Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ein unvorhergesehener Umstand störte jene seligen Vormittage im Glöcknerhaus beträchtlich. Die Tollheit Totós war schuld daran. Das Mädchen hatte sich, wie Amaro sagte, »zu einem wahren Ungeheuer entwickelt«.
Totós Abneigung gegen Amélia war ins ungemessene gewachsen. Kaum näherte sich diese dem Bett, so fuhr die Gelähmte mit dem Kopf unter die Bettdecke, und wenn Amélia ein Wort sprach oder sie mit der Hand berührte, krümmte sie sich in wahnsinniger Wut. Amélia floh; sie bildete sich ein, der Teufel, der in Totó steckte, rumore entsetzt in ihrem Körper, weil er den Geruch des Weihrauchs und des Weihwassers spüre, der infolge des Kirchganges an ihren Kleidern haftete …
Amaro tadelte Totó und führte ihr mit zornigen Worten ihren teuflischen Undank gegen Amélia zu Gemüte, die doch nur käme, um sie zu unterhalten und sie beten zu lehren … Aber die Gelähmte brach in hysterisches Weinen aus; darauf wurde sie starr und steif; ihre Augen verdrehten sich auf schreckliche Weise, und weißer Schaum quoll aus ihrem Munde. Die beiden befiel eine furchtbare Angst, und sie schütteten Wasser auf die Kranke. Amaro murmelte zur Vorsicht die Formeln der Teufelsaustreibung … Amélia aber beschloß, »von nun an die Bestie in Ruhe zu lassen«. Nie wieder versuchte sie, das Mädchen das Alphabet oder Gebete an die heilige Anna zu lehren.
Aber wenn sie ins Haus kamen, hielten sie es doch für ihre Pflicht, einen Augenblick nach Totó zu sehen. Sie traten nicht in den Alkoven ein, sondern fragten nur laut von der Tür aus, wie es ihr gehe. Eine Antwort erhielten sie nie. Totó betrachtete sie mit wilden, funkelnden Augen, die sie zu verzehren schienen, ihre Blicke wanderten von einem zum andern, liefen an ihren Körpern entlang und hafteten schließlich mit metallischem Glanz auf Amélias Kleid und Amaros Soutane. Es war, als wollte sie erraten, was darunter steckte. Ihre lüsterne Neugier bewirkte, daß ihre Nüstern sich blähten und ihre Lippen sich zu einem scheußlichen Grinsen verzerrten. Was die beiden aber am meisten entsetzte, war ihr verstocktes, gehässiges Schweigen. Amaro war in bezug auf Besessenheit und Verhexung ziemlich skeptisch; ihm schien hier vielmehr alles auf Tobsucht hinzudeuten. Da wurde Amélia noch ängstlicher. Ein wahres Glück, daß Totó infolge ihrer gelähmten Beine ans Bett gefesselt war! Wenn dem nicht so wäre, könnte sie ja zu ihnen ins Zimmer kommen und sie in einem Anfall beißen!
Amélia erklärte dem Pfarrer, daß ihr nach einem derartigen Schauspiel das Vormittagsvergnügen vergällt sei. Darum wurde beschlossen, daß man in Zukunft ins Zimmer hinaufgehen wollte, ohne vorher mit Totó zu reden.
Aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Wenn Amélia durch die Haustür eintrat und die Treppe hinaufsteigen wollte, lehnte sich Totó mit weit vorgestrecktem Körper aus dem Bette, klammerte sich an den Matratzenrand und machte unerhörte Anstrengungen, um ihr mit den Augen zu folgen. Dabei war ihr Gesicht in der Verzweiflung über ihre Hilflosigkeit grauenhaft entstellt. Wenn dann Amélia das Zimmer betrat, hörte sie von unten ein leises Hohnlachen oder ein langes »Hui!« heraufdringen, das ihr das Blut im Körper erstarren ließ …
Amélia lebte jetzt in beständiger Furcht. Sie glaubte, Gott habe hier neben ihre Liebe einen unbarmherzigen Dämon gesetzt, der sie schmähen und verhöhnen sollte. Amaro suchte sie zu beruhigen: der Heilige Vater Pius IX. habe erst jüngsthin erklärt, daß es Sünde sei, an besessene Personen zu glauben.
»Aber warum gibt es dann dafür Gebete und Teufelsaustreibungen?«
»Das gehörte zur alten Religion. Jetzt wird alles ganz anders … Schließlich bleibt Wissenschaft doch Wissenschaft …«
Sie fühlte, daß Amaro sich täuschte, und Totó verdarb doch ihr Glück! Schließlich fand Amaro ein Mittel, dem »verwünschten Mädchen« zu entgehen: Beide brauchten bloß von der Sakristei her ins Haus zu treten. Dann hätten sie nur durch die Küche zu gehen und die Treppe hinaufzusteigen. Das Bett stand so im Alkoven, daß Totó sie nicht sehen konnte, wenn sie vorsichtig hintereinander hergingen. Die Sache ließ sich auch insofern leicht machen, als zur Stunde des Rendezvous, zwischen elf und zwölf Uhr, an Wochentagen die Sakristei leer war.
Aber als sie dann wirklich auf den Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem hineinschlichen, geschah es trotz aller Vorsicht, daß die alten Holzstufen der Treppe knarrten. Und sofort kreischte Totós Stimme aus dem Alkoven: »Hinaus mit dem Hund! Hinaus! Hinaus!«
Amaro fühlte ein wütendes Verlangen, die Gelähmte zu erwürgen. Amélia war zitternd und leichenblaß stehengeblieben.
Und wieder heulte es von unten herauf: »Da gehen die Hunde! Da gehen die Hunde!«
Sie flüchteten ins Zimmer und verriegelten die Tür. Aber wieder und immer wieder ertönte die unheimlich klagende Stimme, die ihnen aus der Hölle zu kommen schien: »Jetzt kriechen die Hunde zusammen! Jetzt geht es los! O die Hunde, die Hunde!«
Amélia sank halb ohnmächtig vor Schrecken aufs Bett; sie schwur, nie wieder in dieses verfluchte Haus zu kommen.
»Aber zum Teufel, was willst du denn?« erregte sich der Pfarrer. »Wo sollen wir uns denn sonst treffen? Sollen wir uns etwa auf die Sakristeibänke legen?«
»Was habe ich ihr nur getan, um Gottes willen?« rief Amélia händeringend.
»Nichts! Sie ist eben verrückt! … Was muß der arme Onkel Esguelhas ausstehen … Was soll ich denn mit ihr machen?«
Amélia antwortete nicht. Aber zu Hause, wenn der Tag des Stelldicheins heranrückte, zitterte sie bei dem Gedanken an jene Stimme, die ihr fortwährend in den Ohren gellte und sie sogar im Traum heimsuchte. Und diese Furcht weckte sie allmählich aus dem tiefen Schlaf, in den sie in den Armen des Pfarrers gesunken war. Sie fragte sich jetzt, ob sie nicht eine unverzeihliche Sünde beginge. Die Beteuerungen Amaros, daß ihr Gottes Vergebung sicher zuteil würde, beruhigten sie nicht mehr. Sie hatte wohl bemerkt, daß, wenn Totó heulte, der Pfarrer erbleichte und erschauerte, als habe er einen Blick in die offene Hölle geworfen. Und wenn Gott wirklich keine Schuld an ihr fand, warum ließ er es dann zu, daß der Dämon sie mit der Stimme der Gelähmten höhnte und schmähte?
Nach solchen Betrachtungen warf sie sich oft vor ihrem Bett auf die Knie und betete lange zur schmerzensreichen Jungfrau. Amélia flehte die Jungfrau an, sie möge sie erleuchten, ihr mitteilen, worin der Verfolgungswahn der Totó seinen Grund habe. Wollte ihr etwa die Heilige Jungfrau auf diese Weise eine furchtbare Mahnung schicken? Aber die Heilige Jungfrau schwieg. Nicht mehr wie bei früheren Gebeten fühlte Amélia, wie beglückende Ruhe sich in ihr Herz senkte – jene Ruhe, die sie wie eine sanfte Welle erfüllte und ihr anzudeuten schien, daß die Heilige Jungfrau wirklich bei ihr weilte. Schlaff, mit verkrampften Händen lag sie da und fühlte sich jenseits jeder Gnade. Da gelobte sie, nicht mehr ins Glöcknerhaus zu gehen … Aber wenn der vereinbarte Tag kam, wurde sie schwach und erlag der Versuchung: der Gedanke an Amaro, an das Bett, an die Küsse, die ihre Seele entrückten, an das Feuer, das sie durchraste, brach ihren Willen. Sie zog sich an und schwur sich, dies sei das letzte Mal. Punkt elf Uhr brach sie auf. Ihre Ohren glühten, ihr Herz bebte bei dem Gedanken an Totós Stimme, die sie unweigerlich hören würde … Und doch, und doch: ihr fieberndes Blut schrie nach dem Mann, der sie auf das Bett werfen würde …
Wenn sie die Kirche betrat, wagte sie aus Furcht vor den Heiligen nicht zu beten.
