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Amaro Vieira war in Lissabon zur Welt gekommen, im Hause der Marquise de Alegros. Sein Vater war der Diener des Marquis gewesen, seine Mutter die Kammerfrau und beinahe Freundin der Marquise. Amaro besaß noch ein Buch, »Das Kind der Wälder«, mit barbarisch kolorierten Bildern; auf der ersten Seite desselben stand geschrieben: »Meiner hochgeschätzten Dienerin und immer treuen Freundin Joana Vieira – Marquise de Alegros.«
Er hatte auch noch eine Daguerreotypie seiner Mutter: eine robuste Frau mit zusammengewachsenen Augenbrauen, einem breiten, sinnlichen Mund und feuerrotem Gesicht. Amaros Vater war an einem Schlaganfall gestorben, und seine Mutter, die immer kerngesund gewesen war, ging ein Jahr später an Kehlkopfschwindsucht zugrunde. Amaro war damals gerade sechs Jahre alt. Er hatte eine ältere Schwester, die schon als kleines Kind zu ihrer Großmutter nach Coimbra gekommen war, und einen Onkel, der als wohlhabender Krämer im Stadtviertel Estrela lebte. Aber die Marquise hatte Amaro liebgewonnen; sie behielt ihn wie einen Adoptivsohn in ihrem Hause und kümmerte sich mit großer Gewissenhaftigkeit um seine Erziehung.
Die Marquise de Alegros war mit dreiundvierzig Jahren Witwe geworden. Seit dieser Zeit verbrachte sie den größten Teil des Jahres in ihrer Villa in Carcavelos. Sie war eine passive Natur von lässiger Güte. Den Geistlichen von São Luis brachte sie eine geradezu devote Ehrerbietung entgegen und beschäftigte sich unablässig mit den Interessen der Kirche. In ihrem Hause hatte sie eine eigene Kapelle eingerichtet. Ihre zwei Töchter, in der Furcht Gottes und in ängstlicher Sorge um die neueste Mode erzogen, waren bigott und fanden es »chic«, mit derselben Inbrunst von christlicher Demut und von der letzten Brüsseler Modeschöpfung zu sprechen. Ein Journalist jener Zeiten hatte von ihnen gesagt: »Sie denken alle Tage an die Kostüme, die sie bei ihrem Einzug ins Paradies anziehen werden.«
In der Abgeschiedenheit von Carcavelos, in dem aristokratischen Park des Landhauses, wo die Pfauen schrien, empfanden die beiden jungen Damen Langeweile. Religion und Wohltätigkeit waren da Ablenkungen, denen sie sich mit leidenschaftlicher Hingabe widmeten; sie nähten Kleider für die Armen des Kirchspiels und stickten Prunkdecken für die Altäre des Gotteshauses. Vom Mai bis zum Oktober waren sie gänzlich von der Arbeit, ihre Seelen zu retten, in Anspruch genommen: sie lasen gottselige, süßliche Bücher; und da es kein Theater, keine Besuche, keine Aline gab, empfingen sie die Geistlichen und sprachen mit ihnen im Flüsterton über die Tugend der Heiligen. Gott war ihr Sommerluxus.
Die Marquise hatte sofort beschlossen, Amaro in den geistlichen Stand eintreten zu lassen. Schon sein gelbliches Gesicht und seine magere Figur bedingten ihrer Meinung nach diesen Beruf der Sammlung und Zurückgezogenheit. Auch war er ja schon für die Dinge, die mit Kirchen und Kapellen zusammenhingen, eingenommen, und sein Entzücken war es, sich zwischen Frauen mit warmen, glatten Röcken zu kuscheln und dabei von Heiligen reden zu hören. Die Marquise wollte ihn nicht aufs Gymnasium schicken, weil sie die Gottlosigkeit der Zeit und unmoralische Kameradschaften fürchtete. Der Hauskaplan unterrichete ihn in Latein, und die ältere Tochter, Dona Luisa, die eine krumme Nase hatte und Chateaubriand las, brachte ihm Französisch und Geographie bei.
Amaro war, wie die Dienerschaft sagte, ein Duckmäuser. Nie spielte er, nie tummelte er sich im Sonnenschein. Wenn er des Nachmittags die Marquise, die mit dem Pater Liset oder dem ehrwürdigen Prokurator Freitas Arm in Arm dahinschritt, in den Park des Landhauses begleitete, ging er scheu und mit gesenktem Kopf an ihrer Seite und bohrte mit feuchten Händen in seinen Taschen; es war, als hätte er eine unbestimmte Angst vor den dichten Baumgruppen und dem kräftigen, hohen Gras.
Er wurde ein Hasenfuß und schlief – eine Nachtlampe mußte immer brennen – neben einer alten Haushälterin. Übrigens verzärtelten ihn die weiblichen Dienstboten: sie fanden ihn herzig, ließen ihn nicht aus den Fingern, küßten ihn ab, kitzelten ihn. Und er kreischte entzückt auf, wenn er im Gedränge der Frauenröcke die Körper fühlte. Wenn die Marquise ausgegangen war, verkleideten sie ihn manchmal unter großem Gelächter als Mädchen; und er, halb nackt, überließ sich ihnen mit glühenden Wangen, schmachtete sie an und machte verliebte Augen. Außerdem benutzten ihn die Mädchen bei den Intrigen, die sie gegeneinander anzettelten; Amaro mußte den Zwischenträger machen, und so wurde er ränkevoll und verlogen.
Mit elf Jahren half er bei der Messe, und sonntags säuberte er die Hauskapelle. Das war sein schönster Tag: er schloß sich ein, stellte die Heiligen im Sonnenschein auf einen Tisch auf und küßte sie mit frommer Zärtlichkeit und gieriger Inbrunst. Den ganzen Morgen war er emsig beschäftigt. Während er das Santissimo trällerte, entfernte er die Motten aus den Kleidern der Heiligen und putzte mit Gips und Kreide die Aureolen der Märtyrer.
Indessen wurde er größer; er behielt dasselbe Aussehen, blieb dürftig und fahl; niemals lachte er so recht von Herzen und hatte immer die Hände in den Taschen. Er steckte beständig in den Zimmern der Dienstmädchen, durchstöberte ihre Schubkästen, wühlte in schmutzigen Unterröcken und schnüffelte an wattierten Corsagen. Amaro war äußerst faul, und des Morgens kostete es große Mühe, ihn aus seiner krankhaften Verschlafenheit zu reißen, in der er entnervt verharrte, in die Decken gewickelt und das Kopfkissen umklammernd. Er hatte schon eine etwas gebückte Haltung, und die Bediensteten nannten ihn »das Paterchen«.
Als an einem Fastnachtssonntag die Marquise des Morgens aus der Messe kam und sich der Terrasse näherte, fiel sie tot um: der Schlag hatte sie gerührt. Sie hatte in ihrem Testament angeordnet, daß Amaro, der Sohn ihrer Dienerin Joana, ein Legat erhielt und mit fünfzehn Jahren ins Seminar eintrat, um Geistlicher zu werden. Der Pater Liset war beauftragt worden, diese fromme Verfügung durchzuführen. Amaro zählte damals dreizehn Jahre.
Die Töchter der Marquise verließen schleunigst Carcavelos und zogen nach Lissabon in das Haus ihrer Tante väterlicherseits, der Dona Bárbara de Noronha. Amaro wurde zu seinem Onkel im Stadtteil Estrela gesteckt. Der Krämer, ein fettleibiger Mann, war mit einer Beamtentochter verheiratet, die ihn genommen hatte, um aus dem Hause ihres Vaters zu entrinnen, wo Schmalhans Küchenmeister war, wo sie die Betten machen mußte und niemals ins Theater gehen durfte. Aber sie haßte ihren Gatten, seine behaarten Hände, den Laden, das Stadtviertel und ihren Namen »Senhora Gonçalves«. Ihr Mann hingegen betete sie an wie das Idol seines Lebens; sie war sein Luxus. Er überhäufte sie mit Schmuck und nannte sie seine »Königin«. Amaro fand hier nicht das zärtlich-weibliche Element, das ihn in Carcavelos so warm und köstlich umgeben hatte. Die Tante ignorierte ihn fast gänzlich, sie verbrachte ihre Tage mit dem Lesen von Romanen und Theaterkritiken, kleidete sich in Seide, puderte ihr Gesicht, brannte sich Locken und wartete auf die Stunde, wo unten auf der Straße ihr derzeitiger Galan, Cardoso, die Manschetten hervorziehend, am Haus vorbeikam. Der Krämer betrachtete Amaro als eine willkommene Hilfskraft, die er am Ladentisch ausnützte. Um fünf Uhr morgens mußte der Knabe bereits aufstehen, und er zitterte in seiner blauen Tuchjacke, wenn er, an einer Ecke des Küchentisches sitzend, hastig sein Stück Brot in die Kaffeetasse tunkte. Im übrigen verabscheute man ihn; die Tante nannte ihn »Schlappschwanz«, der Onkel »Esel«. Man mißgönnte ihm sogar das kleine Stück Fleisch, das er zu Mittag aß. Amaro magerte ab und weinte jede Nacht.
