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VI

Gleich von Anfang an fühlte sich Amaro in seiner neuen Umgebung mit ihren netten Behaglichkeiten äußerst wohl. Die Joaneira nahm sich mit geradezu mütterlicher Besorgtheit seiner Wäsche an, setzte ihm allerlei Leckerbissen vor und hielt sein Zimmer blitzsauber. Amélia stand zu ihm in dem harmlos-pikanten Verhältnis einer hübschen Verwandten. »Sie haben sich gut zueinandergefunden«, sagte entzückt Dona Maria da Assunção. So glitten die Tage für Amaro leicht dahin: gute Küche, weiches Bett, angenehmer Umgang mit Frauen. Die Jahreszeit war so mild, daß sogar die Linden im Schloßgarten schon blühten. »Es ist beinahe ein Wunder!« sagten die Leute, und der Chorherr, der die Linden jeden Morgen von seinem Fenster im Schlafrock betrachtete, zitierte Verse aus den Eklogen. Nach all der Trübseligkeit, die Amaro bei seinem Onkel im Lissabonner Stadtteil Estrela durchgemacht hatte, nach all den Leiden im Seminar und dem rauhen Winter in der Gralheira erschien Amaro das Heim in Leiria wie ein trockenes, trauliches Asyl, wo – nach nächtlicher Reise im Gebirge, nach Gewitter und Regengüssen – freundliches Licht schien und vor ihm eine duftende Suppe dampfte.

Frühmorgens ging er zur Messe in die Kirche, wohl eingehüllt in seinen großen Mantel. Er trug feine Tuchhandschuhe und unter den roten, hochschäftigen Stiefeln wollene Strümpfe. Denn am Morgen war es kalt. Zu dieser Stunde gab es nur wenige fromme Frauen in der Kirche, die, die Kapuzen über den Kopf gezogen, hier und da neben einem der weißlackierten Altäre beteten.

Er begab sich sofort in die Sakristei und zog sich um, während ihm der Küster verschlafen die Tagesneuigkeiten erzählte.

Dann nahm er den Kelch, um mit gesenkten Augen in die Kirche zu gehen. Vor dem Allerheiligsten beugte er rasch das Knie. Nun stieg er zum Altar hinauf, wo zwei Wachskerzen im hellen Morgenlicht glanzlos brannten. Er faltete die Hände, senkte den Kopf und murmelte: »Introibo ad altare Dei.« Introibo ad altare Dei – (lat.) Zum Altare Gottes will ich treten.

»Ad Deum qui laetificat juventutem meam« Ad Deum qui laetificat juventutem meam – (lat.) Zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf., sagte der Küster ebenso leise, die lateinischen Worte unbeholfen formend.

Nicht mehr wie in früheren Zeiten zelebrierte Amaro die Messe mit frommer Ergriffenheit. Es ist eben alles Gewohnheit, entschuldigte er sich. Und da er nicht zu Abend gegessen und zu dieser Stunde noch nicht gefrühstückt hatte, verspürte er ein durch die kalte Morgenluft noch verschärftes Hungergefühl. Daher haspelte er schnell und ausdruckslos die Epistel und das Evangelium herunter. Hinter ihm stand der Küster mit gekreuzten Armen und kraute sich ruhig den dichten, kurzgeschnittenen Vollbart. Dabei schielte er nach der sehr frommen Casimira França, der Frau des Stiftszimmermanns, auf die er es seit Pfingsten abgesehen hatte. Strahlender Sonnenschein fiel in breiten Bändern durch die Seitenfenster; der süßliche Duft welker Narzissen hing in der Luft.

Nachdem Amaro noch schnell das Offertorium Offertorium – Das Gebet, das in der Messe die Opferbereitung einleitet. erledigt hatte, reinigte er den Kelch mit dem dafür bestimmten geweihten Tuch. Der Küster, der ein wenig krumm ging, holte die Meßkännchen und reichte sie tief verneigt dar, wobei Amaro das ranzige Öl roch, das in seinem Haar glänzte. Nur bei diesem Teil der Messe fühlte sich Amaro wirklich ergriffen: die früher empfundene mystische Verzückung lag ihm doch noch ein wenig im Blut. Mit weit geöffneten Armen wandte er sich der Kirche zu und rief mit voller Stimme die Aufforderung zum gemeinsamen Gebet: »Orate, fratres!« Orate, fratres! – (lat.) Betet, Brüder! Und die alten Frauen, die an den steinernen Pfeilern lehnten und blöde, mit geiferndem Munde, auf den Pfarrer stierten, drückten die Hände mit den herabhängenden schwarzen Rosenkränzen fester gegen die Brust. Da kniete der Küster hinter ihm nieder und hob mit der einen Hand ein wenig das priesterliche Gewand, mit der andern das Meßglöckchen. Amaro segnete den Wein, hielt die Hostie hoch – Hoc est enim corpus meum Hoc est enim corpus meum! – (lat.) Das ist mein Leib!! – und reckte die Arme nach der Christusfigur, die voll roter Wunden an dem schwarzen Holzkreuz hing. Langsam schwang das Glöcklein; gekrümmte Hände schlugen an die Brust; und in dem Schweigen hörte man draußen auf den breiten Steinfliesen vor der Kathedrale die Ochsenwagen, die um den Marktplatz bogen, ratternd vorbeifahren.

