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IV.
Sündenbock

 

I

Frau Coliade, auf der Lauer nach allen Begünstigungen des Lasters, tritt auf Doras Weg und stellt ihr Rosario, eine Dirne, als vornehme Frau vor.

Naiv wie ein Schüler macht Simzerla ihr den Hof. Als Gegengabe lehrt diese Dirne sie Opium rauchen.

Seitdem schläft die Prinzessin oder ist schlaftrunken zwanzig Stunden am Tage.

Obgleich sie Wochen vergehen läßt, ohne Rosario auch nur zu küssen, gibt sie ihr in sechs Monaten fast fünfhunderttausend Franken.

Trotzdem folgt die Hetäre ihrem niedrigen Triebe und stiehlt der Prinzessin Schmuck wie Wäsche.

So trat die Prinzessin Simzerla in das Leben der Leidenschaft ein, ohne zu lieben; unterhielt, ohne zu genießen.

 

II

Nach dieser Dummheit ohne Freude hielt sich die Prinzessin Simzerla zwei volle Jahre lang wunderbar. Gewiß, sie liebte es, Wörter aus der Volkssprache im Munde zu führen, und ergötzte sich daran, als Jüngling aufzutreten; aber sie erneuerte ihre Liebesversuche nicht und ließ weder Sadinet noch Rosario jemand ihres Geschlechtes nachfolgen.

Auf besonderen Rat, um die öffentliche Meinung irre zu führen, brachte sie sich sogar mit einem schönen Offizier ins Gerede und machte gewissenhafte Anstrengungen, um an diesem normalen Spiel Gefallen zu finden.

Es war vergeblich: sobald sie die Hosenrolle aufgab, empfand sie weder Liebe noch Wollust. Den jungen Burschen zu spielen, darauf verzichtete sie; aber man sollte ihr auch nicht mehr von den Gefühlen einer Frau sprechen: das überstieg ihre Kräfte und ihre Macht über sich selbst.

 

III

Bei Bignon gibt es ein Frauensouper. Die Kellner lächeln in ihrer Würde, von diesem Kabinett mehr belustigt als von allen andern. Es ist die Prinzessin Simzerla, die ihre neuen Freundinnen einladet: Aril, Mascha, eine verderbte Slawin, Guillemette, eine halb Verdrehte, Frau Norprain, die Witwe eines Beamten, die seit dessen Tode Feste feiert.

Beim Nachtisch sträuben sich Aril und Simzerla und machen die Hähne zu Ehren der Frau Norprain, einer hübschen Person mit blendendem Teint, die gebildet ist und sichtlich zur Prinzessin neigt.

Die Trunkenheit erregt Aril aufs äußerste; als Frau Norprain der Prinzessin Simzerla eine unzweideutige Artigkeit erweist, erhebt sie sich, zerbricht ihren Champagnerkelch und spricht, ebenso tragisch wie absurd:

– Kommen Sie doch eines Tages zu mir, ich werde Sie töten; denn bei mir kann man schießen, ohne verfolgt zu werden.

Und Simzerla, unempfindlich traurig, antwortet:

– Es liegt mir nicht viel am Leben, aber es liegt mir noch weniger daran, mich stören zu lassen: ich werde nicht zu Ihnen kommen.

 

IV

Mascha setzt Lesbos in Erstaunen, Mascha führt die Verirrung aufs äußerste. Schon allein dadurch, daß sie ein feuriges Temperament besitzt, übertrifft die russische Gräfin ihre Zunft.

Geschickt den Namen der Simzerla für ihre verdächtigen Streiche stehlend, ihn sogar Aushorchern angebend, lenkt sie den rächenden Schlag der öffentlichen Meinung ab, indem sie auf eine ungewöhnliche Art Possen reißt.

Eines Tages beißt die nervenkranke Geilheit in ihrem Kuß, beißt bis zur Verwundung. Alsbald erhebt sich die Anklage gegen Lesbos, grausam zu sein, gegen Simzerla, Barbarin zu sein.