Er wußte schon, daß er mit fünfzehn Jahren aufs Seminar gehen müßte, und der Onkel erinnerte ihn täglich daran.
»Glaube nur ja nicht«, pflegte er zu sagen, »daß du dein ganzes Leben lang faulenzen kannst, Esel! Wenn du fünfzehn Jahre alt bist, kommst du aufs Seminar. Ich bin gar nicht verpflichtet, dich Tagedieb durchzufüttern.«
Und der Knabe ersehnte den Eintritt ins Seminar, als bedeutete er seine Befreiung.
Niemals hatte ihn jemand gefragt, was er gern werden wolle oder wozu er sich berufen fühle. Man steckte ihn einfach ins Chorhemd, und seine passive, leicht zu lenkende Natur nahm es an, wie man eine Last auf sich nimmt. Übrigens war ihm der Gedanke, Pfarrer zu werden, nicht unangenehm. Seitdem er aus dem Zwang der ewigen Gebetübungen von Carcavelos heraus war, hatte er zwar die Furcht vor der Hölle behalten, aber die inbrünstige Liebe zu den Heiligen verloren. Indessen erinnerte er sich der Priester, die er im Hause der Marquise gesehen hatte, jener blassen Herren, die man so gut behandelte, die neben den Edelfrauen speisten und aus goldnen Dosen schnupften. Und ihm gefiel dieser Beruf, in dem man leise mit den Frauen sprach, unter ihnen lebte, ihre aufreizende Wärme spürte und Geschenke auf silbernen Tabletten entgegennahm. Er dachte an den Pater Liset, der einen Rubinring am kleinen Finger trug, ferner an Monseigneur Saavedra, dem seine goldne Brille so gut stand und der so zierlich an seinem Glas Madeira nippte. Die Töchter der Frau Marquise stickten ihm Pantoffeln. Eines Tages hatte er einen Bischof gesehen, einen jovialen Herrn, der in Bahia Pater gewesen, dann in der Welt herumgekommen war und in Rom gelebt hatte. Dieser saß im Salon, stützte die wohlgepflegten Hände, die nach Kölnischwasser dufteten, auf den goldnen Knopf seines Spazierstocks und sang mit schöner Stimme:
»O kleine Mulattin von Bahia,
Geboren in Capujá …«
Und die Damen, die um ihn herumsaßen, gerieten in Ekstase und lachten selig …
Ein Jahr bevor Amaro das Seminar bezog, schickte ihn sein Onkel zu einem Lehrer, damit er sich im Lateinischen festigte. Nun brauchte er auch nicht mehr hinterm Ladentisch zu stehen. Zum ersten Mal in seinem Dasein erfreute sich der Knabe einer gewissen Freiheit. Er ging allein zur Schule und flanierte durch die Straßen. Dabei sah er die Stadt und das Exerzieren der Infanterie, lungerte spähend an den Türen der Cafés herum, las die Plakate der Theater. Vor allem begannen die Frauen sein Interesse zu erregen, und ihr Anblick erfüllte ihn mit tiefer Melancholie. Seine dunkle Stunde kam beim Einbruch der Dämmerung, wenn er aus der Schule heimkehrte oder wenn er des Sonntags mit dem Verkäufer im Park von Estrela spazierengegangen war. Sein Zimmer lag im Dachgeschoß; es war eine elende Mansarde. Aus dem winzigen Fensterchen lehnte er sich hinaus und schaute auf einen Teil der Stadt, die nach und nach im Schein der Gaslampen zu leuchten begann. Und ihm war, als stiege aus ihr ein geheimnisvolles Raunen zu ihm empor: es war das Leben, das er nicht kannte, das Leben, das er sich wunderbar dachte, mit luxusfunkelnden Cafés und Frauen, die die Theaterfoyers mit dem Frou-frou ihrer Seidenroben erfüllten. Er verlor sich in verschwommenen Vorstellungen, und plötzlich erschienen ihm am nächtlichen Himmel weibliche Formen, hier eine, da eine: ein Bein mit Atlasschuh und schneeweißem Strumpf oder ein rundlicher Arm, der bis zur Schulter entblößt war … Aber unten in der Küche fing das Hausmädchen an, das Geschirr zu waschen, und sang dazu. Es war ein sehr dickes, sommersprossiges Weibsstück. Und da kam ihm der Wunsch, hinunterzugehen, sich an sie zu schmiegen oder ihr aus einer Ecke zuzusehen, wie sie die Teller spülte. Er dachte an andere Mädchen, die er in kleinen Gäßchen gesehen hatte – barhäuptige Dirnen mit gestärkten, raschelnden Röcken und schiefgetretenen Absätzen; und aus der Tiefe seines Wesens stieg etwas in ihm empor wie Erschlaffung, wie die Lust, jemanden zu umarmen … Nur nicht allein sein! Er war unglücklich und dachte an Selbstmord. Aber da schrie der Onkel herauf: »Arbeitest du auch, Tagedieb?«
Und bald darauf saß er schlaftrunken über seinen Titus Livius gebeugt, rieb die Knie aneinander und wälzte das lateinische Wörterbuch.
Zu jener Zeit begann er sich von der Idee, Priester zu werden, etwas zu entfernen: denn dann könnte er ja nicht heiraten. Gewisse Vertraulichkeiten im Schulleben hatten in seiner effeminierten Natur bereits allerlei Gelüste geweckt, hatten sein moralisches Empfinden angefressen. Insgeheim rauchte er Zigaretten, er magerte ab, und seine Gesichtsfarbe wurde bleicher und bleicher.
Amaro trat ins Seminar ein. In den ersten Tagen flößten ihm die langen Korridore mit den etwas feuchten Steinwänden, die trübseligen Lämpchen, die engen Zimmer mit ihren vergitterten Fenstern und die schwarzen Soutanen Furcht ein und stimmten ihn traurig. Und dann das vorgeschriebene Schweigen, das Läuten der kleinen Glocken … schrecklich! Aber bald fand er Freundschaft; sein hübsches Gesicht gefiel. Man fing an, ihn zu duzen, und ließ ihn während der Pausen und bei den Sonntagsspaziergängen an der Unterhaltung teilnehmen. Da wurden Anekdoten über die Lehrer erzählt, der Rektor schlechtgemacht und über den Stumpfsinn des abgeschlossenen Lebens geschimpft. Fast alle sprachen mit Sehnsucht von der Ungebundenheit, die sie hatten aufgeben müssen. Die vom Lande kamen, konnten nicht ihre sonnigen Tennen, die Maisernten mit ihren Liedern und Umarmungen, die Herden der im Abendnebel heimkehrenden Rinder vergessen. Die aus kleinen Provinzstädten stammten, vermißten ihre winkligen, ruhigen Gäßchen, wo man mit den Nachbarmädchen flirtete, die lustigen Markttage und die großen Abenteuer der Zeit des Lateinstudiums. Ihnen war hier alles zu eng: der gepflasterte Schulhof mit seinen kümmerlichen Bäumen, den hohen, schläfrigen Mauern, dem eintönigen Ballspiel. Sie erstickten in der Enge der Korridore, im Saal des heiligen Ignatius, wo die Morgenandachten abgehalten und abends Schularbeiten gemacht wurden. Sie beneideten alle freien Menschen, selbst die niedrigsten, wie den Maultiertreiber, den sie auf der Straße peitschenknallend vorbeiziehen sahen, den Fuhrmann, der zum schrillen Knarren seines Wagens trällerte – ja, sogar die unsteten Bettler, die, auf ihren Knotenstock gestützt, den schwarzen Rucksack schleppten.