»Ite, missa est Ite, missa est! – (lat.) Gehet hin, ihr seid entlassen!!« sagte endlich Amaro.

»Deo gratias Deo gratias! – (lat.) Dank sei Gott!!« antwortete der Küster, der im Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, erleichtert aufatmete.

Als Amaro den Altar geküßt hatte und die Stufen herabstieg, um den Segen zu erteilen, weilte er bereits mit seinen Gedanken am freundlichen Frühstückstisch, sah er sich im hellen Eßzimmer, roch er im voraus die guten gerösteten Brotschnitten. Jetzt erwartete ihn auch schon Amélia; das Haar hing ihr auf den Frisiermantel herab, ein angenehmer Geruch nach Mandelseife strömte von ihrer frischen Haut aus.

 

Mittags um zwölf stieg Amaro gewöhnlich zum Eßzimmer hinauf, wo die Joaneira und Amélia zu nähen pflegten. »Ich habe mich unten gelangweilt und muß ein bißchen schwatzen«, sagte er. Die Joaneira saß auf einem niedrigen Stuhl neben dem Fenster, während die Katze sich in die Falten ihres Merinokleides schmiegte. Sie nähte, die Brille auf der Nasenspitze. Auch Amélia führte die Nadel; neben ihr stand das Nähkörbchen. Da sie den Kopf über die Arbeit gebeugt hielt, sah man ihren scharfgezogenen Scheitel, dessen weiße Linie nur durch die üppige Haarfülle etwas verwischt wurde. Ihre großen goldenen Ohrgehänge mit tropfenförmigen Steinen funkelten und ließen auf dem reizenden Hals einen feinen Schatten zittern. Dunkle Ringe unter den Augen erhöhten nur den Reiz ihrer brünetten, von gesundem Blut zart geröteten Gesichtsfarbe; ruhig atmend hob und senkte sich die volle Brust. Manchmal ließ Amélia die Nadel im Stoff stecken und rekelte sich lächelnd, die Ermüdete spielend, im Stuhl. Dann scherzte Amaro: »Seht nur den Faulpelz! Eine tüchtige Hausfrau!«

Sie lachte, und eine Unterhaltung entspann sich. Die Joaneira konnte immer mit interessanten Neuigkeiten aufwarten: der Major zum Beispiel hatte sein Dienstmädchen entlassen, oder jemand hatte für das Schwein des Postbeamten Carlos zehn Goldstücke geboten. Ab und zu erschien die Ruça, um einen Teller oder einen Löffel aus dem Schrank zu holen. Auch sprach man von den Preisen verschiedener Waren oder davon, was es zu Mittag gäbe. Die Joaneira nahm die Brille ab und schlug ein Bein über das andere, so daß ihre aus Tuchstreifen geflochtenen Pantoffeln sichtbar wurden. Mit dem Bein wippend, verriet sie die Speisekarte.

»Heute gibt es Kichererbsen. Ich weiß nicht, ob Sie sie mögen, Herr Pfarrer. Ich wollte einmal etwas andres bringen.«

Aber Amaro mochte alles gern; für manche Gerichte hatte er sogar dieselbe Vorliebe wie Amélia.

Zuweilen wagte er es, in ihrem Nähkörbchen herumzukramen. Einmal fand er einen Brief darin und fragte sie, ob er von ihrem »Schatz« wäre. Lebhaft an ihrer Stepparbeit stichelnd, antwortete sie: »Ach, mich mag ja keiner, Herr Pfarrer …«

»Das wird wohl nicht stimmen«, fiel er ihr ins Wort. Aber er redete nicht weiter, sondern markierte errötend ein Hüsteln.

Manchmal wurde Amélia sehr zutraulich. Eines Tages hängte sie ihm eine Docke Zwirn, die sie aufspulen wollte, um die Hände.

»Nicht doch, Herr Pfarrer!« rief die Joaneira. »Was für Possen! Sehen Sie: wenn man dem Teufel den kleinen Finger reicht, nimmt er die ganze Hand!«

Amaro jedoch erklärte sich gern bereit und lachte vergnügt, als er beteuerte, er sei für alles zu haben, sogar fürs Garnwickeln. Man solle nur befehlen! – Da brachen die beiden Frauen in ein herzliches Gelächter aus, entzückt über des Pfarrers Manieren, »die einem das Herz aufgehen ließen«. Zuweilen tat Amélia ihre Näherei beiseite und legte sich die Katze um den Hals. Amaro kam dann herzu und kraute dem Tier, das schnurrend den Rücken rund machte, das Fell.

»Gefällt dir das?« sagte sie gerührt und ein wenig errötend zur Katze.

