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Da man den andern Morgen kein dringenderes Geschäft zu besorgen hatte, so griffen Herr Seagrave und Hurtig nach den Angelleinen, um den Fischvorrath im Teiche so viel als möglich zu vermehren. Das Wetter war schön und kühl, und William ging deßhalb mit an den Strand, um einen Mund voll frische Luft zu schöpfen.
Als unsere Freunde am Garten vorüber schritten, bemerkten sie mit Wohlgefallen, daß die der Erde anvertrauten Sämereien bereits aufgegangen und etwa zwei Zoll hoch in die Höhe geschossen waren. Auch nicht ein einziges Körnlein schien ausgeblieben zu sein, denn die Pflanzen standen schön und gleichmäßig, und nirgends bemerkte man eine Lücke.
Als Hurtig und Herr Seagrave die Angelschnüre auswarfen, setzte sich William neben sie nieder, und schaute ein Weilchen still und nachdenklich ihrer Beschäftigung zu. Endlich sagte er:
»Meinst du nicht, lieber Vater, daß ein großer Theil der uns zunächst gelegenen Inseln bewohnt ist?«
»Es kann möglich sein,« erwiederte Herr Seagrave. »Doch glaube ich es, wenigstens von den nächsten, nicht, da ich nie in einer Reisebeschreibung gelesen habe, daß auf unserer Inselgruppe hier jemals Einwohner gesehen worden sind.«
»Zu welchem Volksstamme gehören die Einwohner dieser Gegend, Vater?«
»Man kennt mehrere Stämme der Südsee-Insulaner,« erwiederte Herr Seagrave. »Die Neuseeländer sollen, obgleich sie noch immer Menschenfresser sind, am weitesten in Gesittung und Bildung vorgeschritten sein. Die Einwohner von Vandiemensland und Australien aber stehen jedenfalls auf einer sehr niedrigen Stufe der Civilisation, und sind in der That nicht viel besser, als die Thiere der Wildniß. Ich bin überzeugt, daß sie von allen menschlichen Wesen am weitesten zurück sind.«
»Das glaube ich kaum, lieber Herr Seagrave,« fiel Hurtig ein. »Ich kenne die Australier auch und stimme Ihrer Schilderung von diesem Volke im Allgemeinen bei; doch kenne ich noch einen andern, freilich nicht sehr zahlreichen Stamm von menschlichen Wesen, der den wilden Thieren des Waldes noch weit ähnlicher ist. Als ich die Leutchen zuerst erblickte, hielt ich sie im Anfange wirklich für Thiere.«
»Was Ihr sagt, Hurtig! Und wo wohnen sie?«
»Auf den großen Andaman-Inseln, am Eingange des bengalischen Meerbusens. Ich ankerte einmal in Sturmesnöthen zu Port-Cornwallis, dessen prächtiger Seehafen wohl die ganze englische Marine aufnehmen könnte, und erblickte am Morgen, nachdem wir die Anker ausgeworfen hatten, unter den Bäumen am Strande einige schwarze Geschöpfe, die auf allen Vieren im Schatten der Zweige umherkrochen. Anfangs wußte ich nicht, was ich daraus machen sollte, da wir beinahe noch eine Viertelstunde vom Ufer entfernt lagen. Als ich aber durch das Telescop schaute, erkannte ich sie zu meiner Verwunderung als wirkliche, lebendige Menschen.«
»Kamet Ihr nicht in nähere Berührung mit ihnen, Robinson?«
»Nein, Herr, ich nicht, aber in Kalkutta traf ich einen Soldaten, der sie näher kennen gelernt hatte. Die ostindische Kompagnie hatte nämlich einmal die Absicht, in jener Gegend eine Niederlassung zu begründen, und schickte zu diesem Zwecke einige Mannschaft auf die Insel. Der Soldat sagte mir, sie hätten Einige der Eingebornen gefangen genommen, und erzählte seltsame Dinge von ihnen. Sie seien nicht größer als vier Fuß, zeigten sich im höchsten Grade scheu und blödsinnig, trügen keine Kleidung irgend einer Art, hätten weder Häuser noch Hütten, und begnügten sich, um Schutz vor dem Ungestüm der Witterung zu finden, mit einigem roh und lose zusammen geflochtenen Buschwerk.«