Von einem Korridorfenster aus konnte man eine Straßenbiegung sehen. Gegen Abend pflegte dort eine Postkutsche zu passieren. Die Peitsche knallte, und unter dem Trott dreier beladener Stuten wirbelte der Staub auf, frohe Reisende mit Decken auf den Knien bliesen Zigarrenrauch in die Luft. Wie viele Sehnsüchte nach der Frische der Morgenfrühe, nach der Klarheit des ländlichen Sternenhimmels begleiteten sie nach den fröhlichen Marktflecken und Städtchen!
Und wenn im Speisesaal die magere Gemüsesuppe geschlürft wurde, wobei der Vorsteher mit rauher, eintöniger Stimme Briefe irgendeines chinesischen Missionars oder die Hirtenbriefe des Herrn Bischofs vorzulesen begann … welche Sehnsucht nach den Mahlzeiten im trauten Familienkreise! Die guten Fischkoteletts! Das Schweineschlachten! Der brutzelnde Speck in der Pfanne! Das duftende Schwarzsauer!
Amaro allerdings hatte nicht viel liebe Dinge aufgegeben: er kam ja aus der brutalen Behandlung des Onkels, von der widerwärtigen Tante mit dem gepuderten Gesicht. Und doch beschlich ihn manchmal ganz leise die Sehnsucht nach seinen Sonntagsspaziergängen, nach den gasbeleuchteten Straßen der Stadt, nach den Abendstunden, da er mit seinen Büchern aus der Schule kam und vor den Schaufenstern stehenblieb, um sich an der Nacktheit der Puppen zu weiden.
Ganz allmählich jedoch, wie ein geduldiges Lamm, fügte er sich infolge seiner wenig charakterfesten Persönlichkeit in die Regel des Seminarlebens. Gewissenhaft lernte er seine Leitfäden auswendig; auch war er so klug, seinen geistlichen Verpflichtungen mit größter Pünktlichkeit nachzukommen, und da er den Mund hielt und schüchtern war, sich überdies immer sehr tief vor seinen Lehrern verbeugte, erhielt er gute Zensuren.
Niemals konnte er die Kameraden begreifen, denen das Seminar Glück und Zufriedenheit zu geben schien, die sich die Knie wundlagen und gesenkten Hauptes Texte aus der »Nachfolge Christi« »Nachfolge Christi« – Viel umstrittenes Erbauungsbuch des deutschen Mystikers Thomas Hemerken von Kempen, genannt Thomas a Kempis (1379-1471). oder aus dem heiligen Ignatius hermurmelten. In der Kapelle verdrehten sie die Augen und wurden blaß vor Verzückung; sogar in den Erholungspausen oder auf den Spaziergängen lasen sie irgendein Bändchen des »Marienlobes«; selbst die unscheinbarsten Vorschriften erfüllten sie mit Entzücken; ja, wenn sie die Treppen hinaufstiegen, nahmen sie immer nur eine Stufe auf einmal, wie es der heilige Bonaventura empfiehlt. Diesen Schülern gab das Seminar schon einen Vorgeschmack des Himmels. Amaro aber empfand in ihm nur die Demütigungen eines Kerkers im Verein mit der Langenweile der Schule.
Ebensowenig verstand er die Ehrgeizigen – diejenigen, welche Schleppenträger eines Bischofs sein und ihm in den hohen Sälen der Bischofspaläste die Portieren aufmachen wollten oder die nach ihrer Weihe in den Städten zu leben wünschten, einer aristokratischen Kirche dienen und mit sonorer Stimme vor reichen Betschwestern, die sich in knisternden Seidenroben auf dem Teppich vor dem Hochaltar drängten, singen wollten. Andere wieder träumten sogar von einer hohen Bestimmung außerhalb der Kirche: ihr Ehrgeiz war, Soldat zu werden und säbelrasselnd durch die Straßen zu stolzieren; oder sie sahen sich im Geiste als reiche Landwirte, die vom frühen Morgen an hoch zu Roß und mit niedergekremptem Hut durch die Wiesen trabten, auf den garbenstrotzenden Tennen Befehle gaben und vor den Toren ihrer Kellereien abstiegen … Aber alle, außer ein paar ganz Frommen, ob sie nun das Priesteramt im Auge hatten oder von weltlichen Berufen träumten, hätten gern die Enge des Seminars verlassen, um gut zu essen, Geld zu verdienen und die Frauen kennenzulernen.
Amaro wünschte nichts.
»Ich weiß nicht …«, sagte er melancholisch.
Wenn er jedoch aus Sympathie den Kameraden zugehört hatte, für die das Seminarleben eine »Galeerenstrafe« bedeutete, war er oft durch diese Gespräche, aus denen der ungeduldige Drang nach einem freien Leben loderte, in tiefster Seele aufgewühlt. Manchmal redeten sie von Davonlaufen. Sie schmiedeten Pläne, schätzten die Höhe der Fenster ab, erwogen die Möglichkeiten einer nächtlichen Flucht auf dunklen Wegen, sahen sich bereits vor Schenkentischen, wo sie zechten, sahen Billardsäle und … warme, heimliche Alkoven mit Mädchen.
Amaro wurde davon nervös: er wälzte sich in der Nacht schlaflos auf seiner Matratze, und tief in seiner Phantasie und in seinen Träumen brannte wie eine stumme, heimliche Glut der Wunsch nach einem Weib.
In seiner Zelle hing das Bild der sternengekrönten Jungfrau. Sie stand, den Blick durch das Ewige Licht verwirrt, auf dem Erdball und zertrat mit dem Fuß die Schlange. Amaro wandte sich wie hilfeflehend ihr zu und betete das Salve Regina. Aber während sein Auge an der Lithographie hing, vergaß er die Heiligkeit der Jungfrau, sah er in ihr nur ein schönes blondes Mädchen und liebte es. Er seufzte, und beim Auskleiden schielte er lüstern nach ihr. Und im Geiste wagte er es, die keuschen Falten der blauen Tunika zu heben und sich darunter runde, schwellende Formen und weiße Haut vorzustellen … Da meinte er, die Augen des Versuchers in der Dunkelheit des Zimmers leuchten zu sehen, und besprengte das Bett mit Weihwasser. Aber er fand nicht den Mut, diese Delirien am Sonntag im Beichtstuhl zu gestehen.
Wie oft hatte der Morallehrer mit heiserer Stimme von der Sünde gesprochen! Er verglich sie mit der Schlange, und indem er mit salbungsvollen Worten und großen Gesten langsam den süßlichen Schwulst seiner Perioden dahinrauschen ließ, riet er den Seminaristen, der Jungfrau nachzueifern und die unheilvolle Schlange mit den Füßen zu zertreten! Und dann war es der Lehrer der mystischen Theologie, der tabakschnupfend von der Pflicht sprach, die Natur zu besiegen! Er zitierte den heiligen Johannes von Damaskus, den heiligen Chrysologus, den heiligen Cyprianus und den heiligen Hieronymus und erklärte die Flüche der Heiligen gegen das Weib, das er, Ausdrücke der Kirche gebrauchend, als Schlange, Pfeil, Tochter der Lüge, Höllenpforte, Sündenhaupt oder Skorpion bezeichnete …
»Und wie hat unser Vater, der heilige Hieronymus, gesagt?« fuhr er fort, indem er sich geräuschvoll schneuzte. »Er hat sie den Weg des Frevels, iniquitatis via, genannt.«
Sogar in den Lehrbüchern fand er oft das Weib als Gegenstand ernster Erörterungen! Was für ein Wesen war das nur, das durch die ganze Theologie hindurch bald als Königin der Gnade auf den Altar erhoben, bald mit den wüstesten Ausdrücken verflucht wurde? Welches war ihre Macht, daß die Heerscharen der Heiligen in ekstatischer Leidenschaft ihr entgegenflogen und ihr jauchzend die Himmelsherrschaft zusprachen, während sie andererseits mit Heulen und Zähneklappern vor ihr flohen wie vor dem Erzfeind und sich in Einöden und Klöstern verbargen, um dort an der Sünde, sie geliebt zu haben, zu sterben? All dies bewegte ihn, aber er konnte keine Erklärung finden. Immer wieder peinigten ihn Ängste und Zweifel, so daß er sein moralisches Gleichgewicht verlor. Und schon ehe er seinen Priesterschwur ablegte, spielte er feige mit dem Gedanken, ihn zu brechen.
