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Der zweite Tag der Belagerung verging unter der Beobachtung der Wilden und in steter Erwartung eines Angriffs. Von dem Wipfel der Kokospalme konnten unsere Freunde bemerken, daß die Wilden im Laufe des Vormittags großen Kriegsrath hielten. Sie saßen in einem weiten Kreise; einer von ihnen stand in der Mitte, hielt eine lange Rede, und focht dabei mit seiner Keule wild und heftig in der Luft herum. Erst gegen Nachmittag löste sich der Kriegsrath auf, und die Belagerten bemerkten, daß die Indianer jetzt sehr geschäftig waren, nach allen Richtungen hin die Kokosbäume niederzuschlagen, und eine Menge von Reisig zu sammeln.
Lange beobachtete Hurtig ihre Beschäftigungen, und stieg erst kurz vor Sonnenuntergang wieder vom Baume herunter.
»Herr Seagrave,« sagte er, »ich glaube nicht, daß wir diese Nacht noch einen Angriff zu erwarten haben; aber zu morgen können wir uns auf etwas sehr Ernsthaftes gefaßt halten. Die Wilden schlagen die Bäume nur nieder, um große Reisigbündel daraus zu machen. Es geht freilich langsam damit, weil ihre Beile nur von Stein sind und daher nicht sonderlich schneiden; doch Beharrlichkeit führt zum Ziel, und viele Hände können Vieles thun. Ich bin überzeugt, sie arbeiten die ganze Nacht hindurch fort, bis sie so viele Bündel zusammen haben, wie sie gebrauchen.«
»Aber was mögen sie damit beabsichtigen, Hurtig?«
»Jedenfalls,« antwortete Robinson, »thürmen sie die Bündel an der Außenseite unserer Pallisaden auf, um entweder mit ihrer Hülfe darüber hinwegsteigen zu können, oder aber, sie stecken sie in Brand, und suchen uns durch Feuer zu vernichten.«
»Um Gotteswillen, das ist ja schrecklich! Glaubt Ihr, daß es ihnen gelingen wird?«
»Zum wenigsten nicht ohne bedeutenden Verlust. Vielleicht schlagen wir sie sogar zurück, obgleich es ein hartes Gefecht geben wird, härter jedenfalls als irgend eins der bisherigen. Die Frauen müssen wieder die Gewehre laden, damit wir so schnell wie möglich feuern können, und das jagt den Indianern vielleicht einen heilsamen Schrecken ein. Vor ihren Anstalten, uns zu verbrennen, würde ich mich eben nicht fürchten, wenn der Rauch nicht zu lästig wäre. Kokosbaumholz mit der Rinde daran, woraus unsere Pallisaden gemacht sind, mögen wohl verkohlt werden, in Flammen aber gerathen sie nicht, so lange sie noch grün sind und aufrecht stehen. Ueberdieß wird das Feuer der Wilden zwar hoch auflodern und eine gewaltige Flamme geben, aber lange anhalten wird's nicht.«
»Bei alledem, Hurtig, wie mögen wir im Stande sein, bei dem jetzigen schrecklichen Wassermangel unsere Kräfte aufrecht zu erhalten, und dem Einfluße der Hitze und des qualmenden Rauches zu widerstehen? Wir werden erliegen, nicht durch Feigheit und Kleinmuth, sondern durch gänzliche Erschöpfung.«
»Wir müssen das Beste hoffen, Herr Seagrave, und unser Bestes thun! Wenn mir aber ja während des Gefechtes etwas Menschliches begegnen sollte, so erinnern Sie sich daran, daß der Rauch und Qualm dazu dienen kann, einen etwaigen Rückzug zu verbergen. Müssen Sie weichen, so entfliehen Sie in den Wald, und schlagen den Weg zu den Zelten ein. Da die Wilden uns, wenn sie wirklich die Feuer anzünden, auf der Luvseite angreifen werden, so müssen Sie leewärts zu entfliehen versuchen, für welchen Fall ich William auch schon gezeigt habe, wie er die Pallisaden niederreißen muß. Die Indianer werden in dem ersten Jubel über ihre Eroberung nicht an eine Verfolgung denken, und vielleicht auch nicht einmal später sich nach Euch umsehen, wenn sie Alles, was sie wollen und wünschen, vollständig erreicht haben.«
»Warum fürchtet Ihr, daß Euch etwas zustoßen sollte, lieber Hurtig?« fragte William.