Sie lief in die Sakristei, um sich zu Amaro zu flüchten und im heiligen Schutze seiner Soutane geborgen zu sein. Wenn er sie so bleich und erregt kommen sah, suchte er sie durch Scherzworte zu beruhigen. Es sei doch zu töricht, sich die Freuden dieses Vormittags durch eine Verrückte vergällen zu lassen! Übrigens versprach er ihr, einen anderen Treffpunkt ausfindig zu machen. Um sie zu zerstreuen und weil niemand zugegen war, zeigte er ihr manchmal die geistlichen Prunkgewänder, die Kelche, den Kirchenschmuck; auch suchte er sie für irgendeine neue Altardecke oder die antiken Spitzen eines Chorhemdes zu interessieren. Indem er so vertraut mit diesen Heiligtümern hantierte, verfolgte er noch einen andern Zweck; er wollte dem Mädchen beweisen, daß er noch immer der Herr Pfarrer sei und sein Ansehen im Himmel noch nicht eingebüßt habe.
So zeigte er ihr eines Vormittags einen Mantel für die Heilige Jungfrau, den vor einigen Tagen eine reiche fromme Dame aus Ourém der Kathedrale zum Geschenk gemacht hatte. Amélia bewunderte ihn sehr. Er war aus blauem Atlas gefertigt und stellte ein Firmament mit aufgestickten Sternen dar. In der Mitte flammte ein goldenes Herz, das von goldenen Rosen umkränzt war – ein Meisterwerk! Amaro faltete den Mantel auseinander und ließ am Fenster die schweren Stickereien funkeln.
»Ein prächtiges Stück, was? Hunderttausend Réis … Gestern haben wir der Muttergottesstatue das Gewand anprobiert … Es sitzt wie angegossen. Höchstens ein bißchen zu lang …« Und indem er Amélias große Figur mit der etwas kümmerlichen der Jungfrau verglich: »Dir würde er noch besser passen. Laß sehen …«
Sie prallte zurück. »Nein, um Gottes willen! Welche Sünde!«
»Unsinn!« sagte Amaro und näherte sich ihr mit dem ausgebreiteten Gewand. Er zeigte ihr das Atlasfutter, das so weiß wie der frischgefallene Schnee am Morgen schimmerte. »Der Mantel ist noch nicht geweiht … Es ist, als käme er gerade von der Modistin.«
»Nein, nein«, wehrte sie schwach ab. Ihre leuchtenden Augen verrieten nur zu deutlich, wie gern sie nachgeben würde.
Da wurde er ärgerlich. Ob sie etwa besser als er wissen wolle, was Sünde sei und was nicht? Kommt so ein Mädchen daher und will ihn den Respekt lehren, den man vor Heiligengewändern haben muß!
»Also sei nicht albern! Laß sehen!«
Er hing ihn ihr über die Schultern, schloß auf ihrer Brust die kunstvoll geschmiedete Agraffe. Dann trat er zurück, um den Gesamteindruck zu studieren. Und sie stand in ihrem Mantel da, ängstlich, regungslos, und lächelte in frommem Entzücken.
»O Liebling, wie hübsch du aussiehst!«
Da bewegte sie sich und ging schüchtern, aber doch mit feierlichem Schritt zum Sakristeispiegel. Es war ein antikes Gerät aus grünlich schillerndem Glas, mit schwarzem, geschnitztem Eichenrahmen; obenauf ragte ein Kreuz. Amélia betrachtete sich einen Augenblick, wie sie in dem himmelblauen Seidengewand, das von funkelnden Sternen starrte, vor dem Spiegel stand. Die schwere Pracht bedrückte sie. Die Weihe, die der Mantel durch die Berührung mit den Schultern Marias erhalten hatte, ließ sie in frommer Wollust erschauern. Sie hatte die weiche, wohlige Empfindung, als liebkose ihren Körper ein unirdisches Fluidum, gleichsam der Äther des Paradieses. Wie eine Heilige kam sie sich vor, die in feierlicher Prozession auf dem Traggerüst stand, ja mehr noch: wie eine Heilige im Himmel …
Amaro konnte sich an dem lieblichen Bild nicht satt sehen.
»O Mädchen«, sagte er, »du bist schöner als die Heilige Jungfrau!«
Sie warf einen schnellen Blick in den Spiegel. Ja, sie war sicher hübsch … Nicht so wie die Heilige Jungfrau … Aber wenn sie so auf dem Altar stünde: mit ihrem brünetten Gesicht, den roten Lippen und den schwarzen, leuchtenden Augen, umbraust vom Orgelklang des Gottesdienstes, würde auch ihr Anblick die Herzen der Gläubigen höher schlagen lassen …
Amaro näherte sich von hinten, umschlang ihren Busen mit gekreuzten Armen und drückte sie fest an sich. Dann neigte er sich vor und gab ihr einen langen, langen Kuß … Amélia schloß die Augen und ließ den Kopf nach hinten sinken, ganz Hingebung und ganz Verlangen. Und immer wieder küßte sie der Pater, gierig, saugend, als wollte er ihr die Seele aus dem Körper trinken. Ihr Atmen wurde ein Keuchen; die Knie zitterten ihr; bleich, halb ohnmächtig vor Wollust, lehnte sie an der Schulter des Pfarrers.
Aber plötzlich richtete sie sich steil auf, und als kehrte sie eben aus tiefem Schlaf in die Wirklichkeit zurück, starrte sie ihn mit bebenden Lidern erschreckt an. Dann schoß ihr eine dunkle Blutwelle ins Gesicht. »O Amaro!« stieß sie hervor. »Welche Sünde! Welcher Frevel!«
»Torheit!« sagte er.
Aber sie zerrte am Mantel, als verbrennte die Seide ihr die Haut. »Nimm ihn weg! Nimm ihn weg!«
Da wurde Amaro sehr ernst. Wahrhaftig, mit heiligen Dingen soll man nicht spaßen …
»Er ist ja nicht geweiht … Beruhige dich …«
Sorgfältig faltete er das Gewand, hüllte es in ein weißes Tuch und legte es wortlos in den Kommodenkasten, aus dem er es genommen hatte. Amélia sah ihm ängstlich zu, während sich ihre Lippen im Gebet bewegten.
Als er fertig war und sagte, daß es Zeit sei, ins Glöcknerhaus zu gehen, wich sie zurück, als habe sie die Stimme des Dämons gehört.
»Heute nicht!« flehte sie.
Er drängte. Wahrhaftig, das hieß die Ziererei zu weit treiben! Sie wisse doch genau, daß es keine Sünde sei, wenn die Sachen nicht geweiht seien …
»Also los, zum Henker! Nur eine halbe, eine viertel Stunde meinetwegen!«
Ohne zu antworten, ging sie zur Tür.
»Also du willst nicht?«
Sie wandte sich um und sagte mit bittendem Blick: »Heute nicht!«
Amaro zuckte die Achseln. Amélia aber eilte rasch durch die Kirche; sie hielt den Kopf gesenkt und die Augen auf die Steinfliesen gerichtet, als liefe sie Spießruten durch die Reihen der beleidigten Heiligen, die sie mit drohenden Blicken verfolgten.
Am nächsten Vormittag hörte die Joaneira, die im Eßzimmer war, den Kanonikus die Treppe heraufkommen. Sie ging ihm entgegen und führte ihn in ihre Stube.
