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58. Kapitel.
Tommy und das Boot.

In den nächsten vierzehn Tagen schritt die Arbeit bei den Pallisaden ohne eine Unterbrechung ruhig fort. Dann aber ereignete sich ein Unfall, der die ganze Familie in die größeste Bestürzung und Aufregung versetzte. Eines Tages nämlich, als die fleißigen Arbeiter zum Mittagsessen nach Hause kamen, sah sich Madame Seagrave vergebens nach Tommy um, und fragte erschrocken, ob der Knabe nicht bei ihnen gewesen sei?

»Nein,« erwiederte Herr Seagrave, »er hat sich den ganzen Tag über nur wenig bei uns blicken lassen. Gleich nach dem Frühstücke ging er zwar mit zu dem Magazine, blieb aber kaum eine Viertelstunde bei uns.«

»Ja, Ma'am,« bestätigte Juno. »Ich sagen Massa Tommy, mir helfen Kokosblätter forttragen, Massa Tommy aber dann fortlaufen.«

»Mein Gott, wo mag er nun stecken?« rief Madame Seagrave ängstlich.

»Er wird wohl Muscheln suchen am Ufer, Madame Seagrave,« erwiederte Hurtig beruhigend, »oder vielleicht im Garten sein. Ich will gleich nach ihm suchen.«

»Und ich will mitgehen, Hurtig,« sagte William.

»Ich ihn sehen!« rief Juno plötzlich, mit dem Finger auf das Meer deutend. »Ich ihn sehen! O, Himmel! Er in Boot sein und Boot gehen in See!«

Und leider zeigte sich dieß nur zu wahr. Tommy hatte sich in's Boot begeben, das Boot aber war vom Ufer abgetrieben worden, und schwankte nun, auf Kabellänge davon entfernt, zwischen den Klippen des Felsenriffs umher.

William rannte alsbald schnell wie der Wind nach dem Ufer hinab. Ihm dicht auf dem Fuße folgten sein Vater und Hurtig, und in einiger Entfernung Juno und Madame Seagrave, welche letztere in fürchterlicher Beängstigung schwebte. Uebrigens war auch gar keine Zeit zu verlieren. Der Wind wehete vom Lande her, und mußte das Boot sehr bald in das offene Meer hinaus treiben.

Sobald William den Strand erreichte, warf er Hut und Jacke von sich und sprang ohne Weiteres in das Wasser. Schon war er bis über den Leib hinein gewatet, als der alte Hurtig, der ihm schnell gefolgt war, ihn bei'm Arme faßte und fest hielt.

»Du gehst augenblicklich zurück, William!« sagte er. »Ich bestehe darauf! Dein Hineingehen kann gar nichts nützen, denn du verstehst die Sache nicht, und da ich überdieß selber gehen werde, so ist eine doppelte Gefahr überflüssig. Herr Seagrave, befehlen Sie ihm, daß er zurück geht! Ihnen wird er gehorchen. Ich bestehe darauf, Herr!«

»Komm sofort zurück, William!« rief sein Vater. »Ich befehle es dir!«

William gehorchte, und ehe er noch ganz aus dem Wasser war, schwamm Hurtig bereits den nächsten Felsen des Riffs zu und watete durch die seichten Stellen zwischen den Felsen auf das Boot zu.

»Vater!« rief William, »wenn der gute alte Mann umkäme, ich würde es mir zeitlebens nicht verzeihen können. Ich that Unrecht, gewiß, großes Unrecht, als ich dir gehorchte! Sieh nur, Vater, da sind Haifische! Zwei, drei, vier! Dicht bei uns! O Gott, er wird umkommen! Sieh, jetzt ist er wieder im tiefen Wasser. Allgütiger Himmel, schütze ihn! O Gott, erhöre mein Gebet!«

Herr Seagrave warf einen kurzen, hastigen Blick auf die Haifische, die wenige Schritte vom Ufer durch das Wasser glitten, und richtete dann sein Auge mit starrem Blicke wieder auf Hurtig's Bewegungen. Bleich und am ganzen Körper zitternd, stand seine Gattin, ebenfalls angstvoll die Scene beobachtend, neben ihm.