»Weil es leicht möglich ist, mein Junge, daß ich verwundet oder getödtet werde, wenn die Wilden ihre Reisigbündel aufstapeln, und mit ihrer Hülfe die Pallisaden zu erstürmen suchen. Das kann mir und uns Allen passiren.«
»Freilich wohl,« erwiederte William, »aber noch sind sie nicht so weit, und sollen erst einen schweren Kampf bestehen, bis es dahin kommt.«
Hurtig wendete sich jetzt zu Herrn Seagrave, und sagte ihm, daß er bis Mitternacht Wache halten und dann ihn zur Ablösung rufen würde. Auf diese Versicherung hin begab sich Herr Seagrave in's Haus.
Während der letzten zwei Tage hatten übrigens unsere Freunde nur wenig genossen. Es war allerdings eine Schildkröte geschlachtet und ein Theil davon gebraten worden, aber das Essen vermehrte nur den Durst, und selbst die Kinder wiesen jede Speise zurück. Ihre Qualen hatten eine wahrhaft fürchterliche Höhe erreicht, und Madame Seagrave wurde vor Schmerz und Kummer beinahe wahnsinnig.
Als Herr Seagrave in's Haus getreten war, rief Hurtig William zu sich.
»Mein lieber Junge,« sagte er zu ihm, »wir müssen Wasser haben. Ich kann die Marter der kleinen Kinder, die Verzweiflung deiner armen Mutter nicht länger mit ansehen, und überdieß werden wir ohne Wasser morgen nicht im Stande sein, die Wilden zurück zu schlagen, sondern müssen unfehlbar in dem Qualme und Rauche ihres Feuers ersticken. Ich werde deßhalb jetzt eins von den kleinen Fässern nehmen, an die Quelle hinunter gehen, und Wasser herbei holen. Mag es gelingen oder nicht, versucht soll's werden, und müßte ich das Wagstück mit meinem Leben bezahlen. Ich kann's nicht ändern.«
»Aber warum laßt Ihr nicht lieber mich gehen, Hurtig?« fragte William.
»Aus mancherlei Gründen nicht, mein Junge;« erwiederte Robinson. »Der Wichtigste davon ist, daß dir, aller Wahrscheinlichkeit nach, das Stückchen nicht so leicht glücken wird als mir. Verstehst du, ich verkleide mich, ziehe das Kriegsgewand eines Wilden an, der todt in unsern Hof herunter fiel, schmücke mich mit seinen Federn, und denke, daß mich dieß hinreichend verstellen wird. Von seinen Waffen nehme ich nur den Wurfspeer mit, da die Uebrigen mir nur im Wege sein, und meine Last unnöthiger Weise vermehren würden. – Nun merke wohl auf. Sobald du mich zur Thür hinaus gelassen hast, machst du sie für den Nothfall wieder zu, verrammelst sie aber nur mit einer von den Bohlen, die du zwischen die Pfosten der zweiten Thür legst. Sie wird, selbst wenn ihr in meiner Anwesenheit angegriffen werdet, wenigstens so lange halten, bis ihr sie vollends mit den übrigen Balken sichern könnt. Wenn das geschehen ist, mein Junge, so mußt du auf meine Rückkehr Acht geben, und dich bereit halten, mich jederzeit schnell und ohne Zögern herein zu lassen. Das ist Alles, was du beobachten mußt. Hast du mich verstanden?«
»Vollkommen, Hurtig, aber ich fühle eine Angst, eine Beklemmung, die ich gar nicht beschreiben kann. Wenn Euch ein Unfall zustoßen sollte – großer Gott, welch' ein Elend wäre das für uns!«
»Ja, William, dagegen läßt sich nun einmal nichts thun! Wasser soll und muß herbei geschafft werden, und es ist besser, jetzt den Versuch zu machen, als später, wo wir vielleicht sorgfältiger bewacht werden. Eben jetzt haben die Wilden zu arbeiten aufgehört und sitzen bei'm Essen. Wenn ich also ja auf Jemand stoßen sollte, so kann es immer nur ein Weib sein.«
Hurtig ging hinweg und holte ein Fäßchen herbei, das etwa einen halben Eimer Wasser faßte. Darauf legte er den Kopfputz und die Kleider des Indianers an, nahm das Fäßchen auf die Schulter, den Spieß in die Hand, und bedeutete William, die Bohlen, welche die Thür versperrten, leise hinweg zu nehmen. Als sich hierauf beide überzeugt hatten, daß keiner von den Wilden hinter den Pallisaden verborgen lag, drückte Hurtig zum Abschiede Williams Hand, ging mit schnellen Schritten quer über den freien Platz von den Pallisaden hinweg, und erreichte glücklich und ohne aufgehalten zu werden den Kokoswald.
William schaute ihm ein Weilchen nach, schloß sodann der Verabredung gemäß die Thür wieder, legte einen der Balken vor die inneren Pfosten, und blieb sodann auf der Lauer stehen.
