Amélia, der Herr Pfarrer sähe so blaß aus, als litte er unter Schmerzen. Amélia antwortete nicht; mit glühenden Wangen beugte sie sich tief über ihr Gebetbuch. Und während sie im Verlauf der Messe wie in Ekstase am Boden kniete, kostete sie das Glück seiner Nähe aus, genoß sie den Anblick seiner schlanken Hände, die die Hostie emporhoben, weidete sie sich an seinem schönen Gesicht, das er dem Ritus gemäß gesenkt hielt. Es durchschauerte sie süß, als seine Stimme schneller und lauter irgendeine lateinische Phrase sprach. Dann legte Amaro die Linke auf die Brust, streckte die Rechte gegen die Gemeinde aus und rief das Benedicat vos! Da öffneten sich ihre Augen ganz weit, ihre Seele flog dem am Altar Stehenden jubelnd entgegen, als sei er Gott selbst, vor dessen Segen sich alle Häupter bis in die letzte Ecke der Kathedrale neigten, wo die Männer vom Lande mit ihren Quittenstöcken vor den vergoldeten Reliquienschreinen standen.

Nach Beendigung der Messe fing es an zu regnen, und Amélia wartete mit ihrer Mutter am Kirchenportal auf ein Nachlassen des Regens.

»Hallo! Sind Sie auch da?« rief plötzlich Amaro, der mit blassem Gesicht auf sie zutrat.

»Wir warten, bis der Regen nachläßt, Herr Pfarrer«, antwortete die Joaneira, sich ihm zuwendend. Und vorwurfsvoll fuhr sie fort: »Warum sind Sie denn niemals zu uns gekommen, Herr Pfarrer? Was haben wir Ihnen denn getan? Man spricht sogar schon darüber …«

»Viel zu tun! Sehr viel zu tun!« stotterte Amaro.

»Nur ein Stündchen des Abends! Sie können mir glauben, es hat uns sehr gekränkt … Und allen ist es aufgefallen. Nein, Herr Pfarrer, das war undankbar von Ihnen!«

Amaro sagte errötend: »Es soll nun anders werden. Noch heute komme ich, und der Friede ist geschlossen.«

Amélia war das Blut ins Gesicht gestiegen, und um ihre Aufregung zu verbergen, sah sie sich am Himmel um, als fürchtete sie ein Gewitter.

Amaro bot ihr einen Schirm an. Und während die Joaneira ihn öffnete und sorgsam ihr Kleid raffte, sagte Amélia zum Pfarrer: »Also bis heute abend, nicht wahr?« Und leise, sich ängstlich umsehend: »Sie Böser! Ich bin so traurig gewesen! Ich war wie von Sinnen! Kommen Sie, bitte … bitte!«

Als Amaro heimging, mußte er sich Zwang antun, damit er nicht in seiner Soutane rannte. Er trat ins Zimmer, setzte sich neben das Bett und fühlte sich so wohl, so selig wie ein gesättigter Spatz im warmen Sonnenschein. Er malte sich Amélias Gesicht aus, ihre runden Schultern, ihre schönen Formen, und immer noch hallten die Worte in seinem Ohr nach: »Ich war wie von Sinnen!« Die Gewißheit, daß ihn das Mädchen liebte, wühlte seine Seele wie ein Wirbelsturm auf, der allmählich zu einem melodischen Rauschen verebbte und ihn bis in die letzten Falten seines Herzens mit einem süßen, zitternden Glücksgefühl erfüllte. Amaro rannte aufgeregt in der Stube umher und breitete fortwährend die Arme aus, als wollte er sofort von Amélias Körper Besitz ergreifen. Er kam sich ungeheuer stolz vor, stellte sich posierend vor den Spiegel, reckte die Brust heraus und tat, als sei die Welt ein Piedestal, einzig dazu geschaffen, ihn zu erheben! Kaum daß er ein bißchen aß. Mit welcher Ungeduld erwartete er den Abend! Am Nachmittag klärte sich das Wetter auf; jeden Augenblick zog er seine große silberne »Zwiebel«, rannte ans Fenster und ärgerte sich, daß die Sonne so furchtbar langsam am Horizont sank. Amaro pomadisierte sein Haar, wichste mit eigner Hand die Stiefel. Ehe er fortging, las er gewissenhaft seine Gebete im Brevier; denn der Gedanke an diese seine sinnliche Liebe erfüllte ihn mit der abergläubischen Furcht, daß Gott oder die Heiligen daran Anstoß nehmen und seine Pläne durchkreuzen könnten. Auf jeden Fall wollte er ihnen durch Vernachlässigung seiner religiösen Pflichten »keinen Grund zur Klage geben«.

Als er in die Rua da Misericórdia einbog, klopfte ihm das Herz so sehr, daß er einen Augenblick stehenbleiben mußte. Das Klagen der Eulen in dem alten Armenhaus, das er seit Wochen nicht gehört hatte, erschien ihm geradezu melodiös.

Wie würden alle staunen, wenn er im Eßzimmer auftauchte!

»Gesegnete Augen, die ihn schauen! Wir dachten schon, Sie seien gestorben! Welch großes Wunder! …«

Alle, auch Dona Maria da Assunção und die Gansosos, waren da. Man machte Amaro begeistert Platz und bestaunte ihn von allen Seiten.

»Also, was haben Sie getrieben? … Ist er nicht ganz mager geworden?«

Libaninho stellte sich in die Mitte des Zimmers und imitierte das Zischen und Knattern aufsteigender Raketen. Senhor Artur Couceiro nahm seine Gitarre und improvisierte einen Vers auf Amaro:

»Nun hat den Herrn Pfarrer wieder
Die Joaneira zum Tee.
Paßt auf, ein neues Leben
Zieht ein in die Soiree.«

Man applaudierte, und die Joaneira, die über das ganze Gesicht lachte, rief: »Ach, es war undankbar von ihm!«

»Undankbar sagen Sie?« schnaubte der Kanonikus. »Eine Schrulle, Dickköpfigkeit war es – das sage ich.«

Amélia sagte gar nichts. Mit glühenden Wangen und feuchten Augen sah sie nur immer den Pater Amaro an, dem man zur Feier der Stunde den Lehnstuhl des Kanonikus gegeben hatte und der sich im Hochgefühl seiner Freude darin dehnte. Er war sehr aufgeräumt und brachte die ganze Tafelrunde zum Lachen, wenn er in witziger Weise von den Schlampereien der Vicência erzählte. João Eduardo saß einsam in seiner Ecke und blätterte in einem Album …


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