Die Witwe wollte ihm erzählen, welchen Kummer sie heute in der Morgenfrühe erlebt hatte. Amélia war plötzlich aufgewacht und hatte geschrien, die Heilige Jungfrau setze ihr den Fuß auf den Nacken, sie ersticke, die Totó sei mit Feuer hinter ihr her, und die höllischen Flammen loderten höher als bis zur Spitze des Kirchturms! … Und dann … wie schrecklich! … war Amélia zu ihr ins Zimmer gestürzt und hatte sich wie eine Wahnsinnige gebärdet! Bald darauf war sie unter einem Nervenschock zusammengebrochen. Das ganze Haus war in Aufruhr gewesen … Und da lag nun die Arme im Bett und hatte den ganzen Vormittag nichts als einen Löffel Fleischbrühe zu sich genommen.
»Alpdrücken«, meinte der Kanonikus, »Verdauungsstörungen!«
»Ach, Herr Kanonikus, das ist es nicht!« rief die Joaneira, die vor ihm auf einem Stuhl saß und betrübt den Kopf hängenließ. »Die Sache liegt tiefer: die unseligen Besuche bei der Glöcknerstochter sind schuld daran!«
Und nun öffnete sie die Schleusen ihrer Beredsamkeit; sie sprach mit dem Eifer eines Menschen, der sich einen lange unterdrückten Groll von der Seele reden will. Eigentlich hatte sie nichts sagen wollen; denn schließlich erkannte sie ja an, daß es sich um ein großes Werk der Nächstenliebe handle. Aber seitdem die Sache angefangen habe, sei das Mädchen ganz aus dem Häuschen. Und besonders in jüngster Zeit war es nicht mehr zum Aushalten! Einmal himmelhochjauchzend ohne jeden Grund, dann wieder zu Tode betrübt, daß sogar die Möbel melancholisch wurden! Des Nachts irrte sie noch spät im Hause umher, um die Fenster zu öffnen … Manchmal fürchte sie sich geradezu vor Amélias seltsamen Blicken. Wenn sie vom Glöcknerhause kam, war sie immer totenblaß und fiel vor Schwäche beinahe um. Dann mußte sie sofort eine Fleischbrühe trinken … Die Leute haben wohl recht, wenn sie sagten, daß Totó den Teufel im Leibe habe. Auch der Chorherr (der verstorbene … Gott sei seiner Seele gnädig!) sagte immer, daß auf dieser Welt zweierlei die Weiber am meisten heimsuche: die Schwindsucht und der Teufel, der ihnen in den Leib führe. Sie meine also, sie dürfe die Kleine nicht mehr ins Glöcknerhaus gehen lassen, solange es nicht sicher wäre, daß sie keinen Schaden an Leib und Seele nehme.
Kurz und gut, sie wünsche, daß eine vernünftige, erfahrene Person Totó untersuche …
»Mit einem Wort«, unterbrach sie der Kanonikus, der mit geschlossenen Augen der endlosen Jeremiade zugehört hatte, »Sie wollen also, daß ich die Gelähmte aufsuche und der Sache auf den Grund gehe …«
»Das wäre mir eine große Erleichterung, Schatz!«
Dieses Wort, das die würdige Matrone eigentlich für die Schäferstündchen am Nachmittag reservierte, rührte den Kanonikus. Er streichelte den fetten Hals der ältlichen Frau und versprach ihr, den Fall gründlich zu untersuchen …
»Morgen, wenn Totó allein ist«, schlug die Joaneira vor. Aber der Kanonikus zog es vor, Amélia mitzunehmen. Er konnte auf diese Weise sehen, wie die beiden sich verhielten, wenn der böse Geist zu wirken begann …
»Wenn ich es tue«, sagte der Kanonikus, »so geschieht es nur aus Dankbarkeit … Für jedermann würde ich es nicht tun … Denn ich habe an meinen eigenen Gebresten genug, und mit derlei Teufelswerk gebe ich mich nicht gern ab.«
Die Joaneira belohnte ihn mit einem schallenden Kuß.
»Ah, Sirenen! Sirenen!« seufzte der Kanonikus, der sich als Philosoph in seine Lage fand.
Im Grunde genommen mißfiel ihm dieser Auftrag: er bedeutete eine Störung seiner täglichen Gewohnheiten und verpfuschte ihm einen ganzen Vormittag. Sicher würde es eine anstrengende Sache werden, die seinen ganzen Scharfsinn verlangte. Außerdem war ihm der Anblick kranker Leute und alles Menschliche, das mit dem Tode irgendwie zusammenhing, durchaus zuwider. Als aber der Tag da war, an dem Amélia zu Totó ging, raffte er sich auf und schritt ärgerlich nach der Apotheke des Carlos. Dort ließ er sich nieder und wartete, ein Auge auf den »Volksfreund«, das andere auf die Tür gerichtet, auf das Mädchen, das ja den Kirchplatz überqueren mußte. Freund Carlos war abwesend, Senhor Augusto saß am Schreibtisch und las, wie immer, wenn er nichts zu tun hatte, in seinem Soares de Passos. Draußen lag die warme Aprilsonne auf den glänzenden Steinplatten des Kirchplatzes; aber niemand ließ sich sehen. Die Stille wurde nur durch das Hämmern unterbrochen, das aus dem in Reparatur befindlichen Haus des Doktors Pereira erscholl. Amélia war unpünktlich, und der Kanonikus begann schläfrig zu werden. Schon seit geraumer Zeit lag der »Volksfreund« auf seinen Knien, denn der Biedermann dachte über das kolossale Opfer nach, das er seiner alten Flamme brachte. Schon wollten ihm in dieser Mittagsstille die Augen zufallen, als ein Geistlicher in die Apotheke trat.
Sofort wurde der Kanonikus Dias munter und rief: »Hallo, Pater Ferrão! Auch einmal in der Stadt?«
»Nur auf einen Sprung«, sagte der andre, indem er behutsam zwei dicke Bücher, die er mit einer Schnur zusammengebunden hatte, auf einen Stuhl legte. Darauf zog er respektvoll den Hut vor dem Kollegen.
Der Pfarrer hatte ganz weißes Haar und mußte schon über sechzig Jahre alt sein; aber er war rüstig, und Heiterkeit blitzte aus seinen kleinen lebhaften Augen. Dazu hatte er prächtige, gesunde Zähne; was ihn entstellte, war eine riesige Nase.
Sofort erkundigte er sich liebenswürdig, ob sein Freund Dias nur zum Besuch hier weile oder ob er – was ihm sehr leid tun würde – krankheitshalber hergekommen sei.
»Nein, ich warte nur auf jemanden … Fabelhafter Fall, Freund Ferrão!«
»Ah!« machte der Alte diskret. Und während er umständlich aus seiner vollgestopften Brieftasche das Rezept für den Provisor heraussuchte, erzählte er dem Kollegen von seinem Kirchspiel, von Poiais, wo das Landgut Ricoça lag, das dem Kanonikus gehörte. Der Pfarrer Ferrão berichtete, daß er heute morgen an dem Haus vorübergegangen sei; er habe mit Erstaunen gesehen, daß die Fassade neu angestrichen würde. Ob Freund Dias etwa die Absicht habe, den Sommer daselbst zu verbringen?
Nein, das sei nicht der Fall. Aber da im Inneren des Hauses allerlei ausgebessert werde und die Fassade schändlich aussehe, habe er angeordnet, daß auch diese ein wenig angepinselt werde. Ein Haus müsse doch immer anständig aussehen, besonders wenn es direkt an der Straße stehe. Und außerdem gehe jeden Tag der alberne Majoratsherr von Poiais daran vorüber, jener Prahlhans, der sich einbilde, daß er allein zehn Meilen im Umkreis ein anständiges Wohnhaus besitze … Nur um jenem Atheisten das Maul zu stopfen! »Meinen Sie nicht auch, Freund Ferrão?«
Der Pfarrer bedauerte eben im stillen, daß ein Priester so eitel sein konnte. Aber aus christlicher Nächstenliebe und um den Kollegen nicht zu ärgern, beeilte er sich zu sagen: »Selbstverständlich, selbstverständlich. Sauberkeit ist immer die schönste Zierde …«
In diesem Augenblick sah der Kanonikus auf dem Kirchplatz eine weibliche Gestalt auftauchen. Er rannte sofort an die Tür, mußte aber erkennen, daß es nicht Amélia war. Als er sah, daß der Provisor im Laboratorium verschwunden war, dachte er wieder an sein eigentliches Geschäft und flüsterte dem Pfarrer Ferrão ins Ohr: »Das Schicksal hat mich in einen seltenen Fall verwickelt: Ich werde eine vom Teufel Besessene sehen!«
»Ah!« sagte der Pfarrer gedehnt, der bei dem Gedanken an solche Verantwortlichkeit ganz ernst wurde.