Die Ungewißheit und der Zweifel, ob das Wagstück auch gelingen werde, versetzte den armen Jungen in die furchtbarste Aufregung. Er horchte gespannt auf das leiseste Geräusch, und selbst das schwache Rauschen des Windes in den Zweigen und Blättern der Kokospalmen jagte ihm Schrecken ein und machte ihn erzittern. So stand er einige Minuten, das Gewehr schußfertig zur Hand, mit einem Herzen voll Furcht und Erwartung.
»Wo mag er nur bleiben?« dachte er, als kaum wenige, ihm endlos dünkende Minuten verstrichen waren. »Die Entfernung beträgt kaum hundert Ellen; er ist lange genug fort und könnte schon wieder hier sein, und dennoch vernehme ich noch immer nicht das Geräusch seiner Schritte.«
Plötzlich fuhr er zusammen; es war ihm, als ob er leise Fußtritte vernommen hätte. Er schaute sich beinahe die Augen blind, und siehe, da nahte Hurtig, und kehrte munter und vergnügt aus dem Walde zurück. Voller Freude machte sich William sogleich an das Oeffnen der Thür, und hatte schon seine Hand an die Bohle gelegt, um sie wegzunehmen, als er plötzlich ein lautes Getümmel vernahm, und einen schweren Fall, nahe bei der Thüre hörte. Mit verdoppelter Hast riß er die Thür auf und trat in dem Augenblicke in's Freie, als Hurtig eben seinen Namen rief. Der alte Mann war im Kampfe mit einem Feinde begriffen. Ein riesiger Indianer hatte ihn auf den Rücken geworfen, kniete jetzt auf seiner Brust und bohrte ihm mit aller Kraft seinen Speer in die Seite. William schrie vor Schrecken laut auf, riß sein Gewehr an die Wange, zielte nur einen Augenblick, drückte ab, und schoß den Wilden auf der Stelle nieder. Er fiel todt neben Hurtig auf die Erde hin.
»Nimm geschwind das Wasser und trag' es hinein,« sagte Hurtig mit schwacher Stimme. »Bekümmre dich nicht um mich, mein Junge, ich will schon sehen, wie ich hineinkriechen kann!«
William nahm das Wasserfäßchen, trug es schnell hinter die Pallisaden, und kehrte dann im Fluge zu Hurtig zurück, den er auf den Knieen liegend fand. Herr Seagrave, der den Schuß gehört hatte, kam ebenfalls herbei gelaufen, fand das Thor offen, und folgte William in's Freie. Als er sah, wie der Knabe sich anstrengte, den alten Hurtig zu unterstützen, sprang er ihm zu Hülfe und faßte ihn unter den Arm. Beide führten den wankenden Freund in das Innere der Pallisaden, legten ihn sanft nieder, und schlossen dann wieder die noch offene Thür.
»Seid Ihr verwundet, Hurtig, lieber, alter Freund?« fragte William voll Seelenangst.
»Ja, mein lieber Junge, ja!« antwortete Robinson. »Ich fürchte, auf den Tod verwundet, der Spieß ging mitten durch meine Brust. Aber, Wasser, William! Reiche mir geschwind ein wenig Wasser, ich verschmachte!«
»Ach Gott, ach Gott!« rief Herr Seagrave; »wenn wir nur etwas hätten.«
»Wir haben, Vater!« sagte William mit tiefer Traurigkeit; »aber oh! es kommt uns theuer zu stehen.«
Er rannte nach einem Napfe, schlug den Spund aus dem Fasse, goß ein wenig Wasser heraus, und reichte dieß Hurtig hin, der es mit großer Begierde trank.
»Nun, William,« sagte er darauf, »laß mich ruhig auf den Kokoszweigen liegen, und erquicke auch die Andern mit ein wenig Wasser. Wenn sie Alle getrunken haben, dann komm wieder zu mir. Sage aber deiner Mutter nichts davon, daß ich verwundet bin – hörst du wohl, lieber Junge?«
»Vater, ich bitte dich, nimm du das Wasser und trag' es hinein,« sagte William; »ich kann Hurtig jetzt nicht verlassen.«
»Ja, lieber Sohn, herzlich gern,« erwiederte Herr Seagrave; »aber trink' du selber erst einmal.«
Der ganz erschöpfte und schwache Knabe trank ein Näpfchen voll Wasser aus, und fühlte sich davon unbeschreiblich erfrischt und ganz wie neu geboren. Während hierauf sein Vater zu Madame Seagrave und den Kindern eilte, setzte er sich an Hurtig's Seite nieder und ergriff dessen Hand.
Hurtig athmete schwer, sprach aber kein Wort.
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