Und in leiser Verwirrung murmelte Amaro: »Liebes Kätzchen! Liebes Kätzchen!«

Darauf stand die Joaneira auf, um ihrer schwachsinnigen Schwester die Arznei zu geben oder in der Küche mit dem Dienstmädchen zu reden. Die beiden blieben dann allein; sie sprachen nicht. Aber ihre Augen hielten lange stumme Zwiesprache, die ihre Seelen unbewußt in dem gleichen bangen, dumpfen Gefühl erschauern ließ. Dann trällerte Amélia leise das »Ade!« oder den »Ungläubigen«, während Amaro sich eine Zigarette anzündete und das übergeschlagene Bein auf und ab bewegte.

»Wie hübsch Sie singen!« sagte er.

Amélia sang mit vollerer Stimme, dabei immer emsig nähend. Manchmal richtete sie sich auf, prüfte die Heftfäden oder den Steppstich und fuhr mit ihren breiten, polierten Nägeln glättend darüber hin.

Amaro fand diese Nägel wunderbar, wie er überhaupt alles, was an ihr war und von ihr kam, vollkommen fand. Ihm gefiel die Farbe ihrer Kleider, ihr Gang, die Art, wie sie sich mit den Fingern übers Haar strich; ja sogar die weißen Röcke, die sie an einem Bambusrohr vor ihrem Fenster zum Trocknen aufhängte, betrachtete er mit Rührung. Niemals vorher hatte er in so vertrautem Verhältnis zu einem weiblichen Wesen gestanden. Wenn er sah, daß die Tür ihres Stübchens halb offenstand, schielte er mit verstohlener Lüsternheit hinein, als winkte daselbst ein Paradies: ein aufgehängtes Dessous, ein Strumpf, ein auf der Truhe liegendes Strumpfband erschienen ihm wie Offenbarungen ihrer Nacktheit … Da wurde er ganz blaß und mußte die Zähne zusammenbeißen. Und er konnte sich nicht satt daran hören, wie sie sprach, wie sie lachte, wie sie mit ihren steifgestärkten Röcken durch die engen Türen raschelte. Neben ihr vergaß er, daß er Geistlicher war, wurde sein Fleisch schwach und begehrlich. Priesteramt, Gott, Kirche, Sünde … in welche Tiefe versanken, in welche Ferne rückten sie! Er sah sie nur noch verschwommen von der Höhe seiner Verzückung; er sah sie schrumpfen, wie man die Häuser von einem hohen Berg aus im Nebel der Täler schrumpfen und endlich ganz verschwinden sieht. Nur noch ein Gedanke erfüllte ihn: Wie süß, wie wunderbar süß muß es sein, ihren weißen Hals zu küssen, ihre kleinen Ohren zart zu beißen …!

Manchmal lehnte er sich gegen solche Schwäche auf; er stampfte mit dem Fuß und schrie sich zu: »Zum Teufel! Du mußt vernünftig sein! Du mußt ein Mann sein!«

Er stieg hinab in sein Zimmer, blätterte im Brevier. Aber oben sprach Amélia, hallte der Fußboden von dem Trippeln ihrer Schuhe wider … Aus! Die Andacht fiel zusammen wie ein Segel, dem der Wind fehlt; die guten Vorsätze entflohen, und neue Versuchungen drangen in sein Hirn ein, zitternd, girrend, einander stoßend: wie ein Schwarm Tauben, der in den Schlag zurückkehrt. Amaro war besiegt, geschlagen. Und er klagte um seine verlorene Freiheit. O brauchte er sie nicht mehr zu sehen, könnte er fern von Leiria sein! In einem einsamen Dorf, unter friedlichen Menschen, mit einer alten Dienerin, die von Häuslichkeit und Sprichwörtern überfloß! O könnte er da durch seinen Garten wandeln, wo grüner Salat schießt und die Hähne in der Sonne krähen! Aber Amélia rief ihn von oben, und der Zauber begann wieder zu wirken … stärker, heftiger denn je.

Von allen Stunden des Tages war ihm die des Mittagsmahls die behaglichste. Die Joaneira schnitt den Braten in Scheiben, während Amaro plauderte und die Olivenkerne in die Hand spuckte, um sie dann in Reihen auf das Tischtuch zu legen. Die Ruça, die immer schwindsüchtiger wurde, bediente schlecht: sie mußte fortwährend husten. Amélia stand manchmal auf, um ein Messer oder einen Teller vom Büfett zu holen. Der aufmerksame Amaro wollte ihr dann diese Mühe abnehmen.

»Lassen Sie nur, lassen Sie nur, Herr Pfarrer!« sagte sie. Sie legte ihm dabei die Hand auf die Schulter, und ihre Blicke begegneten sich.

Amaro, die Beine ausgestreckt und die Serviette auf dem Schoß, fühlte sich äußerst behaglich in dem warmen Zimmer. Nach dem zweiten Glas Wein wurde er gesprächig und scherzhaft. Manchmal stieß er sogar Amélia unter dem Tisch leise an den Fuß, wobei er sie zärtlich anblickte, oder er sagte mit betrübter Miene, daß es ihm sehr leid täte, nicht so ein niedliches Schwesterchen zu haben.