Wenn Hurtig erst die Durchfahrt zwischen den Felsen, also das tiefe Wasser, hinter sich hatte, konnte er als gerettet betrachtet werden, indem das Boot auf einem Felsen der gegenüber liegenden Seite, wo das Wasser seicht war, fest saß. Er schwamm rüstig vorwärts, aber die Durchfahrt hatte eine ziemliche Breite. Es war ein Augenblick der unermeßlichsten, athemlosesten Angst. – Endlich hatte Hurtig das Riff erreicht, klammerte sich am Felsen fest und kletterte empor.

»Jetzt ist er gerettet! Nicht wahr, bester Mann?« fragte Madame Seagrave mit matter, bebender Stimme.

»Ich glaube, daß er's ist!« erwiederte tief athmend Herr Seagrave, als er sah, daß Hurtig festen Fuß gefaßt hatte. »Es ist jetzt, so viel ich weiß, keine tiefe Stelle mehr zwischen ihm und dem Boote.«

Im nächsten Augenblicke schon schlüpfte Hurtig über den Felsen weg, ergriff die Seitenwand des Bootes und schwang sich hinein.

»Jetzt ist er drin!« rief William. »Gott sei Dank!«

»Ja, ja, wir müssen zu Gott beten und ihm mit voller Inbrunst des Herzens unsern Dank darbringen!«sagte Herr Seagrave. »Seht nur, wie schnell diese blutgierigen Ungeheuer von Haifischen hin und her schwimmen. Sie haben in der Tiefe des Meeres die Beute gewittert, und sind herauf gekommen, sie zu verschlingen. Aber sie täuschen sich! Glücklicher Weise ist Hurtig ihnen schon entgangen.«

»Ja, zu unserm größten Glücke, Vater,« erwiederte William. »Sieh, jetzt nimmt er den Bootshaken, und drängt das Boot vom Riffe in's tiefe Wasser. Jetzt ist er ganz gerettet!«

Hurtig dachte nicht so. Das Boot war nämlich mit Gewalt auf die Felsen getrieben worden, und hatte sich dabei ein tiefes Loch in den Boden gestoßen. Als es daher von Hurtig in die tiefe Durchfahrt geschoben wurde, drang augenblicklich das Wasser herein und es fing an zu sinken. Hurtig stieß, so schnell er vermogte, das Boot vollends vom Felsen hinweg, riß sein Halstuch ab, und stopfte damit in der größesten Eile den Leck zu. Dieß rettete sie für den Augenblick. Aber noch hatten sie den tiefen Kanal zwischen dem Riffe und dem Ufer, in welchem die Haifische gierig hin und wieder schossen, zu durchschwimmen, und das Boot war gefüllt beinahe bis zum Rande, so daß die leiseste unvorsichtige Bewegung Hurtig's oder Tommy's es unfehlbar umstürzen mußte. Und dann waren sie Beide unrettbar verloren.

Hurtig, dem die Gefahr nicht entging, rief den am Ufer Stehenden zu, sie mögten so kräftig sie könnten große Steine in's Wasser werfen, um auf diese Weise die Haifische in die Flucht zu jagen. Dieß geschah. Augenblicklich griffen Herr Seagrave und William zu den Steinen, schleuderten sie in's Wasser, und wurden in diesem Geschäfte von Juno und Madame Seagrave, welche in diesem gefahrvollen Augenblicke ihren ganzen Muth wieder errungen hatte, redlich unterstützt.

Die Steine wirkten; die Haifische schwammen davon, Hurtig arbeitete dem Ufer zu, und stieß in demselben Augenblicke an's Land, als eben das Boot bis an den Rand voll Wasser gefüllt war, und im Begriffe stand, unter zu sinken. Zunächst half er Tommy heraus, der so voller Angst war, daß er nicht einmal schreien konnte. Er sah blaß aus wie eine Leiche, und sperrte vor Schrecken Maul und Nase auf.

»Gott sei Preis und Dank, Hurtig, daß Ihr gerettet seid!« rief William, als der alte Mann das Ufer betrat, und warf sich in seine Arme. Herr und Madame Seagrave schüttelten ihm herzlich die Hand, und dankten ihm mit den innigsten Worten, bis Madame Seagrave endlich, überwältigt von dem Sturme ihrer Gefühle, ihren Kopf auf William's Schulter legte, und in lautes, heftiges Weinen ausbrach. Juno ergriff indessen, nachdem sie dem alten Hurtig freundlich zugelächelt hatte, Tommy's Hand, führte ihn hinweg und schalt ihn tüchtig aus.

