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2. Kapitel.
Herr Seagrave und seine Familie.

Der Pacific, nach dem Sturme.

Während Robinson Hurtig oben auf dem Verdeck hin und her spazierte, und trotz Sturm und Wogendrang achtsam seinen Dienst versah, befand sein junger Freund William sich unten in der Kajüte, im Kreise seiner Familie, deren nähere Bekanntschaft wir nun machen wollen.

Herr Seagrave, der Vater, ein ruhiger, verständiger Mann, hatte mehrere Jahre hindurch ein wichtiges Amt bei dem englischen Gouvernement zu Sidney, der Hauptstadt von Neusüdwales, bekleidet. Eben jetzt war er im Begriff, nach einem Urlaube von drei Jahren, welchen er mit seiner Familie in England zugebracht hatte, in seine Heimath zurückzukehren, um daselbst in Zukunft die Verwaltung seines Eigenthums, sehr ausgedehnter Ländereien nämlich, die er in der Kolonie besaß, zu übernehmen. Bisher hatte die nöthigen Geschäfte ein Haushofmeister besorgt, und die Güter waren so vortrefflich bewirthschaftet worden, daß ihr Werth in neuerer Zeit sehr bedeutend gestiegen war. Besonders hatte Herr Seagrave von seinen zahlreichen Viehheerden schon ansehnliche Einkünfte bezogen. Theils um seine Güter in noch bessern Stand zu setzen, theils auch um der größeren Eleganz und Behaglichkeit seines Hauswesens willen, führte Herr Seagrave eine große Menge verschiedenartiger Gegenstände mit sich, die er in Neusüdwales gar nicht, oder doch nur mit großer Mühe und ungeheuren Kosten hätte anschaffen können. Die verschiedenen Räume des Schiffes enthielten Meubles, Ackergeräthschaften, Sämereien, Pflanzen, Hausthiere und noch tausenderlei solche und ähnliche Gegenstände für ihn, mit deren Aufzählung wir uns jedoch vorläufig nicht befassen, sondern nur erwähnen wollen, daß Herr Seagrave mit Verstand und Umsicht für alles Nöthige Sorge getragen hatte.

Mistreß Seagrave, seine Gemahlin, war eine höchst liebenswürdige und vortreffliche Frau, die zärtlichste Mutter, die liebevollste Gattin. Leider erfreute sie sich nicht der besten Gesundheit, und hatte oft mit Kränklichkeit und Unwohlsein zu kämpfen. Ihren ältesten Sohn, unsern jungen Freund William, kennen wir schon als einen aufgeweckten, thätigen und kraftvollen Knaben, der in jeder Hinsicht seinen Eltern zur Freude gereichte. Thomas, oder Tommy, wie er gewöhnlich kurzweg gerufen wurde, sein jüngerer Bruder, glich ihm nur wenig. Es steckten viele Unarten in ihm, und er war stets bereit, thörichte Streiche auszuführen, wenn man ihm nicht fortwährend die sorgfältigste Aufmerksamkeit widmete. Doch entsprangen seine Fehler mehr aus Gedankenlosigkeit, als aus bösem Herzen, und überdieß zählte er erst sechs Jahre. Eine zweckmäßige Erziehung, so hoffte sein Vater, würde ihn mit der Zeit schon noch zu einem ordentlichen Menschen machen. Karoline, ein allerliebstes, artiges Mädchen von sieben Jahren, und der kleine, erst einjährige Albert, waren die übrigen Kinder Herrn Seagrave's. Seine Dienerschaft bestand einzig und allein aus Juno, einer Negerin vom Kap der guten Hoffnung, deren Geschäfte sich während der Ueberfahrt meist auf die sorgsame Pflege des kleinen Albert beschränkten. Sie war gutmüthig und willig, und hatte die Familie nach England begleitet.

Hiemit hätten wir denn alle Personen an Bord des Pacific aufgeführt, dürfen jedoch nicht vergessen, noch zweier Schäferhunde, die Herrn Seagrave, und eines kleinen Dachshundes, der dem Kapitän Osborn gehörte, Erwähnung zu thun, da sie mit der Zeit vermuthlich noch öfters unsere besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen werden.

Mittlerweile wüthete der Sturm mit unverminderter Kraft und ohne Unterbrechung drei Tage und drei Nächte fort, und begann erst am Morgen des vierten Tages seine furchtbare Heftigkeit in Etwas zu mäßigen. Nach und nach lullte er immer mehr ein; die Stöße folgten immer seltener auf einander, und endlich wehete er so schwach, daß beinahe völlige Windstille eintrat. Die empörten Wogen beruhigten sich; das Schiff wurde nicht länger von ihnen, gleich einer Nußschale, umhergeschleudert, und glitt schon am Abende des vierten Tages sanft und gleichmäßig dahin. In der Nacht ebneten sich die Wasser völlig, und nur ein milder, würziger Wind kräuselte noch sanft und lieblich die glänzende Oberfläche des Wassers.