»Wollen Sie mit mir kommen, Pfarrer? Es ist ganz in der Nähe …«
Der Pfarrer entschuldigte sich höflich. Er sei in der Hauptsache in die Stadt gekommen, um mit dem Generalvikar zu sprechen, habe aber die Gelegenheit benutzt, Pater Silvério um diese beiden Bücher zu bitten. Er wolle nur noch eine Arznei für einen alten Mann seiner Gemeinde besorgen und müsse Punkt zwei Uhr wieder in Poiais sein.
Der Kanonikus ließ nicht locker: es dauere gar nicht lange, und der Fall erscheine ihm sehr merkwürdig …
Da gestand der Pfarrer »seinem lieben Kollegen«, daß er sich mit solchen Dingen gar nicht gern beschäftige. Er gehe an sie immer mit dem peinlichen Gefühl heran, daß sie dem Geist wahrer Religiosität widerstrebten. Daher sein Mißtrauen, sein Verdacht … Kurz, er könne da kein unparteiischer Beurteiler sein.
»Aber schließlich gibt es doch Wunder!« sagte der Kanonikus. Trotz seiner eigenen Zweifel ärgerte er sich über das Zaudern des Pfarrers vor einem übernatürlichen Phänomen, an dem er, der Kanonikus Dias, interessiert war. Darum wiederholte er kurz: »Ich habe einige Erfahrung in solchen Dingen und weiß, daß es Wunder gibt.«
»Ganz gewiß gibt es Wunder!« sagte der Pfarrer. »Zu leugnen, daß Gott oder die Heilige Jungfrau einer Kreatur erscheinen kann, hieße, gegen die Lehre der Kirche streiten … Zu leugnen, daß ein Dämon im Leib eines Menschen wohnen kann, hieße, einem verhängnisvollen Irrtum das Wort reden … Das ist Hiob und der Familie der Sarah passiert, um nur zwei Beispiele anzuführen. Selbstverständlich gibt es Wunder. Aber wie selten sind sie, mein lieber Kanonikus!«
Er schwieg einen Augenblick und betrachtete den Kanonikus, der stumm dastand und Schnupftabak in seine Nase stopfte. Dann fuhr er leiser fort, und sein Blick funkelte in feiner Ironie: »Und dann … haben Sie nicht bemerkt, lieber Kollege, daß so etwas nur bei Frauen vorkommt? Nur bei ihnen, deren List und Bosheit so groß ist, daß selbst ein Salomo Salomo – (etwa 970-933 v. u. Z.), durch seine Weisheit berühmter König von Israel. Hier spielt der Verfasser auf den Besuch der sagenhaften Königin von Saba bei Salomo an. Sie wollte ihn mit Rätseln versuchen und erhielt so von ihm durch List und reiche Geschenke »alles, was sie begehrte«. Vgl. Altes Testament, 1. Buch der Könige, 10. ihnen nicht widerstehen konnte? Nur bei ihnen, deren Temperament so nervös und widerspruchsvoll ist, daß sich auch die Ärzte nicht auskennen? … Haben Sie je gehört, daß die Heilige Jungfrau einem respektablen Notar erschienen wäre? Oder daß ein würdiger Amtsrichter vom bösen Geist besessen wäre? Nein. Das gibt zu denken … Ich ziehe also den Schluß, daß bei den Weibern List, Bosheit, Illusion, Einbildung, Krankheit und so weiter eine Rolle spielen … Meinen Sie nicht auch? Mein Grundsatz ist, diese Dinge sehr kühl und skeptisch anzusehen.«
Aber der Kanonikus, der die Tür im Auge behalten hatte, schwang plötzlich seinen Sonnenschirm und schrie auf den Kirchplatz hinaus: »Heda! Hallo!«
Amélia – denn sie war es – blieb stehen. Sie ärgerte sich über diese neue Verzögerung. Pater Amaro würde sicherlich schon seit langem in höchster Ungeduld auf sie warten …
»Sie meinen also«, sagte der Kanonikus, der unter der Apothekentür den Sonnenschirm aufspannte, »daß Sie, wenn Sie ein Wunder riechen …«
»… ich sofort Unrat wittere, jawohl!«
Der Kanonikus sah ihn einen Augenblick respektvoll an.
»Mir scheint«, sagte er lächelnd, »Sie könnten es an Weisheit mit einem Salomo aufnehmen, Ferrão!«
»Oh Kollege, Kollege!« erwiderte der Pfarrer, unwillig errötend. Er empfand es als eine Ungerechtigkeit, daß jemand seine bescheidene Erfahrung mit der unvergleichlichen Weisheit Salomons verglich.
»Jaja, sogar mit Salomo!« wiederholte der Kanonikus, als er schon draußen war.
Er hatte sich eine glaubwürdige Geschichte ausgedacht, um vor Amélia seinen Besuch bei der Gelähmten zu rechtfertigen. Aber während seiner Unterhaltung mit dem Pfarrer war sie ihm mit vielen andern Dingen aus dem Gedächtnis entschwunden, und so sagte er ohne jeden Übergang zu Amélia: »Also kommen Sie, ich will auch die Totó besuchen.«
Amélia war wie vom Donner gerührt. Pater Amaro war ja schon dort! … Aber ihre Schutzpatronin, die heilige Mutter der Schmerzen, die sie in ihrer Not anrief, ließ sie nicht im Stich.
Und der Kanonikus, der an ihrer Seite ging, war nicht schlecht erstaunt, als sie sagte: »Famos! Heute ist ja bei Totó Besuchstag! Der Herr Pfarrer hat mir angedeutet, daß er heute wahrscheinlich auch hinkommen würde … Vielleicht ist er sogar schon dort.«
»Ah, Freund Amaro auch? Sehr gut, sehr gut! Wir werden der Totó ein bißchen auf den Zahn fühlen!«
Amélia freute sich ihrer gelungenen List und plauderte über Totó. Der Herr Kanonikus werde schon sehen … Ein Geschöpf, aus dem man nicht klug wird … Seit einiger Zeit verfolge das Mädchen sie mit einem unglaublichen Haß – sie habe es nur nicht zu Hause erzählen wollen … Totó führe schreckliche Reden, spreche von Hunden und anderen Tieren, daß einen die Gänsehaut überlaufe! … Ach, sie bedauere, daß sie dieses Amt auf sich genommen habe … Denn das Mädchen höre gar nicht auf ihren Unterricht, auf ihre Gebete und ihre Ratschläge … Es sei ein wildes Tier!
»Scheußlicher Gestank hier!« schimpfte der Kanonikus, als sie in die Küche traten.
Kein Wunder! Das Mädchen sei ein Schwein und lasse gar nicht zu, daß man sie pflege und säubere. Und der Vater kümmere sich auch nicht viel um sie …
»Hier, Herr Kanonikus«, sagte sie und öffnete die Alkoventür, die neuerdings Onkel Esguelhas auf Amaros Weisung immer geschlossen halten mußte.
Totó saß halb aufgerichtet im Bett; ihr Gesicht glühte vor Neugier, denn sie hatte die ihr unbekannte Stimme des Kanonikus gehört.
»Guten Tag, Dona Totó!« rief er von der Tür aus, ohne näher zu treten.
»Nun, so begrüße doch den Herrn Kanonikus«, sagte Amélia, die mit ungewöhnlicher Beflissenheit das Bett in Ordnung brachte und das Stübchen aufräumte. »Sag ihm, wie es dir geht … Geh, schau nicht so verdrossen drein!«
Aber Totó blieb so stumm wie das Bild des heiligen Bento, das über ihrem Bett hing. Neugierig betrachtete sie diesen dicken, grauhaarigen Priester, der so ganz anders aussah als der Herr Pfarrer … Und ihre Augen, die alle Tage größer und glänzender wurden, je mehr sie abmagerte, wanderten gewohnheitsmäßig von dem Mann zu Amélia. Es war, als wolle sie erforschen, warum Amélia diesen fetten Alten herbrachte. Ob sie wohl auch mit ihm zum Stübchen hinaufsteigen würde? …
Jetzt ängstigte sich Amélia. Wenn der Herr Pfarrer einträte und Totó in Gegenwart des Kanonikus in Wut geriete, zu schreien begänne und sie als Hunde bezeichnete! … Unter dem Vorwand, etwas aufzuräumen, ging sie in die Küche. In Wirklichkeit wollte sie auf dem Hof aufpassen und Amaro, sobald er erschien, vom Fenster aus ein Zeichen geben.