»Du mitkommen, du böser, nichtswerther Bube!« sagte sie. »Du Tracht Schläge kriegen zu Abend, wenn Arbeit geschehen sein!«

Tommy fing über diese Drohung jämmerlich zu weinen an, und beruhigte sich erst, als er schon längst wieder zu Hause war.

»Dieß Mal ging's hart daran, William,« sagte Hurtig, als sie langsam hinter Herrn und Madame Seagrave her dem Hause zuschritten. »Wie viel Unheil kann durch einen unbesonnenen Knaben angerichtet werden! Und dennoch dürfen wir dem leichtsinnigen Jungen nicht gar zu sehr zürnen, da man nun einmal alte Köpfe nicht auf junge Schultern setzen kann.«

»Ich denke, er wird durch seine Furcht hinlänglich bestraft sein,« versetzte William. »Ich mögte darauf schwören, daß er sobald nicht wieder allein in das Boot geht.«

»Ich glaub' es selbst nicht,« erwiederte Hurtig. »Uebrigens, William, wirst du gesehen haben, wie wenig fehlte, daß ich mit dem Boote untergesunken wäre und wie uns nur des Himmels Gnade über dem Wasser erhielt. Und nun beantworte mir eine Frage: Glaubst du, mein Junge, daß du das Boot erreicht, und an's Ufer gebracht haben würdest, wie ich es that?«

»Nein, Hurtig, das glaube ich nicht,« entgegnete William ehrlich. »Nie würde ich in der Angst daran gedacht haben, mein Halstuch abzubinden und den Leck damit zu verstopfen. Und selbst, wenn ich's gethan hätte, würde ich das Boot nicht so geschickt, wie Ihr, haben leiten können, und es wäre gewiß untergegangen, ehe ich das Ufer erreicht hätte.«

»Siehst du wohl, William? Ich bin ein alter Seemann, du aber nicht, und darum ist es keine Eitelkeit, wenn ich sage, du würdest es nicht so gut geführt haben, wie ich es that. Mir selbst aber blieben nur drei oder vier Sekunden Zeit zur Rettung übrig, und demnach hättest du also, wenn du in meiner Stelle gewesen wärest, unfehlbar untergehen müssen. Meinst du nun nicht, daß ich recht that, als ich dich an's Ufer zurück trieb?«

»Ganz gewiß, Hurtig! Bei alledem ist Tommy mein Bruder, und es war daher eher meine, als Eure Pflicht, das eigene Leben an seine Rettung zu wagen.«

»Das ist ein ganz richtiges Gefühl, William, aber du mußt immer bedenken, daß du noch andere Pflichten hast, nämlich auf deine Eltern zu achten und ihnen ein Trost und eine Stütze zu sein. Ich bin ein alter Mann und stehe am Rande des Grabes; ein Paar Jahre Leben mehr oder minder machen da keinen Unterschied. Dein Leben aber ist von größerer Wichtigkeit. Welcher Jammer, welche Verzweiflung, welche nie versiegende Quelle von Kummer würde es für deine Eltern gewesen sein, wenn sie dich mit ihren eigenen Augen eines so fürchterlichen Todes hätten sterben sehen. Nie wieder in ihrem ganzen Leben würde die Freude ihnen gelächelt haben.«

»Aber würde ihr Schmerz wohl minder groß gewesen sein, wenn sie Euch, Hurtig, auf solche Weise hätten sterben sehen?«

»Ich glaube gern, daß sie auch mich und namentlich Tommy eine Zeit lang beweint und betrauert hätten, William; doch würde die Zeit ohne Zweifel solche Betrübniß endlich verwischt haben. Aber zwei Söhne auf einmal, und dabei ihren ältesten, bald erwachsenen Knaben zu verlieren, das würde, du magst sagen was du willst, schwer, unendlich schwer zu ertragen gewesen sein, und nur die lauteren und erhabenen Tröstungen der Religion würden deine Eltern dahin haben bringen können, solchem fürchterlichen Schicksale sich mit Ergebung zu unterwerfen. – Doch hier sind wir am Hause – laß uns weiter nicht davon sprechen.«

Feierlicher als sonst lauteten am heutigen Abende die Gebete, herzlicher, aufrichtiger und tiefer gefühlt waren die Danksagungen, die zum Throne des Ewigen emporstiegen. Ganz erschöpft von den angreifenden Ereignissen des Tages begaben sich bald darauf alle unsere Freunde zur Ruhe.

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