Dieser Name des Marquis de Sade, den die Romanschreiber einander weitergeben, ohne ihn gelesen zu haben; diese Infamie, welche die Journalisten im besudelnden Feuilleton malen, die aber in Paris nicht existieren kann: die marternde Ausschweifung wird das Bild, das für den allgemeinen Geist die geringe Wollust der weiblichen Sodomie darstellen wird.

Die Zeitung bemächtigt sich der berüchtigten Verletzung und Simzerla wird die Frau, die gebissen hat, die wilde Sadistin.

 

V

Wie sich Simzerla mit Norprain und Guillemette entzweit? Haben diese einem Journalisten die Handlungen und Gebärden Maschas erzählt, indem sie diese Simzerla zuschrieben?

Der Reporter beginnt eine neue Art, die einen tollen Erfolg hat. Zu den Echos aus der Halbwelt gesellt sich zuerst ein lesbisches Echo, dann wird diese Chronik von Sodom selbständig und erscheint täglich:

»Man bemerkte heute morgen im Bois die Prinzessin S. mit einer hübschen Brünetten.«

Am nächsten Morgen:

»Man sah die Prinzessin S. R. hinter dem Gitter der Loge mit einer reizenden Rötlichen.«

Uebermorgen:

»Man traf die Prinzessin S. auf einem gefühlvollen Spaziergang mit einer köstlichen Blonden.«

So ging es monatelang.

So haben dieses soziale Dasein, das Dumas fils der Demimonde gab, einige Reporter für die weibliche Sodomie geschaffen. Man kann sagen, sie haben sie erfunden!

 

VI

Ein Gruß, den man ihr des Morgens im Bois nicht gewährt, ein Haus, das man ihr augenscheinlich verbietet, einige Aeußerungen guter Seelen, und die Prinzessin Simzerla ist für immer verloren. Mit einer Tollheit, die man Zynismus nennt, macht sie Front gegen die öffentliche Meinung und diese richtet sie hin.

Jetzt wird die Verbannte niemals in den Kreis der moralischen Vorurteile zurückkehren, die sich gegen sie gesträubt haben; denn ihre wirklichen oder erlogenen Fehler sind ein Artikel der Zeitungen und eine Redensart des Gespräches geworden.

Da sie reich war, hätte sie einen früheren Fechtmeister bezahlen können, um einige Journalisten herauszufordern und sich so zu retten: für sie ist niemand erschienen, weder Verteidiger noch Bürge. Die Männer haben die verlassen, die den Mann zurückstieß.

Mit der großen Dame ist es aus: sie ist entehrt, und gegen dieses Urteil gibt es keine Berufung! Die Gesellschaft kann nicht wissen, daß diese Schuldige einem Kind von dreizehn Jahren gleicht, das zu lange und in der Wirklichkeit Schüler leben gespielt hat; die Gesellschaft sollte wissen, daß sie aus Selbsterhaltung es sich schuldig ist, in Gedanken genau zu sein.

 

VII

Seitdem hat die Prinzessin Simzerla keine Geschichte mehr, die nicht ganz mit der des Lasters verquickt wäre. Sie wird der Sündenbock einer ganzen Art von Greueln.

Die öffentliche Meinung wendet bei ihr jenes Verfahren der Legende an, die alle ähnlichen Handlungen auf eine mythische Persönlichkeit häuft: die Prinzessin Simzerla wird in den Augen aller die typische Verkörperung von Lesbos. Ihr Name bedeutet diese Sünde, mit der Starrheit eines Synonyms: man sagt, das ist Simzerla, um zu bezeichnen, das ist Lesbos.

Alle Frauen, welche die gleiche Verirrung begehen, werfen auf Simzerla ihre eigenen Handlungen zurück; und die Zeitung bringt sowohl gleichzeitige wie sich widersprechende Abenteuer, die unmöglich sind.

Eine andere Wirkung dieses beklagenswerten Rufes ist: ein seltsamer Reiz, eine dunkle Glorie, in den Augen der Lasterhaften leuchtend, umgibt die Prinzessin. Sie ist der traurige Fahnenträger der Lesbierinnen. Immer knabenhaft, nimmt sie diese Rolle an, obgleich sie in Lesbos nichts weiter gehabt hat als Verrat für das Herz, Verdruß für den Körper! Armes Ding!


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