Wohin Amaro im Seminar blickte, überall stieß sein Blick auf ähnliche Empörung der Natur; die Studien, das Fasten, die Bußübungen konnten wohl das Fleisch zähmen, ihm mechanische Gewohnheiten verleihen, aber tief im Innern wimmelten still und geräuschlos, wie ein Nest ungestörter Schlangen, die Begierden. Am meisten litten die Sanguiniker, die in den schmerzhaften Druck der Regeln hineingezwängt waren wie ihre derben Handgelenke in die Manschetten. So gab es, wenn sie unter sich waren, heftige Ausbrüche; sie balgten sich, verübten Gewaltstreiche, zettelten Meutereien an. Bei den temperamentlosen Kameraden bewirkte die Vergewaltigung der Natur tiefe Trauer und melancholische Schweigsamkeit. Sie suchten dann Trost in kleinen Lastern: holten ein altes Kartenspiel hervor, lasen einen Roman, verschafften sich durch umständliche Kniffe ein Päckchen Zigaretten und kosteten so das süße Gefühl des Verbotenen, der Sünde!
Schließlich beneidete Amaro die wissenschaftlichen Streber. Diese waren wenigstens zufrieden; sie studierten unablässig, kritzelten unentwegt im Schweigen des hohen Bibliothekssaales, waren allgemein geachtet, trugen Brillen und schnupften Tabak. Er selbst hatte manchmal plötzliche wissenschaftliche Anwandlungen; aber wenn er dann vor den dickleibigen Folianten saß, würgte ihn ein unüberwindlicher Ekel. Indessen war er fromm: er betete, glaubte unbedingt an gewisse Heilige, hatte eine schreckliche Angst vor Gott. Aber er haßte das Gefangensein im Seminar! Die Kapelle, die Trauerweiden des Schulhofes, die eintönigen Mahlzeiten in dem langen, mit Steinfliesen belegten Speisesaal, der Geruch der Korridore, dies alles machte ihn elend und erbittert. Er glaubte, er könnte gut, rein, gläubig sein, wenn er nur aus diesen düstern Mauern heraus wäre, wenn er die Freiheit der Straße oder den Frieden eines Gartens genießen könnte. So magerte er ab und schwitzte in krankhafter Weise. Und im letzten Jahr, nach dem schweren Dienst der Karwoche, wo es schon wärmer wurde, mußte er sogar wegen eines Nervenfiebers im Krankensaal liegen.
Endlich, es war während der drei Fasttage des heiligen Matthäus, wurde er zum Priester geweiht. Kurze Zeit darauf – er hatte das Seminar noch nicht verlassen – erhielt er folgenden Brief des Paters Liset:
»Mein lieber Sohn und junger Kollege! Nachdem Sie nun ordiniert sind, halte ich es für meine Pflicht, Ihnen über den Stand Ihrer Verhältnisse Rechenschaft abzulegen. Ich möchte den ehrenvollen Auftrag, den unsere vielbeweinte Marquise auf meine schwachen Schultern gelegt hat, indem sie mir die Verwaltung Ihres Legates übertrug, bis zum letzten Buchstaben erfüllen. Denn wenn schon irdische Güter für eine dem Priesterstand geweihte Seele wenig bedeuten, ist ein klarer Rechnungsbericht zur Erhaltung der Freundschaft dennoch notwendig. So sollen Sie denn wissen, mein lieber Sohn, daß das Legat unserer lieben Freundin, der Sie in Ihrem Herzen zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet sind, vollständig aufgezehrt ist. Bei dieser Gelegenheit muß ich Ihnen noch mitteilen, daß Ihre Tante, nachdem Ihr Onkel gestorben war und sie das Geschäft aufgelöst hatte, Wege eingeschlagen hat, die näher zu bezeichnen der Respekt mir verbietet. Sie unterlag der Herrschaft schlimmer Leidenschaften, ging eine illegitime Verbindung ein und verlor Vermögen und Ehre. Heute hat sie eine Pension in der Rua dos Calafates Nr. 53 eröffnet. Wenn ich überhaupt an diese unsauberen Dinge rühre, die eigentlich zu häßlich sind, als daß ein angehender Diener am Heiligtum wie mein geliebter Sohn sie erfahren dürfte, so geschieht es nur, um Sie restlos über Ihre ehrbare Familie aufzuklären. Ihre Schwester hat sich, wie Sie sicher wissen, in Coimbra reich verheiratet, und obwohl es nicht das Gold ist, das wir in der Ehe schätzen sollen, dürfte es doch vielleicht gegebenenfalls von Wichtigkeit sein, daß mein geliebter Sohn von dieser Tatsache Kenntnis hat. Wie mir unser lieber Rektor schrieb, besteht Aussicht, daß Sie nach der Kirchgemeinde Feirão in der Gralheira geschickt werden. Ich werde darüber mit einigen einflußreichen Persönlichkeiten sprechen, die so gütig sind, einen armen Priester ihrer Freundschaft zu würdigen, der nichts als Gottes Barmherzigkeit erfleht. Immerhin hoffe ich Erfolg zu haben. Fahren Sie fort, lieber Sohn, auf dem Pfade der Tugend zu wandeln, von der, wie ich weiß, Ihre gute Seele erfüllt ist. Und glauben Sie, daß wir in unserem heiligen Amte die Glückseligkeit finden, wenn wir verstehen lernen, wieviel Balsam es in unseren Busen gießt und wieviel Erquickung der Dienst des Herrn spendet! Leben Sie wohl, mein geliebter Sohn und junger Kollege! Seien Sie überzeugt, daß meine Gedanken immer bei dem Schützling unserer vielbeweinten Marquise weilen und daß diese vom Himmel aus, in den ihre Tugenden sie erhoben haben, die Heilige Jungfrau, der sie in Liebe diente, um Glück und Segen für ihren lieben Pflegesohn anfleht.
Liset
PS: Der Gatte Ihrer Schwester heißt Trigoso.
Liset«
Zwei Monate später wurde Amaro zum Pfarrer von Feirão in der Gralheira, im Gebirge der Beira Alta, ernannt. Er wirkte dort vom Oktober bis zum Ende der Schneeschmelze.
Feirão ist eine arme Hirtengemeinde und um jene Jahreszeit fast unbewohnt. Amaro verbrachte eine sehr faule Zeit und langweilte sich, während er dem Brüllen der Winterstürme draußen im Gebirge lauschte. Im Frühjahr wurden in den Distrikten Santarém und Leiria volkreiche Kirchspiele mit guter Besoldung frei. Amaro schrieb sogleich an seine Schwester und erzählte ihr von seiner Armut in Feirão. Sie schickte ihm mit Ermahnungen zur Sparsamkeit zwölf Goldstücke, damit er sich in Lissabon bewerben könnte. Amaro reiste unverzüglich. Die reine und strenge Luft des Gebirges hatte ihm das Blut gestählt; er war stark, straff, ansehnlich, ja hübsch geworden und hatte einen gesunden, bräunlichen Teint bekommen.
In Lissabon angekommen, ging er sogleich nach der Rua dos Calafates Nr. 53 zu seiner Tante. Er fand sie alt; ihr Gesicht war über und über gepudert, und ihren riesigen Chignon zierten knallrote Schleifen. Sie war eine Betschwester geworden, und als Amaro erschien, streckte sie ihm mit frommer Freude ihre mageren Arme entgegen.
»Wie hübsch du bist! Wer hätte das gedacht, wenn man dich früher sah! Jesus, welche Veränderung!«
Sie bewunderte an ihm Soutane und Tonsur, erzählte ihm von ihren Schicksalsschlägen, von der Rettung ihrer Seele und den unerschwinglichen Preisen der Lebensmittel. Dann führte sie ihn in ein im dritten Stock gelegenes Zimmer, das auf den Hinterhof hinausging.