Währenddessen begann der Kanonikus, der mit Totó allein im Alkoven geblieben war, seine Untersuchungen anzustellen. Er fragte die Gelähmte, aus wie vielen und welchen Personen die Heilige Dreieinigkeit bestünde. Aber sie ging nicht darauf ein, sondern flüsterte kaum hörbar, indem sie das Gesicht weit vorstreckte: »Und der andere?«
Der Kanonikus verstand nicht. Sie solle lauter reden. »Also was gibt's?«
»Der andere, der immer mit ihr kommt!«
Der Kanonikus setzte sich ans Bett und spitzte neugierig die Ohren. »Welcher andere?«
»Der Hübsche. Der immer mit ihr ins Zimmer hinaufgeht. Der sie zwickt …«
Da trat Amélia ein, und die Gelähmte schwieg sofort. Ruhig atmend, mit geschlossenen Augen lag sie da, wie jemand, dem in seinem Leiden plötzliche Erleichterung zuteil würde.
Auch der Kanonikus, der starr vor Staunen war, verharrte in seiner Stellung: er hielt den Kopf über das Bett gebeugt, als beobachte er den Herzschlag Totós. Endlich richtete er sich auf und pustete, als wäre ihm furchtbar heiß. Langsam nahm er eine tüchtige Prise und starrte, die offene Tabaksdose in der Hand, mit geröteten Augen auf Totós Bettdecke.
»Nun, Herr Kanonikus«, fragte Amélia, »wie denken Sie über meine Patientin?«
Ohne sie anzusehen, antwortete er: »Hm, hm, sehr gut … Alles in Ordnung … Merkwürdig, merkwürdig … Aber ich muß jetzt gehen … Adieu …«
Er murmelte, daß er Geschäfte vorhabe, und rannte schleunigst in die Apotheke.
»Ein Glas Wasser!« rief er und sank schwer auf einen Stuhl.
Carlos, der zurückgekehrt war, bot ihm diensteifrig Orangengeist an und fragte, ob Hochwürden sich nicht wohl fühle …
»Hundemüde!« sagte dieser.
Er nahm den »Volksfreund« vom Tisch und blieb, in die Zeitung vertieft, regungslos sitzen. Carlos versuchte eine Unterhaltung in Gang zu bringen: er sprach über die innere Politik, dann über die Verhältnisse in Spanien, die Revolution, die der Gesellschaft den Garaus zu machen drohe. Als dieses nicht verfing, zog er über die Bezirksverwaltung her, deren geschworener Feind er sei … Umsonst! Kaum daß Hochwürden mit einem mürrischen Ja oder Nein antwortete.
Da hüllte sich Carlos in beleidigtes Schweigen; die Lippen sarkastisch verziehend, verglich er den Stumpfsinn dieses Priesters mit der geistvollen Beredsamkeit eines Lacordaire Lacordaire – Dominique Lacordaire (1802-1861), französischer Geistlicher, Kanzelredner. oder eines Malhão Malhão – Francisco Rafael da Silveira Malhão (1794-1860), portugiesischer Kanzelredner und Dichter.. Kein Wunder, daß in Leiria, in ganz Portugal der Materialismus wie eine Hydra sein Haupt erhob!
Die Turmuhr schlug eins, als der Kanonikus, der immer verstohlen den Kirchplatz beobachtete, Amélia vorübergehen sah. Er warf die Zeitung hin, verließ wortlos die Apotheke und begab sich, so schnell wie seine Fettleibigkeit es erlaubte, nach dem Hause des Onkels Esguelhas. Totó erschrak, als sie wieder diese dicke Gestalt auftauchen sah. Aber der Kanonikus lachte sie freundlich an, nannte sie »liebe kleine Totó« und versprach ihr einen Pinto, damit sie sich Kuchen kaufen könne. Er setzte sich sogar gemütlich an ihr Bett und sagte: »Nun wollen wir ein bißchen plaudern, meine kleine Freundin! Das ist also das kranke Bein? Armes Ding! Na wart nur, das werden wir schon heilen … Ich werde Gott bitten … Verlaß dich nur auf mich!«
Das Alleinsein mit diesem Manne, der so nahe an ihrem Bett saß und so heftig schnaufte, beunruhigte sie dermaßen, daß sie bald rot, bald weiß wurde.
»Nun höre einmal«, sagte er und rückte so nahe an die Bettstelle, daß sie knarrte. »Wer ist denn der andre? Wer kommt denn immer mit Amélia?«
Sie antwortete so schnell, daß sich ihre Worte überstürzten: »Der Hübsche ist es, der Schlanke … Sie kommen immer zusammen, gehen ins Zimmer hinauf, schließen sich ein und tun wie die Hunde miteinander!«
Seine blutunterlaufenen Augen quollen förmlich aus den Augenhöhlen, als er fragte: »Aber wer ist es denn? Wie heißt er? Dein Vater hat's dir doch gesagt!«
»Es ist der andere, der Pfarrer, der Amaro!« stieß sie ärgerlich heraus.
»Und sie gehen ins Zimmer hinauf? Dort oben hinauf? Und du hörst es, du hörst es wirklich? … Sag mir alles, Kleine!«
Da erzählte die Gelähmte mit ihrer schwindsüchtigen Stimme, die die Wut zu ersticken drohte … Sie erzählte alles: wie die beiden eintraten, sie besuchten, sich aneinanderschmiegten, ins Zimmer hinaufgingen, die Tür zuschlossen und eine Stunde oben blieben …
Aber der Kanonikus, dessen trübe Augen in geiler Neugier zu glimmen begannen, wollte alle schimpflichen Einzelheiten wissen.
»Und, liebe Totó«, drang er in das Mädchen, »du hörst es? … hörst das Bett knarren?«
Sie nickte bleich und mit knirschenden Zähnen.
»Und, kleine Totó, du hast auch gesehen, wie sie sich küßten und umarmten? Geh, sag es mir … Du bekommst zwei Pintos.«
Totó hielt die Lippen fest geschlossen; dem Kanonikus graute fast vor ihrem verzerrten, wilden Gesicht.
»Du bist ihr böse, nicht wahr?«
Ein leidenschaftliches Kopfnicken.
»Und du hast gesehen, wie sie sich zwickten?«
»Sie sind wie die Hunde!« keuchte das Mädchen.
Da reckte sich der Kanonikus empor, schnaufte in seiner apoplektischen Art und kratzte sich erregt die Tonsur.
»Schön!« sagte er, als er aufstand. »Adieu, Kleine … Deck dich ordentlich zu. Erkälte dich nicht …«
Er ging fort, und während er die Tür zuschlug, rief er laut: »Das ist der Gipfel der Gemeinheit! Ich töte ihn! Ich vergesse mich!«
Der Kanonikus stand noch eine Weile sinnend da; dann eilte er, den Sonnenschirm unterm Arm, der Rua das Sousas zu. Das Laufen fiel dem dicken Menschen, dessen gedunsenes Gesicht glühte, wahrhaftig nicht leicht! Auf dem Kirchplatz jedoch machte er halt, um einen Augenblick zu überlegen. Dann drehte er sich um und trat in die Kathedrale ein. Er war so aufgeregt, daß er – trotz vierzigjähriger Gewohnheit! – vergaß, vor dem Allerheiligsten das Knie zu beugen. Als er in die Sakristei stürmte, wollte Pater Amaro gerade fortgehen und knöpfte sorgfältig die Handschuhe zu, die er neuerdings immer trug, um seiner kleinen Amélia zu gefallen.
Der verstörte Gesichtsausdruck des Kanonikus verwunderte ihn.