»Haben sie denn auch nicht einmal Waffen?«
»Doch, sie besitzen Bogen und Pfeile, aber von so elender Beschaffenheit und so geringer Kraft, daß sie nur die kleinsten Vögel damit schießen können. Jener Soldat erzählte mir, sie hätten einige Pfeile auf ihn abgeschossen, aber sie wären nicht einmal durch seine Kleidung gedrungen.«
»Nun, nach dieser Beschreibung zu urtheilen, muß ich allerdings glauben, daß die Bewohner der Andaman-Inseln auf einer noch niedrigeren Stufe der Ausbildung stehen, als selbst die Neuholländer,« sprach Herr Seagrave. »Was fing man aber mit jenen Gefangenen an?«
»Man ließ sie wieder laufen. Sie wollten weder essen noch sprechen, und würden unfehlbar verhungert sein, wenn man sie längere Zeit gefangen gehalten hätte.«
»Woher mögen die Völker stammen, von denen diese Inseln bewohnt sind?« fragte William.
»Dieß ist schwer zu ermitteln, mein Sohn,« erwiederte der Vater. »Doch läßt sich annehmen, daß sie auf dieselbe Weise bevölkert sind, wie unsere Insel durch uns Bewohner erhalten hat. Unglückliche Leute, die durch Stürme in Kanoe's und Booten verschlagen wurden, retteten vielleicht ihr Leben, wie wir das unsere, indem sie an Einer von diesen Inseln landeten.«
»Ich glaube selbst, daß Sie Recht haben, Herr Seagrave,« sagte Hurtig. »Wenigstens hörte ich, daß namentlich die Andaman-Inseln durch Negersclaven bevölkert worden seien, deren Schiff durch eine Wasserhose zertrümmert wurde.«
»Was ist eine Wasserhose, Hurtig?« fragte William.
»Eine Wasserhose, William, entsteht durch einen Orkan, welcher dergestalt im Kreise umherwirbelt, daß er eine Menge Seewasser bis in die Wolken emporhebt, von wo es nachher unter Donner und Blitzen gleich einem Wolkenbruche wieder herabstürzt. Man findet diese Erscheinung ziemlich häufig in Indien beim Eintritte der Mondsoon's.«
»Aber was sind Mondsoon's, Hurtig?«
»Es sind Winde, die mehrere Monate des Jahres aus ein und derselben Himmelsgegend wehen, und dann plötzlich umspringen, um eben so lange aus einem andern Striche zu kommen. Sie ähneln in manchen Stücken den Passatwinden.«
»Ach die, von denen Kapitän Osborn sprach, als wir von Madeira absegelten? Was versteht man darunter eigentlich?«
»Die Passatwinde wehen in der Gegend des Aequators, und zwar einige Grade nördlich und südlich von demselben. Ihr Strich geht regelmäßig von Ost nach West, da sie dem Laufe der Sonne folgen.«
»Warum das?« fragte William abermals. »Verursacht denn die Sonne diese Winde?«
»Allerdings,« erwiederte Hurtig. »Die heißen Strahlen der Sonne nämlich verdünnen in den Tropenländern die Luftschichten, und die Passatwinde entstehen, weil die weniger erhitzte Luft fortwährend nachströmt, um das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen. Du bemerkst die gleiche Erscheinung in einem Zimmer, in dessen Kamin ein starkes und lebhaftes Feuer brennt. Immerwährend drängt die kalte Luft gegen das Feuer hin, und bewirkt dadurch einen unaufhörlichen, merklich zu spürenden Zugwind.«
»Ganz richtig!« fiel Herr Seagrave ein. »Und die Passatwinde nun wieder veranlassen den sogenannten Golfstrom.«
»Wie so, Vater?« fragte William wieder. »Bitte, erkläre mir das.«