»Hier wohnst du wie ein Abt«, plauderte sie. »Es ist sehr billig! Wie gern würde ich es dir umsonst lassen, aber … Ach, ich habe viel Unglück gehabt, João! … O entschuldige … Amaro! Ich habe immer noch João im Kopf …«
Amaro suchte gleich am folgenden Tag den Pater Liset in der Ludwigsparochie auf. Aber der war nach Nantes gereist. Da erinnerte er sich der jüngeren Tochter der Marquise de Alegros, der Dona Joana, die mit einem Staatsrat, dem Grafen von Ribamar, verheiratet war. Dieser besaß großen Einfluß; er gehörte seit 1851 der konservativen Partei an und war einige Male Staatsminister gewesen.
Auf den Rat seiner Tante begab sich Amaro sofort nach Einreichung seines Bewerbungsgesuches zur Gräfin von Ribamar, die im Stadtteil Buenos Aires wohnte. An der Tür wartete ein Coupé.
»Die Frau Gräfin will eben ausfahren«, sagte ein Diener, der eine Alpakajacke und eine weiße Halsbinde trug und zigarrenrauchend am Toreingang lehnte.
In diesem Augenblick öffnete sich im Hintergrund des mit Fliesen belegten Hofes eine grün tapezierte Flügeltür, und auf einer steinernen Stufe erschien eine Dame in Weiß. Sie war groß, mager, blond, und kleine Löckchen hingen ihr in die Stirn. Auf ihrer langen, spitzen Nase saß ein goldener Klemmer, und um ihr Kinn lag ein Hauch heller Härchen.
»Die Frau Gräfin kennt mich wohl nicht mehr?« sagte Amaro und näherte sich ihr, den Hut in der Hand, mit einer Verbeugung. »Ich bin Amaro …«
»Amaro?« sagte sie, als besänne sie sich nicht gleich. »Ah, guter Jesus – natürlich ist er's! Sollte man's glauben? Und ein Mann ist er! Wer hätte das gedacht!«
Amaro lächelte.
»Ich hätte es eigentlich erwarten können«, fuhr sie, noch immer verwundert, fort. »Und Sie sind jetzt in Lissabon?«
Amaro erzählte ihr von seiner Berufung nach Feirão, von der Armseligkeit der Pfarrstelle …
»So bin ich denn gekommen, um mich zu bewerben, Frau Gräfin.«
Sie hörte ihm zu, die Hände auf einen hohen Sonnenschirm aus heller Seide gestützt, und Amaro fühlte, wie von ihr Puderduft und der Geruch frischen Batists ausströmte.
»Lassen Sie's nur gut sein!« sagte sie. »Haben Sie keine Bange! Mein Gatte muß sich ins Mittel legen; ich werde mich der Sache annehmen. Sie kommen also noch einmal her.« Und indem sie einen Finger an den Mundwinkel preßte, fuhr sie fort: »Warten Sie mal … morgen fahre ich nach Sintra. Sonntag? Nein. Das beste wird sein, Sie kommen heute in vierzehn Tagen. Heute in vierzehn Tagen paßt es bestimmt!« Dann lachte sie und zeigte ihre großen weißen Zähne. »Ist mir doch, als sähe ich Sie noch, wie Sie mit Schwester Luísa Chateaubriand übersetzten! Wie die Zeit vergeht!«
»Geht es Ihrer Frau Schwester gut?« fragte Amaro.
»Gewiß; sie lebt in einer Villa in Santarém.«
Sie reichte ihm die Hand, über die sie einen schwedischen Glacéhandschuh gezogen hatte. Ein nervöses kurzes Händeschütteln, das ihre goldenen Armbänder klirren ließ, und dann sprang die schlanke, leichte Gestalt gewandt ins Coupé, wobei weiße Dessous aufblitzten.
Amaro wartete also. Es war im Juli und sehr heiß. Des Morgens ging er in São Domingos zur Messe, und tagsüber faulenzte er in seiner Nankingjacke pantoffelschlürfend zu Hause herum. Manchmal ging er ins Speisezimmer, um mit seiner Tante zu plaudern. Die Fenstervorhänge waren zugezogen; im Halbdunkel summten die Fliegen; in einer Ecke des Rohrsofas häkelte die Tante, den Klemmer auf der Nasenspitze; Amaro blätterte gähnend in einem alten Band des »Panoramas«.
In der Abenddämmerung ging er aus, um ein wenig auf dem Rossio zu promenieren. Es war zum Ersticken in der regungslosen, lastenden Luft. An allen Straßenecken bot man frisches Wasser an. Auf den Bänken unter den Bäumen schliefen zerlumpte Vagabunden; um den Platz herum rollten träge, aber unaufhörlich, leere Mietdroschken; der Lichterglanz der Cafés strahlte, und erhitzte Menschen irrten planlos, faul gähnend auf den Bürgersteigen der Straßen.
Amaro kehrte dann heim und öffnete das Fenster. Er streckte sich in Hemdsärmeln und Strümpfen auf dem Bett aus, rauchte Zigaretten und malte Zukunftsbilder. Immer wieder fielen ihm, und sein Herz klopfte froh dabei, die Worte der Gräfin ein: »Mein Gatte muß sich ins Mittel legen!« Und er sah sich schon als Pfarrer in einer hübschen Stadt, in einem Hause, dessen Garten von Kohl und frischem Salat strotzte. Er sah sich in behaglichen Verhältnissen, eine Respektsperson, der fromme reiche Damen Schüsseln mit süßem Naschwerk schickten.
Er lebte damals in einer recht geruhsamen geistigen Verfassung. Die Aufgeregtheit, die sich im Seminar infolge der Enthaltsamkeit seiner bemächtigt hatte, legte sich. Denn er fand Befriedigung beim Anblick einer dicken Hirtin in Feirão. Es gefiel ihm, wenn er sie des Sonntags zur Messe läuten sah. Sie hängte sich dabei an das Seil der Glocke, drehte sich in ihren groben wollenen Röcken, und ihr Gesicht war rot zum Platzen. Jetzt entledigte er sich heiter der Gebetspflichten, die das Ritual vorschrieb; sein Fleisch war zufrieden und ruhig; nur noch eins schwebte ihm vor: sich irgendwo in genießerischer Behaglichkeit niederzulassen.
Nach Verlauf von vierzehn Tagen ging er zur Gräfin.
»Sie ist nicht da«, sagte ihm ein Stallbursche.
Am nächsten Tage kam er, ein wenig unruhig, wieder. Die grünen Flügeltüren standen offen. Amaro stieg langsam die Treppe hinauf und schritt sehr beklommen auf dem großen roten Läufer dahin, der mit Metallstäben befestigt war. Das hohe Oberlicht ließ eine milde Helle hereinströmen. Auf dem oberen Treppenabsatz stand eine scharlachrote Lederbank, auf welcher, den Rücken an die weißlackierte Wand gelehnt, ein Diener saß. Er ließ den Kopf auf die Brust hängen und schlief offenen Mundes. Es war sehr heiß; diese feierliche, aristokratische Stille beängstigte Amaro, der, den Sonnenschirm am kleinen Finger, einen Augenblick zögernd stehenblieb. Er hüstelte, um den Lakai, der ihm mit seinem schönen schwarzen Backenbart und der prächtigen goldenen Halskette Furcht einflößte, zu wecken. Und er wollte schon wieder hinabsteigen, als er hinter einer Portiere ein derbes, schallendes Männerlachen hörte. Er stäubte mit dem Taschentuch die Schuhe ab, zog die Manschetten heraus und trat puterrot in einen großen, mit gelbem Damast tapezierten Saal. Blendendes Licht flutete aus den offenen Veranden herein, und draußen im Garten sah man Baumgruppen. Mitten im Saal standen drei Herren und plauderten.
»Ich weiß nicht, ob ich störe …«
Ein hochgewachsener Herr mit grauem Schnurrbart und goldener Brille wandte sich überrascht um. Er hatte die Hände in den Taschen und eine Zigarette im Mundwinkel.