»Was ist denn los, Meister?«
»Was los ist? Der Teufel ist los!« brüllte der Kanonikus. »Eine ausbündige Gemeinheit: Ihre Gemeinheit! Ihre Schurkerei!«
Er verstummte, vom Zorn übermannt.
Amaro, der ganz blaß geworden war, stammelte: »Was wollen Sie damit sagen, Meister?«
Der Kanonikus war unterdessen wieder zu Atem gekommen und schrie: »Hören Sie auf mit Ihrem ›Meister‹! Sie haben das Mädchen verführt! Und das ist eine hundsföttische Gemeinheit!«
Pater Amaro runzelte mißbilligend die Stirn, als hörte er einen unangebrachten Scherz.
»Was für ein Mädchen? Sie belieben wohl zu spaßen? …«
In seinem krampfhaften Bestreben, den selbstsicheren, überlegenen Mann zu markieren, gelang ihm sogar ein Lächeln, obwohl seine bleichen Lippen dabei zitterten.
»Mensch, ich habe es gesehen!« donnerte der Kanonikus.
Der Pfarrer wich entsetzt zurück und stotterte: »Sie haben es gesehen?«
Der Gedanke schoß ihm durch das Hirn, daß hier Verrat im Spiele sein könne. Vielleicht hatte sich der Kanonikus in einem Winkel des Hauses versteckt?
»Ich habe es nicht gesehen; aber es ist, als ob ich es gesehen hätte!« fuhr der Kanonikus mit furchtbarer Stimme fort. »Ich weiß alles! Ich komme von dort. Totó hat's mir erzählt. Sie schließen sich stundenlang im Zimmer ein! Man hört sogar unten das Bett knarren! Es ist eine Schmach!«
Der Pfarrer sah, daß er entlarvt war. Und wie ein gehetztes Tier, das man in die Enge getrieben hat, wehrte er sich mit dem Mut der Verzweiflung.
»Sagen Sie mir nur eins«, sagte er verbissen. »Was bezwecken Sie damit?«
Der Kanonikus schnellte empor. »Was ich bezwecke? Das fragen Sie noch? Was ich bezwecke, ist dies: Ich werde auf der Stelle dem Generalvikar Mitteilung machen!«
Pater Amaro erbleichte und trat mit geballter Faust auf seinen Gegner zu. »Sie Schurke!«
»Was ist das? Was wollen Sie?« schrie der Kanonikus und erhob abwehrend den Sonnenschirm. »Sie wollen wohl Hand an mich legen?«
Pater Amaro bezähmte sich; er schloß die Augen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, auf der große Schweißtropfen standen.
Nach einer Weile sagte er mit gekünstelter Ruhe: »Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Kanonikus Dias. Ich habe Sie nämlich einmal mit der Joaneira im Bett liegen sehen …«
»Sie lügen!« brüllte der Kanonikus.
»Nein!« beharrte der andere. »Ich habe es gesehen, mit eigenen Augen gesehen! Eines Abends, als ich nach Hause kam … Sie waren in Hemdsärmeln; die Frau hatte sich erhoben und schnürte eben ihr Korsett zu. Sie haben sogar gefragt: ›Ist jemand da?‹ … Ich habe Sie gesehen, wie ich Sie jetzt sehe. Sie brauchen nur ein Wort zu sagen, und ich werde beweisen, daß Sie seit zehn Jahren mit der Joaneira intim verkehren … unter den Augen der ganzen Geistlichkeit! So, nun wissen Sie Bescheid!«
Der Kanonikus, den seine maßlose Wut schon vorher stark mitgenommen hatte, knickte bei diesen Worten zusammen und schaute wie ein betäubter Ochse drein. Nur langsam fand er sich wieder und sagte müde: »Sie entpuppen sich ja als ein netter Schuft!«
Dem Pater Amaro war jetzt vollkommen klar, daß der Kanonikus schweigen würde, und er erwiderte gutmütig lächelnd: »Warum Schuft? Ich bitte Sie: Warum Schuft? Wir haben beide Werg am Rocken, Verehrtester. So liegt der Fall. Und ich habe keine Totó bestochen und ausgehorcht … Ich kam ganz zufällig hinter Ihre Schliche, als ich eines Abends heimkehrte. Und wenn Sie mir jetzt mit Moral und ähnlichem Zeug kommen wollen, muß ich bloß lachen. Moral ist etwas für die Schule und für die Predigt. Im gewöhnlichen Leben tue ich dies, und Sie tun das, und andre machen auch, was sie können. Sie, verehrter Meister, sind schon bei Jahren und klammern sich an die Alte; ich bin jung und halte es mit der Kleinen. Es ist traurig, aber was wollen Sie? Die Natur verlangt es nun einmal! Wir sind Menschen. Und als Priester müssen wir – zur Ehre unsres Standes – fest zusammenstehen!«
Der Kanonikus hörte kopfnickend zu; er konnte nicht umhin, die Wahrheit dieser Ausführungen anzuerkennen. Seit einer Weile saß er auf einem Stuhl; denn er mußte sich erholen: der gewaltige – wenn auch überflüssige – Aufwand an Zorn hatte ihn erschöpft. Als Amaro fertig war, sagte der Kanonikus: »Aber Sie, Mann, am Anfang Ihrer Karriere!«
»Und Sie, Meister, am Ende Ihrer Karriere!«
Da lachten sie beide, und jeder nahm seine beleidigenden Äußerungen zurück, worauf sie sich feierlich die Hände schüttelten. Darauf plauderten sie.
Was den Kanonikus so erbost hatte, war der Umstand, daß es sich um die Tochter »seines« Hauses handelte. Wenn es eine andre wäre, würde er sogar seine Freude daran haben! Aber die kleine Amélia! … Wenn es die Mutter erführe, würde sie vor Kummer sterben.
»Aber sie braucht es doch gar nicht zu erfahren!« rief Amaro. »Es bleibt ganz unter uns, Meister, es muß ein ewiges Geheimnis bleiben! Die Mutter weiß von nichts, und ich werde auch der Kleinen nichts von dem erzählen, was sich heute zwischen uns abgespielt hat. Es bleibt alles beim alten, und die Erde rollt weiter wie bisher … Aber Sie, Meister, müssen besonders auf der Hut sein! … Kein Wort zur Joaneira! … Denn sonst wird es doch noch ruchbar!«
Der Kanonikus legte ernst die Hände auf die Brust und gab sein Ehrenwort als Kavalier und Priester, daß dieses Geheimnis auf ewig in seiner Brust begraben sein sollte.
Dann schüttelten sie sich erneut die Hände, diesmal mit großer Herzlichkeit.
Aber es schlug drei; dies war die Zeit, wo der Kanonikus zu Mittag speiste. Beim Hinausgehen klopfte er Amaro auf den Rücken und sagte listig blinzelnd: »Sie Schwerenöter verstehen die Chose!«
»Was wollen Sie, zum Teufel? … Es fängt ganz harmlos an, und dann …«
»Mann«, sagte der Kanonikus nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit, »es ist das Beste, was uns auf dieser Welt beschert wird!«
»Das ist wahr, Meister, das ist wirklich wahr! Es ist das Beste und Schönste, was uns das Leben beschert!«
Seit diesem Tage genoß Amaro eine fast vollkommene Seelenruhe. Nur verursachte ihm ab und zu der Gedanke ein gewisses Unbehagen, daß er das Vertrauen und die Liebenswürdigkeit, die er in der Rua da Misericórdia erfuhr, mit so schnödem Undank vergalt. Aber die stillschweigende Billigung des Kanonikus zog ihm, wie er sich ausdrückte, »diesen Stachel aus dem Gewissen«. Denn schließlich war ja der ehrbare Kanonikus das Familienoberhaupt und die Joaneira nur eine Konkubine … Zuweilen nannte ihn Amaro scherzhafterweise »seinen lieben Schwiegerpapa«.
Noch ein andrer Umstand erfreute ihn: die Totó war plötzlich erkrankt. Am Tage nach dem Besuch des Kanonikus spuckte sie wiederholt und reichlich Blut. Der Doktor Cardoso, den man schleunigst gerufen hatte, sprach von galoppierender Schwindsucht … es sei nur noch eine Frage weniger Wochen … ein hoffnungsloser Fall …
»Hier heißt es bloß noch: ritsch – ratsch, mein Lieber!« Dieses »Ritsch-Ratsch« begleitete der Arzt mit zwei säbelnden Armbewegungen – einmal hin, einmal her. Auf diese Weise pflegte er die Arbeit des nahenden Sensenmannes, des Todes, anschaulich zu illustrieren.