»Indem die Winde im atlantischen Ocean sich beständig nach der Sonne richten, und stets von Osten nach Westen streichen, haben sie natürlicher Weise einen bedeutenden Einfluß auf die Strömung des Meeres, und zwingen die Gewässer, gegen den Golf von Mexico hinzufließen. Dort wird der Wasserschwall von den Küsten Amerika's, wie von einem Damme, aufgehalten, und steigt aus dieser Ursache nun einige Fuß höher, als in dem östlichen Theile des atlantischen Oceans. Wo aber ein fortwährender Andrang und Zufluß ist, muß sich natürlich auch ein Ausweg und Abfluß finden, und diese Abströmung eben nennt man den Golfstrom. Die ungeheure Wassermenge wird mit furchtbarer Kraft gegen Norden getrieben, bricht sich an der Südküste von Nordamerika, wendet sich dann mit unaufhaltsamer Heftigkeit westwärts gegen Neufundland, und schwindet endlich in der Gegend der Azoren, welche du auf der Karte bemerktest, als wir in nicht großer Entfernung vorüber segelten, langsam dahin.«
»Noch ist zu bemerken,« fügte Hurtig dieser Erklärung hinzu, »daß die Wasser des Golfstroms immer um einige Grade wärmer sind, als die sie einschließenden Fluthen des Oceans. Dieß kommt daher, weil sie in dem Busen von Mexico, wo sie sich ziemlich lange umhertreiben müssen, von den dortigen heißen Sonnenstrahlen durchwärmt werden. Uebrigens kennen wir Seeleute den Golfstrom noch außerdem an mancherlei Seegewächsen, welche stets auf seiner Oberfläche umherschwimmen, und durch die Gewalt der Fluth vom Ufer losgespült sind.«
»Was versteht man aber unter den Land- und See-Brisen in Westindien und andern heißen Gegenden?« fragte William von Neuem.
»Diese Winde, mein Junge,« erklärte Hurtig, »wehen während bestimmter Stunden des Tages zuerst vom Ufer gegen das Meer, und dann umgekehrt wieder vom Meere gegen das Ufer. Diese Erscheinung wiederholt sich regelmäßig alle vierundzwanzig Stunden, und rührt ebenfalls von der Sonnengluth her. Der Seewind beginnt Morgens, und lullt um Mittag ein. Dann aber macht sich der Landwind auf, und dauert fort bis Mitternacht.«
»Du siehst ein, William,« sagte Herr Seagrave, »daß alle diese Erscheinungen in den tropischen Ländern aus natürlichen Ursachen hervorgehen. Trotzdem aber sind sie immerhin Zeugnisse der Güte jenes allmächtigen Wesens, dessen Wille die Welt dergestalt einrichtete, daß durch leicht zu erklärende Ursachen Wirkungen hervorgerufen werden, welche dem Menschen zur Segnung gereichen. Niemand, zum Beispiel, würde auf den westindischen Inseln wohnen können, wenn nicht die Land- und See-Brisen regelmäßig die erhitzte Oberfläche der Erde mit ihrem Hauche abkühlten. Und wenn die Passatwinde nicht wehten, wenn in den Strichen unter der gluthhauchenden Sonne des Aequators Windstillen vorherrschten, dann würde die Hitze in jenen Gegenden so ungeheuer sein, daß niemals ein menschliches Wesen im Stande sein würde, eine Reise dahin zu unternehmen.«
»Ja, gewiß, so wäre es,« fügte Hurtig hinzu. »Es gibt einige Stellen in jenen Breiten, wo der Wind zuweilen aussetzt, und Schiffe schon wochenlang unbeweglich liegen bleiben mußten. Und das ist ein fürchterlicher Zustand für die unglückliche Mannschaft solcher Fahrzeuge. Sehr bald beginnt nämlich das Wasser zu mangeln, und die Leute haben dann nicht allein die Qualen der Hitze, sondern auch noch obendrein die unbeschreibliche Qual des langsamen Verschmachtens zu erleiden. Wir Seeleute nennen jene Gegenden, warum? weiß ich nicht, ›Pferdebreiten.‹ Wahrscheinlich ist der Name daher entstanden, weil man, sobald das Wasser zu mangeln beginnt, vor allem Andern die Pferde schlachtet, welche sich zuweilen auf Kriegsschiffen befinden. – Doch genug von diesen Sachen! Es ist Zeit, daß wir uns auf den Heimweg begeben, da William noch nicht zu lange der Luft ausgesetzt bleiben darf.«
Das Gespräch wurde abgebrochen, und man begab sich langsam nach Hause zurück. Nach dem Abendessen aber mußte Hurtig, wie gewöhnlich, die Fortsetzung seiner Lebensgeschichte zum Besten geben.