Amélia tunkte gern die Brotkrume in die Bratensauce, was ihr einen Tadel der Mutter zuzog.

»Schäm dich vor dem Herrn Pfarrer!«

Aber Amaro lachte. »Sehen Sie, das mache ich auch gern. Sympathie! Magnetisches Fluidum!«

Und beide tauchten ihr Brot ein und lachten wie die Kinder.

Später fing es an zu dämmern; die Ruça brachte die Lampe herein. Das Funkeln der Gläser und des Geschirrs versetzte Amaro immer mehr in eine heitere, gehobene Stimmung, so daß er die Joaneira gar »Mama« nannte. Amélia lächelte mit gesenkten Augen, während sie an einer Apfelsinenschale nagte. Bald darauf kam der Kaffee, und Pater Amaro blieb noch lange sitzen; er schlug mit dem Messerrücken Nüsse auf und zerdrückte Zigarettenstummel auf den Untertassen.

Um diese Stunde tauchte regelmäßig der Kanonikus Dias auf. Man hörte ihn schon wuchtig die Treppe heraufkommen und schreien: »Zutritt für zwei erbeten!«

Es waren er und seine Hündin, die »Brünette«.

»Unser Heiland beschere uns einen guten Abend!« sagte er, als er in der Tür erschien.

»Ein Tröpfchen Kaffee gefällig, Herr Kanonikus?« fragte gleich die Joaneira.

Er setzte sich mit einem tiefen »Uff«! – »Also her mit dem Tröpfchen Kaffee!« Und indem er dem Pfarrer auf die Schulter klopfte, fragte er, die Joaneira ansehend: »Nun, was macht hier Ihr Kleiner?«

Man lachte; die Neuigkeiten des Tages wurden ausgepackt. Der Kanonikus hatte immer eine Zeitung in der Tasche, die »Volkszeitung«. Amélia interessierte sich für den Roman, die Joaneira für die Heiratsanzeigen.

»Wie wenig sich die Leutchen genieren!« sagte sie entzückt.

Amaro erzählte dann von Lissabon, von Skandalgeschichten, die ihm die Tante mitgeteilt hatte, und von den Adligen, die ihm im Hause des Grafen von Ribamar vorgestellt worden waren. Amélia hörte ihm hingerissen zu, wobei sie die Ellenbogen auf den Tisch stützte und an einem Zahnstocher kaute.

Nach dem Essen besuchten sie die Gelähmte. Ein Lämpchen brannte trübe am Kopfende des Bettes, und die arme Alte starrte die Erschienenen ängstlich aus ihren tiefliegenden, verweinten Augen an. Ihr Kopf steckte unter einer gräßlichen schwarzen Spitzenhaube, die das zusammengeschrumpfte Gesicht blässer und welker erscheinen ließ als eine uralte Reinette. Die Umrisse ihres ausgemergelten Körpers waren unter der Decke kaum zu erkennen.

»Der Herr Pfarrer ist da, Tante Gertrudes!« schrie ihr Amélia ins Ohr. »Er will sehen, wie es dir geht!«

Die Alte machte eine gewaltsame Anstrengung und sagte kläglich: »Ah, der Kleine!«

»Jaja, der Kleine«, lachten die Umstehenden.

Und immer wieder murmelte die Alte geängstigt: »Es ist der Kleine, es ist der Kleine!«

»Das arme Geschöpf!« sagte Amaro. »Das arme Geschöpf! Gott gebe ihr einen sanften Tod.«

Man kehrte ins Zimmer zurück, wo der Kanonikus Dias, die Hände auf dem Bauch gefaltet, in einem alten grünüberzogenen Lehnstuhl ruhte.

»Nun ein bißchen Musik, Kleine!« rief er beim Eintreten der Gesellschaft.

Amélia setzte sich ans Klavier.

»Spiele doch das ›Ade‹!« schlug die Joaneira vor, indem sie ihren Strickstrumpf in Angriff nahm.

Und Amélia rührte die Tasten und sang:

»Ade! Zu Ende ging die Zeit,
Da ich an deiner Seite weilte …«

Ihre Stimme schleppte in verhaltener Wehmut … Amaro stieß langsam den Rauch seiner Zigarette aus dem Mund; er stand ganz unter dem Bann einer wohligen Sentimentalität.

 