»Ich bin Amaro …«
»Ah«, sagte der Graf, »Pater Amaro! Mir wohlbekannt! – Haben Sie die Güte … Meine Frau hat mir erzählt … Haben Sie die Güte …« Mit diesen Worten wandte er sich an einen kleinen, korpulenten Herrn, der fast gänzlich kahl war und kurze Beinkleider trug. »Es ist die Persönlichkeit, von der ich Ihnen sprach.« Und dann zu Amaro: »Der Herr Minister.«
Amaro machte eine devote Verbeugung.
»Pater Amaro«, erklärte der Graf von Ribamar, »wurde von Kind auf im Hause meiner Schwiegermutter erzogen. Er wurde dort geboren, glaube ich …«
»Gewiß, gewiß, Herr Graf«, bestätigte Amaro, der, seinen Sonnenschirm in der Hand, nicht näher zu treten wagte.
»Meine Schwiegermutter, die sehr fromm und eine vollendete Dame war – es gibt keine solche mehr! –, ließ ihn Priester werden. Er bekam ein Legat, glaube ich … Kurz und gut, hier haben wir ihn als Pfarrer … Wo, Herr Pater?«
»In Feirão, Euer Exzellenz.«
»In Feirão?« sagte der Minister, dem der Name fremd klang.
»Im Gebirge der Gralheira«, erklärte sofort der Herr an seiner Seite, ein hagerer Mann, der in einen blauen Rock gezwängt war. Er hatte eine sehr weiße Haut, tintenschwarze Bartkoteletten und wunderbares Haar, das vor Pomade glänzte und bis zum Nacken tadellos gescheitelt war.
»Kurz«, faßte der Graf zusammen, »ein gräßliches Nest! Im Gebirge … arme Leute … keine Zerstreuung … schreckliches Klima …«
»Ich habe schon meine Bewerbung eingereicht, Euer Exzellenz«, wagte Amaro schüchtern einzuwerfen.
»Gut, gut«, nickte der Minister. »Das läßt sich schon einrichten.« Und er kaute an seiner Zigarre.
»Es ist nur recht und billig«, sagte der Graf. »Ja, mehr noch: es ist notwendig! Die jungen und tatkräftigsten Männer gehören in die schwierigen Parochien, in die Städte … Das ist doch klar! Aber wie steht's in Wirklichkeit? Sehen Sie, da unten neben meiner Villa in Alcobaça wirkt ein alter gichtkranker Kerl, ein ehemaliger Theologieprofessor, ein Schafskopf! So wird der Glaube ruiniert.«
»Schon wahr«, sagte der Minister gedehnt, »aber diese guten Pfarrstellen sollen natürlich Belohnungen für gute Dienste sein. Der Ansporn ist nötig …«
»Ganz sicher«, erwiderte der Graf, »aber religiöse Dienste, Berufsleistungen, Verdienste der Kirche, nicht den Regierungen gegenüber.«
Der Herr mit den prachtvollen schwarzen Koteletten machte eine Geste der Abwehr.
»Meinen Sie nicht auch?« fragte der Graf.
»Ich respektiere die Meinung Euer Exzellenz durchaus, aber wenn Sie mir gütigst erlauben … Ich behaupte allerdings, daß die Geistlichen in der Stadt uns in Wahlkrisen von großem Nutzen sind – von sehr großem Nutzen sogar!«
»Ja doch, aber …«
»Gestatten Euer Exzellenz«, fuhr er redeeifrig fort. »Wollen Euer Exzellenz zum Beispiel bloß den Fall der Stadt Tomar ins Auge fassen. Warum sind wir dort unterlegen? Infolge der Haltung der Geistlichen. Nur deshalb!«
Der Graf fiel sofort ein: »Aber bitte sehr, so soll es doch nicht sein! Die Religion, der Klerus sind doch keine Wahlagenten.«
»Pardon …«, unterbrach ihn der andere.
Der Graf schnitt ihm mit einer energischen Handbewegung das Wort ab, und ernst, jedes Wort betonend, sagte er mit jener Autorität, die auf umfassendem Verständnis beruht: »Die Religion kann, ja muß die Regierung stützen helfen, indem sie gewissermaßen als Zügel oder als Bremse dient …«
»Ganz recht, ganz recht!« murmelte schleppend der Minister und spuckte dabei kleine Tabakfetzen aus.
»Aber sich zu Intrigen hergeben«, fuhr der Graf langsam fort, »Verwirrung stiften … Verzeihen Sie mir, mein lieber Freund: das schickt sich nicht für einen Christen!«
»Aber ich bin doch christlich gesinnt, Herr Graf!« ereiferte sich der Mann mit den prachtvollen Koteletten. »Ich bin es sogar außerordentlich! Aber ich bin auch liberal. Und ich bin der Meinung, daß die repräsentative Regierung … natürlich mit den solidesten Garantien …«
»Nun«, unterbrach ihn der Graf, »wissen Sie, was das zur Folge hat? Es würdigt den Klerus herab und würdigt die Politik herab.«
»Ja aber … sind nun die Majoritäten ein geheiligtes Prinzip oder sind sie es nicht?« schrie mit hochrotem Kopf der Kotelettenträger und betonte das Adjektiv.
»Sie sind ein zu respektierendes Prinzip.«
»Na also, Exzellenz! Bravo, bravo!«
Der Pater Amaro lauschte, ohne sich zu rühren.
»Meine Frau wird Sie wohl sehen wollen«, redete der Graf ihn an. Indem er auf eine Portiere zuschritt und sie hob, sagte er: »Treten Sie ein, bitte. – Pater Amaro ist hier, Joana.«
Amaro befand sich jetzt in einem Salon, der mit einem seidenartigen weißen Stoff tapeziert und mit hellen Kaschmirmöbeln ausgestattet war. Vor den Fenstern fielen milchfarbene Damastvorhänge in schweren Falten herab, die erst ziemlich am Fußboden durch Seidenschleifen zusammengerafft wurden. In den Fensternischen erhob feines, blütenloses Strauchwerk seine zarten Ästchen aus weißen Blumentöpfen. Das kühle, gedämpfte Licht verlieh dem im Zimmer vorherrschenden Weiß die feinen Nuancen, die man an duftigen weißen Wölkchen bewundert. Auf der Rückenlehne eines Stuhles stand ein Papagei auf einem Bein und kratzte sich mit dem andern träge seinen grünen Kopf. – Amaro verneigte sich verlegen gegen eine Ecke des Sofas, wo die Gräfin saß. Wieder fielen ihm die blonden Löckchen, die hauchartig ihre Stirn umgaben, und die goldenen Reifen ihres blitzenden Klemmers auf. Ein dicker, pausbäckiger junger Herr saß vor der Gräfin auf einem Schemel und war, die Ellenbogen auf die gespreizten Knie gestützt, damit beschäftigt, seinen Schildpattkneifer wie ein Pendel schwingen zu lassen. Die Gräfin hatte ein kleines Hündchen im Schoß sitzen und streichelte mit ihrer feinen, trockenen, reichgeäderten Hand sein weißes, wolliges Fell.
»Nun, wie geht's, Senhor Amaro?« Das Hündchen knurrte. »Ruhig, Jóia! Sie wissen, daß ich schon über Ihre Angelegenheit gesprochen habe. – Ruhig, Jóia! – Der Minister ist drüben.«
»Gewiß, gnädige Frau«, antwortete Amaro, der noch stand.
»Setzen Sie sich hierher, Herr Pater.«
Amaro setzte sich auf den Rand eines Fauteuils, den Sonnenschirm in der Hand, und erst jetzt erblickte er eine große Dame, die am Klavier stand und mit einem blonden jungen Herrn plauderte.
»Was haben Sie denn in diesen Tagen angefangen?« fragte die Gräfin. »Sagen Sie mal … Ihre Schwester?«
»Sie lebt in Coimbra, verheiratet.«
»Ah, verheiratet!« rief die Gräfin und ließ ihre Armringe kreisen.
Es gab ein Schweigen. Amaro fuhr sich verlegen mit den Fingern über die Lippen.
»Der Herr Pater Liset ist verreist?« fragte er.
»Er ist in Nantes. Seine Schwester liegt im Sterben. Er ist immer noch der alte: sehr liebenswürdig, sehr milde. Er ist die tugendhafteste Seele der Welt!«
»Ich ziehe mir den Pater Félix vor«, sagte der dicke junge Herr, indem er die Beine streckte.