Die Vormittage im Hause des Onkels Esguelhas verliefen jetzt ganz ungestört. Amélia und der Pfarrer schlichen nicht mehr auf Fußspitzen, um, unbemerkt von Totó, zu ihrem Vergnügen zu gelangen. Sie schlugen die Türen zu und plauderten laut: waren sie doch sicher, daß Totó sie nicht hörte. Die lag fiebernd auf ihrem schweißdurchtränkten Bettlaken. Um ihr Gewissen zu beruhigen, betete jedoch Amélia alle Abende ein Salve Regina für die Genesung der Gelähmten. Wenn sie sich im Glöcknerzimmer entkleidete, hielt sie manchmal plötzlich inne und sagte mit trauriger Miene: »Ach, Liebster, ist es nicht eine Sünde, daß wir uns hier erfreuen, während die arme Kleine da unten mit dem Tode ringt? …«
Amaro zuckte die Achseln. Was konnten sie da machen, wenn es Gottes Wille war? …
Und Amélia fügte sich in den Willen Gottes und ließ die Kleider fallen.
Sie hatte jetzt öfters solche »Schrullen«, über die sich der Pater Amaro ärgerte. An manchen Tagen erschien sie ganz welk und niedergeschlagen; sie erzählte von gräßlichen Träumen, die sie in der Nacht gepeinigt hatten und in denen sie eine Warnung vor drohendem Unheil erblickte …
»Würdest du sehr traurig sein, wenn ich stürbe?« fragte sie zuweilen.
Da wurde Amaro wütend. Es war wirklich zu dumm! Sie hatten nur eine kurze Stunde zur Verfügung, und die mußte mit solchem Gejammer vertrödelt werden!
»Ach, du kannst das nicht verstehen«, sagte sie, »mein Herz ist finster wie die Nacht!«
In der Tat wunderten sich auch die Freundinnen ihrer Mutter über sie. Manchmal öffnete Amélia den ganzen Abend nicht ein einziges Mal den Mund; da saß sie über ihrer Näherei und führte lässig die Nadel. Oder sie war so müde, daß sie nicht arbeiten konnte, und spielte geistesabwesend mit dem Lampenschirm, den sie den ganzen Abend um die Lampe kreisen ließ.
»Ach Mädchen, laß doch nur den Schirm in Ruhe!« sagten die Damen, die durch ihr Gebaren nervös wurden.
Amélia lächelte, seufzte müde und nahm langsam ihren weißen Rock wieder auf, an dessen Saum sie nun schon seit Wochen nähte.
Wenn die Mutter sie so bleich dasitzen sah, dachte sie daran, den Doktor Gouveia kommen zu lassen.
»Es ist nichts, Mutter … Ein bißchen Nervosität … Das geht vorüber …«
Alle waren sich darüber einig, daß hier starke Nervosität vorlag. Dafür sprach besonders die Tatsache, daß Amélia überaus leicht und heftig erschrak. Es kam vor, daß sie, wenn eine Tür ging, aufschrie und beinahe in Ohnmacht fiel. In manchen Nächten verlangte sie, daß ihre Mutter neben ihr schlief; denn sie hatte entsetzliche Angst vor Alpdrücken und Visionen.
»Der Doktor Gouveia hat schon recht«, sagte die Mutter zum Kanonikus. »Das Mädchen sollte heiraten …«
Der Kanonikus räusperte sich geräuschvoll. »Nichts fehlt ihr«, brummte er. »Sie hat alles, was sie braucht. Sie hat vielleicht gar zuviel …«
Tatsächlich hegte der Kanonikus den Verdacht – den er natürlich niemandem gegenüber äußerte –, daß »Amélias Glück sie verzehre«. Wenn er wußte, daß sie bei Totó gewesen war, wurde er nicht müde, sie aus der Tiefe seines Lehnstuhls zu beobachten, und er tat dies mit teils finsteren, teils lüsternen Blicken. Er verfolgte sie jetzt mit allerlei väterlichen Vertraulichkeiten und Schäkereien. Nie begegnete er ihr auf der Treppe, ohne sie anzuhalten, sie hier und da zu kitzeln oder ihr liebevoll die Wangen zu tätscheln. Manchmal mußte Amélia auf seinen Wunsch vormittags in seine Wohnung kommen, und während sie mit Dona Josefa plauderte, schlurfte er in seinen Pantoffeln um sie herum und schaute dabei drein wie ein alter Gockel. Der Joaneira und ihrer Tochter fiel natürlich diese große Freundschaft des Herrn Kanonikus auf, und in ihren Unterhaltungen erwogen sie oft die Möglichkeit, daß er Amélia in seinem Testament mit einem hübschen Batzen bedenken könnte.
»Sie Spitzbube verstehen die Chose!« wiederholte der Kanonikus immer wieder, wenn er mit Amaro allein war. Und die Augen weit aufreißend: »Das Mädchen ist ein erlesener Leckerbissen!«
Amaro blähte sich auf: »Hm, Meister, kein übler Bissen … Ein recht guter Bissen.«
Es entzückte ihn und schmeichelte seiner Eitelkeit, wenn er die Kollegen die Schönheit Amélias rühmen hörte, die das Mädchen als »die Blume der frommen Weiblichkeit« bezeichneten. Alle beneideten ihn um dieses Beichtkind. Darum drang er auch in sie, daß sie sich sonntags zur Messe so hübsch wie möglich herausputzte. In neuerer Zeit ärgerte er sich sogar oft darüber, daß sie immer in einem dunklen Merinokleid kam, das ihr in seinen Augen das Aussehen einer alten Büßerin verlieh.
Aber in Amélia hatte sich eine Wandlung vollzogen: sie stand nicht mehr im Bann jener sklavischen Verliebtheit, die sie zwang, dem Pater in allem und jedem zu Willen zu sein. Sie war beinahe vollständig aus dem dumpfen Schlaf des Leibes und der Seele erwacht, in den sie die erste Umarmung Amaros versetzt hatte. Die Erkenntnis ihrer Schuld drängte sich ihr immer mächtiger auf; es tagte in ihrem von frommer Schwärmerei und Liebeshörigkeit verdunkelten Geist. Was war sie denn schließlich? Die Konkubine des Paters. Und diese Idee, die jetzt hüllenlos vor ihr stand, erschien ihr entsetzlich. Nicht, daß sie den Verlust ihrer Jungfräulichkeit, ihrer Ehre und ihres guten Namens bejammerte. Für Amaro und die Seligkeiten, die er ihr bereitete, würde sie noch mehr opfern! Aber es gab noch etwas Schlimmeres zu fürchten als die Vorwürfe der Welt: und das war die Strafe Gottes! Es war der Gedanke an den möglichen Verlust des Paradieses, der sie heimlich stöhnen ließ, und noch mehr zitterte sie vor irgendeiner anderen Rache des Himmels. Nicht vor einer transzendentalen Züchtigung der Seele jenseits des Grabes, sondern vor den Qualen, die sie während des irdischen Lebens treffen konnten. Ihre Gesundheit, ihr Wohlergehen, ihr Körper konnten ja das Ziel der göttlichen Rache werden! Unbestimmt schwebten ihr allerhand schreckliche Krankheiten vor: Aussatz, Lähmung und dergleichen; oder sie sah sich arm, hungrig … Unerschöpflich war ja der Vorrat an Strafen, die dem Gott ihres Katechismus zur Verfügung standen!