Die armen Matrosen, die während der ganzen Dauer des Sturmes kein Auge hatten schließen dürfen, konnten sich nun der erquickendsten und süßesten Ruhe hingeben. Zuvor aber warfen sie ihre völlig durchnäßten Kleider ab, und hingen sie am Takelwerk zum Trocknen aus; spreiteten darauf die klatschnassen Segel aus einander, damit sie von der harzigen Feuchtigkeit nicht verderbt werden mögten, und suchten dann erst, als es nichts Wichtiges mehr zu thun gab, ihre Schlummerstätten, die Hängematten, auf. Sie schliefen fest und erquicklich bis zum nächsten Morgen, und erwachten erst lange nach dem Aufgange der Sonne mit neuem Lebensmuthe und neuer Kraft.

Um die Mittagsstunde des ersten völlig wieder heiteren Tages finden wir die ganze Familie Seagrave auf dem Verdecke des Schiffes versammelt. Mistreß Seagrave saß, sorgfältig von einem großen Mantel umhüllt, in einem bequemen Armstuhle, nahe am Sterne des Schiffes. Ihr Gatte und die fröhlich jauchzenden Kinder waren in ihrer Nähe versammelt, und alle ohne Ausnahme freuten sich des heiteren blauen Himmels und der glatten Fläche des Meeres, welche dem rasenden Toben der Elemente gefolgt war. Der Wind blies schwach, aber stet, und trieb das Schiff vier Meilen in der Stunde vorwärts. Während Eltern und Kinder fröhlich mit einander plauderten und scherzten, trat Kapitän Osborn, den Sextanten, mit dem er so eben den Stand der Sonne beobachtet hatte, unter dem Arm, zu ihnen, und grüßte alle mit Herzlichkeit und freundlichem Gesichte.

»Nun, Tommy, du kleiner Märzhase,« scherzte er, »bist du froh, daß der Sturm vorüber ist?«

»Gewiß bin ich's, obgleich ich keine Angst hatte,« erwiederte der kleine Bursch, indem er schelmisch lächelnd den Kapitän anschaute; »aber ich habe mich alle Tage ärgern müssen, weil ich immer die Hälfte von meiner Suppe verschüttete, und Juno da ist mit dem Stuhle umgepurzelt, und ist mit sammt dem kleinen Brüderchen auf dem Boden umher gekugelt, bis der Papa alle beide aufgehoben hat. Das war eine schöne Geschichte!«

»Ja gewiß!« bemerkte Frau Seagrave. »Wir können Gott danken, daß er den kleinen Albert in dieser Gefahr beschützt hat. Es ist ein wahres Glück, daß er ohne Verletzung der zarten Glieder davon gekommen ist.«

»Und nächst Gott müssen wir der guten Juno dankbar sein,« sagte Herr Seagrave, die Negerin freundlich anblickend. »Ohne auf sich selbst zu achten, war sie nur um das Wohl des Kleinen besorgt, und hütete ihn, wie ihren Augapfel.«

»Ja, ja, ich habe davon gehört,« sprach Kapitän Osborn, »doch hoffe ich, daß sie das Knäbchen gerettet hat, ohne sich selbst Schaden zu thun.«

»Ich mein Kopf sehr stark anstoßen,« sagte Juno, aber mit heiterem Lächeln.

»Nun,« rief der Kapitän, und lachte herzlich, »so ist es ja ein wahres Glück, daß du auf deinem Kopfe einen so schönen, dicken, krausen Pelz zum Schutze hattest, Juno. – Doch sei nicht böse, mein Mädchen,« setzte er schnell hinzu, und reichte ihr die Hand, als er sah, daß bei dem Scherze die Freundlichkeit von Juno's Gesichte verschwand, – »ich mein' es gut mit dir, und weiß ja, daß du ein braves Mädchen bist.«

Juno lachte wieder mit dem ganzen Gesichte bei diesem Lobspruche, und der Kapitän wendete sich nach seinem Steuermanne um, der so eben herangeschritten kam.

»Es ist zwölf Uhr nach dem Stande der Sonne, Sir!« sagte Herr Mackintosh mürrisch.