Als er in vorgerückter Stunde hinunterging, war er in gehobener Stimmung. Er fing an, die »Hymnen an Jesus« zu lesen, eine Übersetzung aus dem Französischen, die von der »Gesellschaft der Sklavinnen Jesu« herausgegeben worden war. Es ist dies ein kleines frommes Elaborat zweideutiger Lyrik, beinahe schlüpfrig: Gebete in der Sprache wollüstiger Erotik. Jesus wird darin angerufen und mit dem Gestammel rasender Sinnengier herbeigesehnt. »O komm, Geliebter meines Herzens, anbetungswürdiger Leib! Meine ungeduldige Seele lechzt nach dir! Ich liebe dich mit verzweifelter Leidenschaft! Entzünde mich! Verbrenne mich! Komm, erdrücke mich!« Und eine göttliche Liebe, bald grotesk in ihrem Streben, bald obszön in ihrem Materialismus, seufzt, brüllt und deklamiert so auf hundert glühenden Seiten, wo die Worte Genuß, Entzücken, Raserei und Ekstase jeden Augenblick mit hysterischer Beharrlichkeit wiederkehren. Auf frenetische Monologe, aus denen der heiße Atem mystischer Brunst dampft, folgt dann albernes Sakristeigewäsch, folgen fromme Glossen, die schwierige Fastenfragen lösen, folgen Gebete für Geburtswehen! Ein Bischof hat diesem schön gedruckten Büchlein seine Anerkennung ausgesprochen; die Schülerinnen lesen es im Kloster. Es ist aufreizend fromm, besitzt die Beredsamkeit der Erotik und gleichzeitig die Albernheit der Frömmelei. Es wird, in Maroquin gebunden, den Beichtkindern gegeben: ein kirchlich sanktioniertes erotisches Stimulans!

Amaro las bis spät in die Nacht hinein, ein wenig aufgewühlt durch diese klingenden, von Begierde geblähten Phrasen. Und in der Stille der Nacht hörte er manchmal droben das Knarren von Amélias Bett. Das Buch entglitt seinen Händen; er drückte den Kopf an die Stuhllehne, schloß die Augen, und es war ihm, als sähe er das Mädchen im Korsett vor dem Toilettentisch stehen und ihre Haarflechten entfesseln. Oder er sah sie in gebückter Haltung die Strumpfbänder lösen, und im Hemdausschnitt erspähte er ihre schneeweißen Brüste.

Amaro stand auf und biß die Zähne zusammen: er faßte den brutalen Entschluß, sie zu besitzen.

Nun fing er an, ihr die Lektüre der »Hymnen an Jesus« zu empfehlen.

»Sie werden sehen, es ist sehr hübsch … und sehr fromm!« sagte er, als er es eines Nachts in ihrem Nähkörbchen zurückließ.

Am folgenden Tage war Amélia beim Frühstück sehr blaß und hatte breite dunkle Augenringe. Sie sagte, sie habe nicht schlafen können und Herzklopfen gehabt.

»Nun, haben Ihnen die Hymnen gefallen?«

»Sehr. Schöne Gebete!« antwortete sie.

Während dieses Tages blickte sie Amaro nicht an. Sie schien traurig zu sein, und zuweilen wurde sie ganz unvermittelt und ohne Grund feuerrot.

Die schlimmsten Augenblicke machte Amaro montags und mittwochs durch, wo João Eduardo am Abend als Familiengast erschien. Bis neun Uhr kam der Pfarrer nicht aus seinem Zimmer heraus; dann ging er zum Tee hinauf und war verzweifelt, wenn er den Schreiber mit seiner Pelerine neben Amélia sitzen sah.

»Nein, was die beiden hier zusammenschwatzen, Herr Pfarrer!« sagte die Joaneira bei einer dieser Gelegenheiten.

Amaro lächelte schwach, während er sein geröstetes Brot zerbrach und in die Teetasse starrte.

Jetzt, da João Eduardo anwesend war, begegnete Amélia dem Pfarrer nicht mit der gewohnten Vertraulichkeit: kaum, daß sie einmal die Augen von ihrer Näharbeit erhob. Der Schreiber zog schweigend an seiner Zigarette; in der großen Stille hörte man auf der Straße den Sturm heulen.

»Wer jetzt auf dem Meer fahren muß!« bemerkte die Joaneira, die gemächlich strickte.

»Donnerwetter!« nickte João Eduardo zustimmend.

Seine Worte, sein ganzes Gebaren ärgerten den Pater Amaro, er verabscheute ihn wegen seiner mangelnden Frömmigkeit und wegen seines hübschen schwarzen Schnurrbärtchens. Auch kam er sich in seiner Gegenwart linkisch vor; mehr als sonst wurde er sich der Beengtheit bewußt, die nun einmal dem geistlichen Stand eigen ist.

»Spiel doch ein bißchen Klavier!« regte die Joaneira an.

»Ach, ich bin so abgespannt!« erwiderte Amélia und stützte die Arme mit einem müden Seufzer auf die Seitenlehnen ihres Stuhls.

Da schlug die Joaneira, der es peinlich war, wenn ihre Leute gelangweilt dasaßen, ein Kartenspiel zu dritt vor, und Amaro nahm den Messingleuchter, um sehr unglücklich in sein Zimmer hinabzusteigen.