Schon als kleines Mädchen hatte sie gefürchtet, daß Gott sie aus dem Bett fallen oder in der Schule züchtigen lassen würde, wenn sie einmal der Jungfrau nicht den vorgeschriebenen Tribut an Salve Reginas entrichtet hatte. Und genauso fürchtete sie heute noch, daß Gott ihr ein Übel schicken könnte, das ihr Gesicht entstellte oder sie zum Betteln verdammte, weil sie sich mit einem Pfarrer ins Bett legte. Solche Gedanken verfolgten sie seit dem Tage, wo sie in der Sakristei unter dem Mantel der Heiligen Jungfrau in sündiger Wollust erschauert war. Amélia war überzeugt, daß Maria sie haßte und nicht aufhören würde, Rechenschaft von ihr zu verlangen. Vergebens suchte sie sie durch unaufhörliche demütige Gebete zu besänftigen; sie fühlte wohl, daß die Heilige Jungfrau unzugänglich blieb und ihr verächtlich den Rücken wandte. Nie wieder hatte ihr jenes göttliche Antlitz zugelächelt, nie wieder hatten sich ihre Hände geöffnet, um wohlgefällig die Opferblumen entgegenzunehmen, die sie ihr betend darbrachte. Schweigend, hart, feindlich, eisig schaute die Heilige Jungfrau jetzt auf die Büßerin herab. Und Amélia wußte, welches Ansehen die Heilige im himmlischen Rat genoß, das hatte man sie schon von klein auf gelehrt. Alles, was Maria will, erhält sie: als Belohnung für die Tränen, die sie auf dem Kalvarienberg geweint hatte. Ihr Sohn, zu ihrer Rechten sitzend, lächelt ihr liebevoll zu; Gottvater spricht zu ihrer Linken … Es leuchtete Amélia ein, daß es für sie keine Hoffnung gab und daß sich da oben im Paradies etwas Furchtbares für sie vorbereitete. Und dieses unbekannte Furchtbare würde eines Tages mit Donnerkrachen herabstürzen, ihren Leib und ihre Seele zermalmen … Was würde es sein?
Amélia hätte am liebsten ihre Beziehungen zu Amaro gelöst, aber sie wagte es nicht. Sie fürchtete seinen Zorn fast ebensosehr wie den des Herrgotts. Was sollte aus ihr werden, wenn sie die Heilige Jungfrau und den Herrn Pfarrer gegen sich hätte? Und überdies liebte sie ihn. In seinen Armen verblaßte sogar der Gedanke an den Himmel. Wenn sie an Amaros Brust ruhte, fürchtete sie nicht mehr den göttlichen Zorn, heiße Sinnenlust und rasende Gier berauschten sie wie ein sehr schwerer Wein, entflammten ihren Mut, und brutal, gleichsam den Himmel herausfordernd, preßte sie sich an Amaros Leib. Erst später, wenn sie allein in ihrem Stübchen war, packten sie Furcht und Grauen. Und dieses fortwährende Hin und Her, dieser innere Kampf war es, der sie so bleich werden ließ, der sie alt machte, tiefe Falten um ihre welken Lippen grub, kurz: der ihr jenes schlaffe, müde Wesen verlieh, das Amaro so sehr verstimmte.
»Was hast du nur? Du siehst ja aus, als hättest du keinen Tropfen Blut in den Adern!« grollte er, wenn er bei den ersten Küssen fühlte, wie kalt und leblos sie war.
»Ich hatte eine schlechte Nacht … Ich bin eben nervös.«
»Verdammte Nervosität!« brummte Amaro ärgerlich.
Dann brachte sie ihn mit ihren eigentümlichen Fragen, die sie übrigens jeden Tag stellte, zur Verzweiflung. Ob er die Messe mit Inbrunst zelebriert, im Brevier gelesen und ein stilles Gebet gesprochen habe …
»Willst du sonst noch etwas wissen?« fuhr er sie wütend an. »Blödsinn! Denkst du vielleicht, ich bin ein Seminarist und du der Pater, dem die Kontrolle über meine Pflichterfüllung obliegt? Wie albern du bist!«
»Aber man muß sich doch mit Gott gut stehen«, sagte sie kleinlaut.
Es war in der Tat ihre Hauptsorge, daß Amaro »ein guter Geistlicher sei«. Sie zählte, um ihre Seele zu retten und dem Zorn Gottes zu entgehen, auf den Einfluß des Pfarrers beim himmlischen Gerichtshof, und sie fürchtete, daß er diesen Einfluß infolge Vernachlässigung seiner religiösen Pflichten einbüßen könnte. Denn wenn er in seinem Eifer nachließ, mußte auch sein Ansehen bei Gott geringer werden. Sie wollte, daß er fromm und ein Liebling des Himmels bliebe, um aus seiner mystischen Protektion Nutzen ziehen zu können.
Amaro nannte ihre Ermahnungen »albernes Nonnengewäsch« und fand sie abscheulich frivol. Außerdem verschlängen diese Redereien eine Menge kostbarer Zeit …
»Wir sind doch nicht im Glöcknerhaus, um uns gegenseitig die Ohren vollzujammern«, sagte er trocken. »Bitte, schließ die Fensterläden!«
Sie gehorchte, und dann, nach den ersten Küssen im verdunkelten Zimmer, erkannte er endlich seine Amélia wieder, die Amélia der ersten Tage, den köstlichen Leib, der in seinen Armen zitterte und in Wollustschauern zuckte.
Jeden Tag begehrte er sie heftiger. Diese spärlichen Stunden genügten seinem immerwährenden, tyrannischen Trieb nach Befriedigung kaum mehr. Ja, als Weib, als Geliebte kam ihr keine gleich! … Er wollte wetten, daß selbst in Lissabon, unter den adligen Damen, ihr keine das Wasser reichen konnte! … Gewiß, sie hatte ihre Mucken; aber die mußte man eben nicht ernst nehmen … Man mußte das Mädchen genießen, solange es jung war!
Und er genoß … Wohin er auch blickte, sein Leben war voller Freude und Süßigkeit. Es war wie eins jener Boudoirs, wo alles wohlgepolstert ist, wo es keine harten, eckigen Möbel gibt, wo überall, wohin er sich auch setzt, irgendein weiches, elastisches Kissen liegt.
Das Schönste waren sicherlich die Vormittage im Glöcknerhaus. Aber er hatte noch andere Freuden. Er aß gut; er rauchte aus einer teuren Meerschaumspitze; seine ganze Wäsche war neu und von feinstem Linnen; er hatte ein paar schöne Möbelstücke gekauft, und nicht mehr bedrückte ihn, wie früher, der Mangel an Geld. Denn Dona Maria da Assunção, sein bestes Beichtkind, war immer mit ihrer Börse zur Hand. Besonders in neuerer Zeit erwies sie sich als eine Perle. Eines Abends nämlich war im Hause der Joaneira die Rede auf eine englische Familie gekommen, die in einem Kremser nach dem Batalha-Denkmal gefahren war. Da hatte die vortreffliche Dona Maria da Assunção die Meinung vertreten, daß die Engländer Ketzer seien.
»Aber sie sind doch auch getauft, genauso wie wir«, bemerkte Dona Joaquina Gansoso.
»Nun ja, meine Liebe, aber ihre Taufe ist zum Lachen. Es ist nicht unsere herrliche Taufe, und sie nutzt ihnen nichts.«
Da erklärte der Kanonikus, der Dona Maria gern ein wenig quälte, mit großem Ernst, sie habe sich soeben einer Lästerung schuldig gemacht. Das heilige Konzil von Trient habe in seiner siebenten Sitzung – im vierten Gesetz – folgendes festgelegt: »Derjenige, der behauptet, daß eine Taufe Andersgläubiger, die im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes vollzogen wird, keine wahre Taufe ist, sei exkommuniziert!« Folglich sei Dona Maria da Assunção exkommuniziert!
Die vortreffliche Dame bekam prompt einen ihrer hysterischen Anfälle. Am nächsten Tag warf sie sich dem Pater Amaro zu Füßen, und dieser verordnete ihr dreihundert Messen für die im Fegefeuer befindlichen Seelen, als Strafe für die Beleidigung, die sie dem Gesetz Nummer vier der siebenten Sitzung des Trientiner Konzils angetan hatte. Für jede Messe seien an ihn, den Pater Amaro, fünf Tostões zu entrichten.
So kam es, daß er öfters das Haus des Onkels Esguelhas mit einem geheimnisvollen Lächeln der Befriedigung auf den Lippen und einem kleinen Päckchen in der Hand betrat. Letzteres enthielt irgendein Geschenk für Amélia; ein seidenes Taschentuch, eine bunte Schleife, ein Paar Handschuhe. Sie war entzückt über diese Liebesbeweise des Paters. Und dann gab es in dem dunklen Zimmer einen wahren Taumel der Leidenschaft, während unten die Schwindsucht über Totó »ritsch – ratsch!« machte …