»Gut, Herr!« erwiederte der Kapitän. »So nehmen Sie denn die Breite auf, während ich nach meinen eigenen Beobachtungen die Länge ermitteln werde. In fünf Minuten, Herr Seagrave,« wendete er sich darauf zu diesem, »will ich Ihnen auf das Genaueste sagen, auf welchem Fleckchen der lieben Mutter Erde wir uns eben jetzt befinden.«

Während Kapitän Osborn seine Berechnungen anstellte, kamen mit lautem Gebelle die beiden Schäferhunde Herrn Seagrave's auf's Deck gerannt, und setzten, heulend und bellend, mit großen Sprüngen darauf umher.

»Seht doch die Hunde,« rief William lebhaft. »Sie scheinen sich in der That nicht minder über das schöne Wetter zu freuen, wie wir vernünftigen Wesen. Komm her, Romulus! Hierher, Remus! Remus, her da!«

Die Thiere gehorchten schwanzwedelnd dem Rufe, und wurden dafür freundlich auf den Rücken geklopft. Der alte Hurtig stand mit seinem Quadranten daneben, und schaute lächelnd dem Kosen der Hunde zu. Plötzlich wendete er sich zu Herrn Seagrave, und sagte: »Ihre Hunde da, Sir, haben ein Paar ganz absonderliche Namen, die ich mein Lebtage noch nicht gehört habe. Romulus und Remus! Bitte, sagen Sie mir, wer und was waren die Beiden?«

»Romulus und Remus sind die Namen zweier Brüder, die vor uralten Zeiten die Stadt Rom gründeten, deren Herrlichkeit und Pracht nachmals alle übrigen Städte der Welt verdunkelte,« erwiederte Herr Seagrave. »Die beiden Brüder waren ihre ersten Könige, und regierten den aufblühenden Staat gemeinschaftlich.«

»Was sagt Ihr aber dazu, Hurtig, daß eben jene Beiden von einer Wölfin in der Wildniß aufgesaugt worden sind?« fragte William.

»Je nun, ich meine, das muß eine recht bärbeißige Amme gewesen sein, der ich für mein Theil die Kinder gewiß nicht anvertraut hätte,« erwiederte Hurtig mit einem gutmüthigen Lächeln.

»Ja, und Romulus schlug später seinen Bruder todt,« sagte William.

»Das wundert mich eben nicht, wenn ich bedenke, wie und von wem er erzogen ward,« sagte Robinson. »Aber sprich, William, warum denn erschlug er ihn?«

»Weil er ein bischen zu hoch sprang!« erwiederte der schalkhafte Knabe lachend.

»Der Junge will mich wohl zum Narren haben,« sagte Robinson Hurtig, indem er sich zu Herrn Seagrave wendete, ein wenig zweifelhaft.

»O nein, lieber Freund,« entgegnete Herr Seagrave, »er erzählt nur wieder, was uns die Geschichtschreiber des Alterthums von der Sache mittheilen. Sie berichten, daß Romulus eine Mauer um die Stadt Rom aufführen ließ, und daß Remus, um seinen Bruder zu ärgern und zu kränken, die geringe Höhe derselben bespöttelte, und über sie hinwegsprang. Im ersten Zorne griff Romulus zu seinen Waffen, stürzte über Remus her und tödtete ihn. So lautet die Geschichte, deren Wahrheit wir übrigens dahingestellt sein lassen wollen, da man den alten Schriftstellern nicht immer auf's Wort glauben darf.«

»Mag dem sein wie ihm wolle,« sagte Robinson Hurtig, bedächtig, »jedenfalls bestätigt das Mährlein das alte Sprichwort, daß zwei Brüder in Einem Hause nicht gut zusammen thun. Doch sagen Sie mir, Herr, ist das Rom, von dem Sie so eben erzählten, dieselbe Stadt, welche noch heut zu Tage öfters erwähnt wird?«

»Nicht dieselbe, aber doch die Ueberbleibsel und Trümmer von der vormaligen Welthauptstadt!« sagte William. »Ihre Pracht ist zerstoben, ihre Herrlichkeit ist dahingesunken, ihre Macht ist gebrochen. Sie ist kaum noch der Schatten von dem, was sie vor Jahrhunderten war.«

»Ich danke dir für deine Belehrung, mein Junge,« sagte der alte Hurtig, dem Knaben treuherzig die Hand schüttelnd. »Ja, ja, so alt man auch werden möge, immer gibt es noch Gelegenheit, etwas Neues zu lernen, und nimmer lernt man es besser, als wenn man bei seiner Unwissenheit geradezu fragt, selbst auf die Gefahr hin, von thörichten Menschen einmal ausgelacht zu werden. Die wenigen Kenntnisse, die ich besitze, habe ich auf solche Art und Weise erworben, und gebe einem Jeden den aufrichtigen Rath, meinem Beispiele zu folgen. Gewiß wird sich Niemand übel dabei stehen.«