An solchen Abenden verwünschte er beinahe Amélia: er fand sie launisch, duckmäuserisch. Die Intimität des Schreibers erschien ihm anstößig, und er nahm sich vor, die Joaneira darauf aufmerksam zu machen, »daß eine solche Liebschaft im Hause Gott keinesfalls wohlgefällig sein könne«. In vernünftigeren Augenblicken beschloß er, Amélia zu vergessen, aus dem Hause zu ziehen, vielleicht gar seine hiesige Pfarrstelle aufzugeben. Er stellte sich dann Amélia im Schmuck der bräutlichen Orangenblüten und João Eduardo mit hochrotem Kopf und im Gehrock vor: sie kamen als verheiratetes Paar aus der Kathedrale … Er sah das Brautbett mit seinem weißen Linnen, seinen Spitzen … und alle Anzeichen, alle Beweise für ihre Liebe zu dem »Idioten von Schreiber« bohrten sich wie Dolche in seine Brust …

»So mögen sie denn heiraten, und der Teufel soll sie holen!«

Nun haßte er sie wirklich. Er verschloß heftig die Tür, als wollte er so verhindern, daß ihre Stimme oder das Rascheln ihrer Röcke in sein Zimmer drangen. Aber bald darauf, wie alle Nächte, lauschte er unbeweglich, gierig, mit klopfendem Herzen den Geräuschen, die sie da oben, mit ihrer Mutter plaudernd, beim Ausziehen verursachte.

 

Eines Tages hatte er bei Dona Maria da Assunção zu Mittag gegessen. Er ging die Estrada de Marrazes entlang spazieren, und bei seiner Rückkehr – der Nachmittag ging gerade zu Ende – fand er die Haustür offen. Auf dem Fußabstreicher im Treppenflur standen die Tuchpantoffeln der Ruça.

Dummes Ding! dachte Amaro. Sie ist wohl zum Brunnen gegangen und hat vergessen, die Tür zu schließen.

Er erinnerte sich, daß Amélia den Nachmittag mit Dona Joaquina Gansoso auf einem benachbarten Landgut verbringen wollte. Die Joaneira hatte davon gesprochen, daß sie zur Schwester des Kanonikus gehen würde. Er schloß langsam die Tür und stieg in die Küche hinauf, um seine Lampe anzuzünden. Da die Straßen noch von dem am Morgen niedergegangenen Regen naß waren, trug er Gummischuhe, so daß er beim Gehen auf dem Fußboden kein Geräusch machte. Als er am Eßzimmer vorbeiging, hörte er aus der Kammer der Joaneira durch den Kattunvorhang ein rauhes, tiefes Husten klingen. Überrascht schob er den Vorhang ein wenig beiseite und spähte durch die halb geöffnete Kammertür. Barmherziger Gott! Da stand die Joaneira im weißen Unterrock und schnürte eben ihr Korsett zu. Und der Kanonikus Dias saß in Hemdsärmeln schwer atmend auf dem Bettrand!

Amaro stieg die Treppe hinab; er mußte sich am Geländer festhalten. Langsam verließ er das Haus und schloß leise die Tür. Dann ging er wie im Traum nach der Kathedrale zu. Der Himmel hatte sich wieder umzogen, und leichte Regentropfen fielen zur Erde.

»Ist es möglich!« murmelte er wie vor den Kopf geschlagen.

Nicht im Traum hätte er einen solchen Skandal für möglich gehalten! Die Joaneira, die phlegmatische Joaneira! Der Kanonikus, sein Morallehrer! Und dabei war er schon alt … ihn trieb nicht das Ungestüm jungen, heißen Blutes! Sein Alter, seine Korpulenz, seine kirchliche Würde hätten ihn doch längst zu abgeklärter Ruhe bringen müssen! Was soll dann erst ein junger, starker Mann tun, in dessen Adern strotzende Lebenskraft siedet und ihr Recht fordert? Es war also doch wahr, was man schon im Seminar getuschelt und was ihm der alte Pater Sequeira gesagt hatte, der fünfzig Jahre Pfarrer in der Gralheira gewesen war: »Sie sind alle aus demselben Ton geformt!« Alle sind aus demselben Ton geformt, steigen zu Würden empor, treten im Domkapitel ein, leiten Seminare, lenken, von göttlichem Nimbus umhüllt, gleichsam für ewig ihrer Sünden lediggesprochen, die Gewissen, und … gleichzeitig haben sie in irgendeinem Gäßchen ein willfähriges dickes Frauenzimmer, in dessen Hause sie sich von ihrem frommen Getue und ihrem asketischen Amt erholen, Zigaretten rauchen und dralle Arme tätscheln!