»Das mußt du nicht sagen, Vetter. Gott, schreit der Mensch zum Himmel! Hingegen der Pater Liset … man muß ihn hochachten! Wie ganz anders, wie gütig drückt er sich aus! Man sieht sofort, daß er ein feinfühliges Herz hat …«
»Na ja, aber der Pater Félix …«
»Ach, hör auf! Daß der Pater Félix sehr tugendhaft ist, mag sein; aber der Pater Liset hat eine andere Religion … wie soll ich sagen?« Sie machte eine Geste, als suchte sie nach dem rechten Wort. »Eine feinere, distinguiertere Religion … Schließlich verkehrt er ja auch in anderen Kreisen.« Und indem sie Amaro anlächelte: »Finden Sie nicht auch?«
Amaro kannte den Pater Félix nicht, erinnerte sich auch nicht mehr an den Pater Liset.
»Der Pater Liset ist schon alt«, sagte er, nur um etwas zu sagen.
»Glauben Sie?« meinte die Gräfin. »Aber sehr gut erhalten! Und welche Lebhaftigkeit, welche Begeisterung! – Ach, das ist doch was ganz anderes!« Sie wandte sich an die Dame, die am Klavier stand. »Findest du nicht auch, Teresa?«
»Sofort«, antwortete Teresa, ganz in Gedanken versunken.
Amaro betrachtete sie jetzt genauer. Sie erschien ihm mit ihrer hohen kräftigen Gestalt, den schönen Schultern und dem herrlichen Busen wie eine Königin, wie eine Göttin. Sie erinnerte etwas an das majestätische Profil Marie-Antoinettes: dasselbe schwarze, ein wenig gewellte Haar hob sich scharf von der Blässe ihres Adlergesichts ab. Ihr schwarzes Kleid war kurzärmelig, am Halse eckig ausgeschnitten und endete in einer sehr langen, mit schwarzen Spitzen besetzten Schleppe. Es unterbrach wirkungsvoll das monotone Weiß des Salons. Hals und Arme waren von schwarzer Gaze zart verhüllt, ohne daß das schimmernde Weiß der Haut gänzlich ausgelöscht wurde. Man erriet in den Formen die Festigkeit antiken Marmors, vereint mit der Wärme heiß pulsierenden Blutes.
Sie sprach leise, lächelnd, in einer herben Sprache, die Amaro nicht verstand. Dabei öffnete und schloß sie spielend ihren schwarzen Fächer, und der blonde hübsche Bursche, der ein viereckiges Monokel im Auge trug, hörte ihr zu, während er seinen seidigen Schnurrbart drehte.
»Waren die Leute fromm in Ihrer Gemeinde, Senhor Amaro?« fragte die Gräfin.
»Es sind sehr, sehr gute Leute.«
»Ja, in den Dörfern findet man doch noch ein wenig gläubigen Sinn«, meinte sie mit frommem Tonfall. Sie bedauerte, in der Stadt leben zu müssen, in diesen Luxuskäfigen, und wünschte, immer in ihrem Landhaus in Carcavelos wohnen zu können. Und gerührt fügte sie hinzu: »Wie sehne ich mich danach, in der kleinen Kapelle zu beten und mit den guten Dorfseelen zu plaudern!«
»Nanu, Base«, lachte der dicke Jüngling, »was du nicht sagst!« Nein, wenn man ihn zwänge, in einer Dorfkapelle die Messe zu hören, würde er lieber seinen Glauben aufgeben! Er verstand zum Beispiel nicht, daß es Religion ohne Musik geben könne … Oder wäre ein Kirchenfest ohne eine schöne Altistin denkbar?
»Gewiß ist es so hübscher«, pflichtete Amaro bei.
»Das ist doch ganz klar. Und dann noch eins: es hat eine besondere Note, hat Stil! – Ach, Base, erinnern Sie sich jenes Tenors … wie hieß er doch gleich? Vidalti. Sie erinnern sich doch noch des Vidalti, er sang am Gründonnerstag in der Englischen Kirche das Tantum ergo Tantum ergo – Tantum ergo Sacramentum veneremur cernui ... = (lat.) Laßt uns tiefgebeugt verehren ein so großes Sakrament ... Hymnus, der kurz vor dem sakramentalen Segen gesungen wird.?«
»Mir hat er im ›Maskenball‹ besser gefallen«, sagte die Gräfin.
»Das möchte ich nicht sagen, Base!«
Unterdessen hatte sich der junge Blonde der Gräfin genähert und drückte ihr, lächelnd auf sie einredend, die Hand. Amaro bewunderte den Adel ihrer Gestalt und ihre sanften blauen Augen. Er bemerkte, daß ihr ein Handschuh entfallen war, und bückte sich dienstbeflissen. Als er wieder zurückgetreten war, beobachtete er Teresa. Sie ging langsam auf das Fenster zu, blickte flüchtig auf die Straße und ließ sich bequem in eine Causeuse fallen. Diese nachlässige Haltung ließ ihre prächtigen Formen erst recht zur Geltung kommen. Sie wandte sich träge nach dem dicken jungen Herrn um. »Gehen wir, João?«
Die Gräfin sagte zu ihr: »Weißt du, daß Pater Amaro mit mir in Benfica aufgewachsen ist?«
Amaro errötete: er fühlte, daß Teresa ihre schönen schwarzen Augen, die wie Atlas schimmerten, auf ihm ruhen ließ.
»Sind Sie noch in der Provinz?« fragte sie und gähnte dabei unmerklich.
»Ja, gnädige Frau, ich bin erst vor ein paar Tagen hierhergekommen.«
»In einem Dorfe?« fuhr sie fort, indem sie langsam ihren Fächer öffnete und schloß.
Amaro sah Brillanten an ihren schönen Fingern blitzen. Er rieb seinen Schirmgriff und antwortete: »Im Gebirge, gnädige Frau.«
»Stell dir das vor!« fiel die Gräfin ein. »Ist es nicht schrecklich? Es gibt dort immer Schnee. Er sagt, die Kirche habe kein Dach. Und lauter Hirten! Es ist ein Jammer! Ich habe schon den Minister gebeten. Er muß Wandel schaffen. Bitte du ihn auch …«
»Um was?« fragte Teresa.
Die Gräfin erzählte, daß sich Amaro um eine bessere Stelle beworben habe. Sie sprach von ihrer Mutter, wie lieb sie Amaro gehabt habe …
»Sie hätte sonst etwas für ihn getan!« Und zu Amaro gewandt: »Wissen Sie noch, welchen Namen sie Ihnen gab? Sie erinnern sich nicht?«
»Ich wüßte nicht, gnädige Frau.«
»Frater Malaria! Spaßig, was? Weil Senhor Amaro immer fieberte und immer in der Kapelle steckte …«
Aber Teresa ging darauf nicht ein, sondern sagte: »Weißt du, wem dieser Herr ähnelt?«
Die Gräfin faßte ihn ins Auge; der dicke junge Mann drückte sich den Klemmer auf die Nase.
»Hat er nicht Ähnlichkeit mit dem Pianisten, den wir voriges Jahr hörten?« fuhr Teresa fort. »Ich habe seinen Namen vergessen.«
»Ich weiß schon: mit dem Jalette«, nickte die Gräfin. »Ja, so ziemlich. Aber das Haar war anders.«
»Natürlich! Der andere hatte ja keine Tonsur!«
Amaro wurde puterrot. Teresa stand auf und ging mit rauschender Schleppe zum Klavier.
Als sie sich gesetzt hatte, fragte sie Amaro: »Sind Sie Musiker?«
»Man wird es im Seminar, gnädige Frau.«
Sie spielte präludierend einige tiefe, sonore Passagen; dann begann sie jene an Mozarts Menuett erinnernde Stelle aus »Rigoletto«, wo der Herzog in der Gesellschaftsszene des ersten Aktes um die Gräfin Cebrano wirbt. In dem klagenden Rhythmus dieser Musik zuckt auch schon der Schmerz sterbender Liebe, weint die Trauer letzter, verzweifelter Umarmungen.