»Merke dir diese Worte, lieber William,« sagte Herr Seagrave zu seinem Sohne, »und schäme dich niemals, eine Frage zu thun, wenn dir irgend eine Sache nicht recht klar und deutlich erscheint.«

»Oh, ich schäme mich dessen niemals, liebster Vater,« erwiederte William voll Eifers. »Lege ich Euch nicht alle Tage tausend Fragen vor, Robinson?«

»Ja gewiß thust du das, mein Junge,« sagte der alte Hurtig, beifällig, mit dem Kopfe nickend. »Und ich kann wohl behaupten, daß es immer recht gescheidte Fragen für solchen jungen Knaben sind, wie du bist. Schade nur, daß ich sie bisweilen nicht so vollkommen beantworten kann, wie ich es wohl mögte.«

Mistreß Seagrave unterbrach jetzt das Gespräch, indem sie den Wunsch äußerte, das Verdeck zu verlassen und sich wieder in die Kajüte zu begeben. »Steh' mir bei, bester Mann,« bat sie ihren Gatten, »und Ihr, Robinson, habt wohl die Güte, meinen kleinen Albert hinab zu tragen.«

»Herzlich gern,« versicherte der alte Seemann, und nahm sogleich der Negerin den Kleinen ab.

»Steig' nur voraus, Juno,« sagte er zu dieser, »ich komme mit dem Jüngelchen schon nach. Aber rückwärts! Rückwärts mußt du die Leiter hinunter klimmen, dummes Mädchen! Wie oft soll ich dir das noch sagen! Ich seh's kommen, daß du eines Tages schneller, als es dein Wille ist, hinabsegelst!«

»Und brechen Genick, Hurtig?« stammelte die Negerin erschreckt.

»Ja, oder das Bein, oder den Arm, und wer sollte dann das herzige Bübchen hier tragen? Du mußt hübsch vorsichtig sein, schwarzes Ding.«

»Juno künftig alles besser machen,« sagte die Negerin, und stieg vorsichtig die Lukentreppe hinab. Robinson Hurtig folgte schnell aber bedachtsam.

Als alle wieder in der Kajüte versammelt waren, breitete Kapitän Osborn eine Seekarte auf dem Tische aus, und suchte mit Herrn Seagrave die Gegend des Meeres auf, in welcher sich zu dieser Zeit das Schiff befand. Sie ermittelten nach wenig Minuten, daß sie sich bis auf 50 Stunden dem Kap der guten Hoffnung auf der Südspitze von Afrika genähert hatten.

»Morgen schon, wenn irgend der Wind anhält, werden wir das Festland betreten können,« sagte bei dieser Entdeckung Herr Seagrave erfreut zu seiner Gattin. »Und du, Juno,« wendete er sich zu der Negerin, »findest wohl gar Vater und Mutter in der Kapstadt.«

Betrübt schüttelte Juno ihren Kopf, und zerdrückte eine helle Thräne in ihrem Auge. »Nicht Vater finden, nicht Mutter finden,« sagte sie mit trauriger Stimme. »Vater und Mutter weit fort in das Innere von Land. Arme Juno nicht sehen.«

Des weiteren erzählte sie, daß ihre Eltern Sclaven seien, und von ihrem Herrn in entfernte Länder geführt worden wären. Sie selbst sei als kleines Kind in der Kapstadt zurückgelassen, und durch eine seltsame Verkettung außerordentlicher Umstände nach Neusüdwales verschlagen worden, um dort Herrn Seagrave als Sclavin zu dienen.

»Aber jetzt bist du keine Sclavin mehr, Juno,« tröstete Herr Seagrave die Negerin. »Du bist frei, wie alle, die nur einmal Englands Boden betreten haben. Freue dich daher, und sei vergnügt.«

»Wenn auch frei,« erwiederte schluchzend das Mädchen, »arme Juno doch nicht Vater, nicht Mutter mehr haben. Das sehr traurig sein.«

Sie weinte fort, und Herr Seagrave gab nun den Versuch, das Mädchen zu trösten, auf, und überließ es sich selbst. Juno vergoß noch einige Thränen. Als jedoch der kleine Albert zu schreien anfing, und sie ihn schnell auf den Arm nahm, um ihn zu beruhigen; als das Knäbchen sie freundlich anlächelte, und ihr zuletzt gar die Wange streichelte, da wurde sie auf einmal wieder fröhlich, vergaß ihren Kummer, spielte mit dem holden Kinde, lachte mit ihm und sang ihm endlich ein munteres Wiegenlied.

Darüber verging der Tag; die Nacht dämmerte herauf mit ihren funkelnden Sternen, und aller Augen schlossen sich zu dem sanftesten Schlummer.

*


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