Und dann dachte er über andere Dinge nach: Was waren denn das für Leute, diese Joaneira und ihre Tochter, denen die späte Geilheit eines alten Kanonikus ein Auskommen ermöglichte? Die Joaneira war sicher hübsch, stattlich, begehrenswert – gewesen! Durch wieviel Arme war sie wohl gegangen, ehe sie, an der Schwelle des Alters, im Hafen dieser senilen, schlecht bezahlten Liebe landete? Die zwei Frauen waren nicht ehrbar, zum Teufel! Sie nahmen Pensionäre auf, lebten vom Konkubinat. Amélia ging allein zur Kirche, in die Geschäfte, aufs Landgut. Mit ihren hübschen schwarzen Augen hatte sie vielleicht schon einen Geliebten gehabt! – Amaro dachte nach, brachte mehrere Erinnerungen miteinander in Einklang: wie sie eines Tages allein waren, wie Amélia ihm am Küchenfenster eine Vase mit Ranunkeln zeigte und tief errötend, mit glänzenden, bittenden Augen ihm die Hand auf die Schulter legte; wie sie ihm ein andermal die Brust mit dem Arm streifte! … Es war Nacht geworden, ein feiner Regen fiel. Amaro merkte es nicht. Er ging schnell, die Brust von einem einzigen, köstlichen Gedanken geschwellt, der ihn erbeben ließ: Er wollte der Geliebte des Mädchens werden, wie der Kanonikus der Geliebte der Mutter war! Amaro malte sich schon im Geiste das schöne, angenehm skandalöse Leben aus, das ihm winkte. Während oben die dicke Joaneira ihren asthmatisch schnaufenden Kanonikus abküßte, würde Amélia, die weißen Röcke schürzend, einen Schal um die nackten Schultern, vorsichtig in sein Zimmer herunterhuschen … Mit welcher Raserei würde er sie erwarten! Und schon fühlte er nicht mehr für sie die alte sentimentale, beinahe schmerzliche Liebe: Jetzt bereitete ihm das drollig-pikante Bild der zwei Pater und ihrer zwei Konkubinen, die alle unter einer Decke steckten, eine ruchlose Befriedigung … ihm, den heilige Gelübde banden! Geschwind strebte er seiner Wohnung zu. Ein Glücksfund, dieses Haus!

Es regnete jetzt in Strömen. Als er heimkam, brannte schon Licht im Eßzimmer. Er stieg hinauf.

»Wie kalt Sie sind!« sagte Amélia, als sie ihm die Hand drückte und dabei die Nässe spürte.

Sie saß am Tisch und nähte an einer Pelerine. João Eduardo spielte neben ihr mit der Joaneira Karten.

Amaro nahm ein wenig verlegen Platz. Die Gegenwart des Schreibers versetzte ihm – ohne daß er recht wußte warum einen harten Schlag: er sah sich brüsk der feindlichen Wirklichkeit gegenübergestellt. Und alle Hoffnungen, die ihren tollen Reigen vor ihm aufgeführt hatten, zerstoben eine nach der anderen, als er hier Amélia neben dem Verlobten sah – Amélia in ihrem hochgeschlossenen dunklen Kleid, im Schein der Familienlampe über eine ehrbare Näharbeit gebeugt! Und alles um ihn herum erschien ihm wieder solider, anständiger: die Tapeten mit ihrem grünen Laubmuster, der Schrank mit seinem glänzenden Porzellangeschirr aus Vista Alegre, der freundliche, dickbäuchige Wasserkrug, das alte Klavier, das unsicher auf seinen drei gedrehten Beinen stand. Und dann der bei allen so beliebte Zahnstocherhalter, ein feister Cupido, dessen geöffneter Regenschirm mit Zahnstochern gespickt war, und das friedliche Kartenspiel, dem man mit den herkömmlichen Witzworten oblag. Alles so anständig!

Aber dann betrachtete er aufmerksam den Hals der Joaneira, wie um auf ihm noch die Male zu entdecken, welche vielleicht die schmatzenden Küsse des Kanonikus zurückgelassen hatten: Ah, du bist zweifellos eine »Pfaffenhure«! Aber Amélia mit ihren langen, gesenkten Wimpern, ihren frischen Lippen! … Sicher wußte sie nichts von der Liederlichkeit der Mutter, oder sie war gewitzigt und entschlossen, sich in die Sicherheit einer rechtmäßigen Liebe zu betten. Amaro beobachtete sie lange, wie um aus der heiteren Ruhe ihres Gesichts auf die Unbescholtenheit ihrer Vergangenheit zu schließen.

»Sie sind wohl ein bißchen müde, Herr Pfarrer?« fragte die Joaneira. Und zu João Eduardo gewandt: »Trumpf, bitte! Wo haben Sie denn Ihre Gedanken?«

Der verliebte Schreiber hatte nicht aufgepaßt.

»Sie müssen ausspielen«, mußte ihn die Joaneira jeden Augenblick erinnern.

Schließlich vergaß er sogar »Karten zu kaufen«.

»Ach Junge, Junge!« sagte sie mit ihrer leiernden Stimme, »ich werde Sie gleich bei den Ohren nehmen!«

Amélia nähte noch immer mit geneigtem Kopf. Sie trug ein schwarzes loses Jäckchen, das die Form des Busens verhüllte.

Und Amaro ärgerte sich über die ewig gesenkten Augen und über die weite Bluse, die das, was ihn am meisten an ihr reizte, verbarg! Und keine Hoffnung! Nichts von ihr würde ihm gehören, weder das Licht dieser Augensterne noch der schneeige Schimmer dieser Brüste! Sie wird heiraten wollen und alles für den andern aufheben, den Idioten, der da selbstgefällig Trümpfe ausspielte! Er haßte ihn, weil er ihn um seinen schwarzen Schnurrbart beneidete und weil er sein Recht auf Liebe anerkennen mußte …

»Sitzen Sie unbequem, Herr Pfarrer?« fragte Amélia, als sie bemerkte, daß sich Amaro heftig in seinem Stuhl bewegte.