Amaro war hingerissen. Der prunkvolle Saal mit seinem wolkigen Weiß, das leidenschaftliche Klavierspiel, der Hals Teresas, den er unter der transparenten Gaze schimmern sah, ihre göttlichen Haarflechten, die feierlichen Baumgruppen draußen im aristokratischen Park: all dies ließ ihn ahnen, daß es noch ein anderes, höheres Dasein gab, ein Dasein voller Romantik, das sich auf kostbaren Teppichen, in schwellend gepolsterten Coupés abspielte und dem Opernarien, feine Melancholie und köstliche Liebesstunden eine besondere Note verliehen. Wie er so in die weiche Causeuse versunken dasaß und die vornehme Musik schluchzen hörte, mußte er unwillkürlich an das Speisezimmer seiner Tante mit seinen Zwiebeldüften denken. Und er kam sich wie ein Bettler vor, der eine raffinierte Sahnenspeise kostet und erschrocken innehält, weil ihm einfällt, daß er ja zu harten Brotkrusten und auf die staubige Landstraße zurückkehren muß.
Währenddessen ging Teresa jäh zu einer ganz anderen Musik über und sang die alte englische Weise von Haydn, die so zart den Trennungsschmerz zum Ausdruck bringt:
»The village seems dead and asleep
When Lubin is away! …«
»Bravo, bravo!« rief der Justizminister, der in der Tür erschienen war, und klatschte leise in die Hände. »Sehr schön, sehr schön! Entzückend!«
»Ich möchte Sie um etwas bitten, Senhor Correia«, sagte Teresa, die sich gleich darauf erhob.
»Was ist es, gnädige Frau?« beeilte sich der Minister galant zu fragen.
Der Graf und der Herr mit den prächtigen Bartkoteletten waren, noch immer diskutierend, eingetreten.
»Joana und ich möchten Sie bitten, Herr Minister …«
»Ich habe ihn doch schon gebeten, sogar zweimal!« warf die Gräfin ein.
»Nun, meine sehr verehrten Damen«, sagte der Minister, setzte sich behaglich hin, streckte die Beine aus und machte ein vergnügtes Gesicht, »um was handelt es sich denn? Ist es ein schwerer Fall? Du lieber Gott, ich verspreche es, verspreche es feierlich …«
»Gut«, fiel Teresa ein und klopfte ihm mit ihrem Fächer auf den Arm. »Also … welches ist die beste freie Pfarrstelle?«
»Ah …!« machte der Minister. Er begriff sofort und sah zu Amaro hin, der sich errötend verneigte.
Der Kotelettenmann, der mit seinem Uhrgehänge spielte, spitzte die Ohren und trat eifrig vor, um Auskunft zu erteilen.
»Unter den freien Stellen befindet sich Leiria, die Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts und Sitz des Bischofs.«
»Leiria«, sagte Teresa gedehnt. »Ach ja, ich weiß … es gibt dort Ruinen, nicht wahr?«
»Ein Kastell, gnädige Frau, das vom König Diniz König Diniz – Diniz I. (1261-1325), König von Portugal von 1279-1325. erbaut wurde!«
»Leiria ist herrlich!«
»Aber Verzeihung, Verzeihung!« sagte der Minister. »Leiria ist ein Bischofssitz, eine größere Stadt … und … und Pater Amaro ist doch noch ein ganz junger Geistlicher! …«
»Nun, Senhor Correia«, rief Teresa, »sind Sie nicht auch noch jung?«
Der Minister lächelte und verneigte sich.
»Sag du doch etwas«, redete die Gräfin auf ihren Mann ein, der zärtlich den Kopf des Papageien kitzelte.
»Ich glaube kaum, daß das noch nötig ist«, lächelte der Graf. »Der arme Correia ist schon besiegt: Base Teresa hat ihn ja jung genannt.«
»Aber ich muß schon bitten«, wandte der Minister ein. »Was Dona Teresa sagt, ist doch keine übermäßige Schmeichelei: ich bin auch noch gar nicht so alt …«
»O Unglücklicher!« rief der Graf. »Erinnere dich doch daran, daß du schon im Jahre 1820 Verschwörungen angezettelt hast!«
»Das war mein Vater, Verleumder, das war mein Vater!«
Alle lachten, und Teresa sagte: »Es ist also ausgemacht – Pater Amaro geht nach Leiria!«
»Nun gut, ich füge mich«, seufzte der Minister resigniert. »Aber es ist eine Tyrannei!«
»Thank you«, sagte Teresa und reichte ihm die Hand.
»Aber meine Gnädige … ich wundere mich über Sie.« Sein Blick war fest auf sie gerichtet.
»Ich bin heute zufrieden«, warf sie hin. Einen Augenblick sah sie zerstreut auf den Erdboden nieder und trommelte mit dem Fächer leise auf ihr seidenes Kleid. Dann erhob sie sich, setzte sich unvermittelt ans Klavier und wiederholte die süße englische Weise:
»The village seems dead and asleep
When Lubin is away! …«
Unterdessen war der Graf auf Amaro zugetreten, der aufgestanden war.
»Die Sache ist also in Ordnung«, sagte er zu ihm. »Correia steht mit dem Bischof auf gutem Fuß. Heute in einer Woche sind Sie ernannt. Sie können ganz unbesorgt sein.«
Amaro machte eine tiefe Verbeugung. Dann näherte er sich ehrerbietig dem Minister, der neben dem Klavier stand.
»Herr Minister, ich danke Ihnen …«
»Der Frau Gräfin, der Frau Gräfin!« wehrte der Minister lächelnd ab.
»Gnädige Frau, ich danke Ihnen …«, begann Amaro wieder, diesmal seine Verneigung vor der Gräfin machend.
»Ach, danken Sie Teresa! Ich glaube, sie will heute etwas für ihr Seelenheil tun.«
»Erinnern Sie sich meiner in Ihren Gebeten, Herr Pater«, sagte Teresa. Dann sang sie mit wehmütiger Stimme weiter und erzählte dem Klavier, wie traurig das Dorf zu sein scheint, wenn Lubin in der Ferne weilt …
Nach Verlauf einer Woche erhielt Amaro die Bestätigung seiner Anstellung. Aber nie konnte er jenen Vormittag im Hause der Gräfin von Ribamar vergessen: den Minister mit den kurzen Beinkleidern, der, tief in den Lehnstuhl versunken, seine Anstellung versprach, das helle Licht und die Stille des Gartens draußen, den großen blonden Jüngling, der immer »yes« sagte … Immer wieder sang in seinem Hirn jene traurige Arie aus »Rigoletto«, immer verfolgte ihn die Erinnerung an Teresas weiße Arme, die unter der schwarzen Gaze schimmerten! Und ihm war, als sähe er diese Arme, wie sie sich langsam, ganz langsam um den schönen Hals des blonden Jünglings schlangen … In solchen Augenblicken haßte er ihn, haßte er seine barbarische Sprache, haßte er das ketzerische Land, aus dem er kam. Und die Schläfen pochten ihm bei dem Gedanken, daß jenes göttliche Weib eines Tages zu ihm beichten kommen, daß ihr schwarzes Seidenkleid seine alte Lüstersoutane streifen könnte … dort, in der dunklen, intimen Heimlichkeit des Beichtstuhls …
Eines Morgens brach er unter vielen Umarmungen seiner Tante nach Santa Apolónia auf. Ein Dienstmann schleppte ihm den Koffer. Der Tag brach eben an; schweigsam lag noch die Stadt; die Straßenlampen erloschen. Ab und zu rollte ein Lastwagen vorbei, daß das Pflaster erbebte; endlos erschienen ihm die Straßen; Bauern aus der Umgebung fingen an, die Stadt zu beleben. Sie ritten mit baumelnden, in hohen, schmutzigen Stiefeln steckenden Beinen auf ihren Eseln. In einer oder der andern Straße bot schon eine schrille Stimme Zeitungen feil, und Theaterdiener liefen mit dem Kleistertopf durch die Straßen, um Plakate an die Ecken zu kleben.
Als Amaro in Santa Apolónia ankam, tauchte die Sonne eben orangefarben hinter den Bergen jenseits des Tejo empor. Unbeweglich dehnte sich der Fluß, dessen Strömungen sich im Wasser wie glanzlose Stahlstreifen hinzogen. Und schon fuhr langsam ein weißes Flußboot hinaus in die Flut.