»Nein«, antwortete er kurz.

»Ah!« seufzte sie und nähte hastig weiter.

Der Schreiber hatte beim Mischen der Karten angefangen, von einem Haus zu sprechen, das er mieten wollte. Die Unterhaltung drehte sich nun um Wohnungsausstattungen.

»Ruça, bringen Sie Licht!« schrie Amaro.

Er stieg verzweifelt in sein Zimmer hinunter, wo er die Kerze auf die Kommode stellte. Aus dem Spiegel blickte ihm sein Antlitz entgegen. Er kam sich häßlich, lächerlich vor mit seinem rasierten bartlosen Gesicht, dem Priesterkragen, der hart und steif war wie ein Halseisen, der scheußlichen Tonsur da hinten. Unwillkürlich verglich er sich mit dem andern, der einen Bart, vollständiges Haar und … seine Freiheit hatte! … Für wen rackere ich mich denn ab? dachte Amaro. Der andere war ein ehefähiger Mann; er konnte ihr seinen Namen, ein Haus, Mutterschaft geben. Er, Amaro, würde ihr nur verbrecherischen Sinnengenuß bieten und darauf … die Pein der Sünde! Sie war ihm vielleicht herzlich zugetan, obwohl er Priester war, aber vor allem und abgesehen von allem wollte sie heiraten, nichts Natürlicheres als das! Sie wußte, daß sie arm und hübsch war und eines Tages allein dastehen würde. Sie ersehnte eine legitime, dauernde Versorgung, die Achtung der Nachbarinnen, die Zuvorkommenheit der Geschäftsleute, alle die Vorteile, die ein ehrbares Leben bot.

Wieder stieg der Haß gegen sie in ihm hoch, gegen ihr hochgeschlossenes Kleid, gegen ihre Ehrbarkeit! Dummes Weib, das nicht bemerkte, daß neben ihr, unter einer Soutane, eine leidenschaftliche Seele nach ihr spähte, sie verfolgte, vor Ungeduld zitterte und sich zu Tode sehnte! Er wünschte, sie wäre wie ihre Mutter – oder schlimmer noch: ganz frei, mit auffallenden Kleidern, frecher Frisur, die Beine schamlos übereinandergeschlagen und die Männer fixierend – kurz, ein lockeres, leicht zugängliches Mädchen …

Sieh da! dachte er, indem er – ein wenig beschämt – sich selbst wiederfand. Jetzt wünsche ich mir schon, daß das Mädchen eine Dirne wäre! Aber es ist doch klar: wir dürfen gar nicht an anständige Frauen denken; wir müssen uns an Prostituierte halten! Nettes Dogma!

Es wurde ihm schwül. Er riß das Fenster auf. Der Himmel war finster; der Regen hatte aufgehört; nur das Klagen der Eulen in der Rua da Misericórdia unterbrach die Stille der Nacht.

Unter dem Eindruck dieser Finsternis, dieses Schweigens der schlafenden Stadt, wurde seine Seele weich. Und aus der Tiefe seines Wesens stieg wieder die Liebe, die er anfangs für Amélia empfunden hatte, jene reine, ergebene, ein wenig sentimentale Liebe. Aus dem tiefen Schwarz des Himmels sah er ihr hübsches Köpfchen in verklärter, leuchtender Schönheit hervortreten, und wie im Mariendienst und bei der Begrüßung der Engel flog ihr sein ganzes Herz in demütiger Anbetung entgegen. Er bat sie flehentlich um Verzeihung, daß er sie beleidigt hatte, und laut rief er: »Du bist eine Heilige! Vergib mir!« Das war ein schmerzlich-süßer Augenblick … der Augenblick, da das Fleisch verzichtet …

Fast erschrocken über diese Feinfühligkeit, die er plötzlich in sich entdeckte, begann er darüber nachzusinnen, was für ein guter Ehemann er sein würde, wenn er frei wäre! Verliebt, hingebend, artig, immer vor ihr kniend, immer voller Anbetung! Wie würde er seinen Jungen, das niedliche Kerlchen, herzen, wenn er ihm den Bart zauste! Beim Gedanken an diese unerreichbaren Wonnen füllten sich seine Augen mit Tränen. Verzweifelt fluchte er dem »Weibsstück«, der Marquise, weil sie ihn zum Priester bestimmt, und dem Bischof, weil er ihn geweiht hatte!

»Sie haben mich zugrunde gerichtet! Ja, zugrunde gerichtet!« rief er ganz außer sich.

Dann hörte er die Schritte João Eduardos, der die Treppe herunterkam, und das Rascheln von Amélias Kleidern. Er eilte an die Tür, spähte durchs Schlüsselloch und grub dabei vor Eifersucht die Zähne in seine Lippen. Die Haustür schlug zu; Amélia stieg leise singend die Treppe hinauf. Aber die Anwandlung mystischer Liebe, die er einen Augenblick lang gehabt hatte, als er in die Nacht hinausstarrte, war vorüber. Er warf sich, von wütendem Verlangen nach ihr und ihren Küssen gepackt, aufs Bett.


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