»Ich blieb dabei stehen,« fing er nach kurzem Besinnen an, daß ich an Bord eines Kriegsschiffes geschickt, und als überzähliger Schiffsjunge in die Bücher eingetragen wurde.
Auf diesem Fahrzeuge diente ich beinahe vier Jahre lang, fuhr mit ihm von einem Hafen zum andern, von Klima zu Klima, wuchs zu einem kraftvollen, schlanken Burschen empor, und wurde endlich zum Besantopgast, das heißt, zu dem Matrosen, welcher auf dem Besanmast Wacht halten muß, ernannt.
Es ging mir gut; ich führte ein ganz behagliches Leben, that meine Schuldigkeit, und ward daher niemals gestraft. An Bord eines Kriegsschiffes kann überhaupt ein Matrose ohne alle Furcht vor Strafe Dienst nehmen, wenn er entschlossen ist, redlich seine Pflicht zu erfüllen. Die Arbeit ist nie zu hart, und auf keinen Fall so überhäuft, wie auf Kauffahrteischiffen, wo die Bemannung so sehr gering ist. Ausnahmen gibt es allerdings, aber sie sind sehr selten, und ein Kapitän, der übermäßig streng und barsch ist, wird sehr bald in der ganzen Marine bekannt und hat gewöhnlich die schlechtesten Leute.
Mein Kapitän war übrigens ein sehr milder und gesetzter Mann, dem es nahe ging, wenn er einen Matrosen strafen lassen mußte, der aber auch auf der andern Seite niemals ein Versehen ungerügt ließ. Ich würde mich unter seinem Kommando ganz glücklich gefühlt haben, wenn ich wieder einmal hätte nach England kommen können, um meine Mutter zu sehen. Meine Sehnsucht nach ihr war unaussprechlich groß. Ich hatte ihr drei Briefe geschrieben, ohne eine einzige Antwort empfangen zu haben, und wurde zuletzt so ungeduldig, daß ich bei der ersten, besten Gelegenheit davonzugehen beschloß.
Um diese Zeit waren wir in Westindien stationirt, und ich sprach sehr häufig mit Hastings über diese Angelegenheit, da er nicht minder, als ich, auf schleunige Flucht erpicht war. Bald hatten wir unter uns ausgemacht, zusammen zu fliehen, und die nächste Gelegenheit auf jeden Fall zu benutzen.
Kurze Zeit nachher ankerten wir in Port Royal auf der Insel Jamaika, und trafen hier ein großes Convoi von Westindienfahrern, welches, mit Zucker beladen, bald darauf nach England absegeln sollte. Wir wußten, daß es ihnen im Allgemeinen an Mannschaft mangelte, indem sehr viele Matrosen durch die Kriegsschiffe, welche die Kauffahrer geleiteten, gepreßt worden waren, und konnten aus diesem Umstande die Folgerung ziehen, daß man uns auf jedem Fahrzeuge, welches wir zu erreichen vermögten, mit Freuden empfangen und bis zur Abfahrt verbergen würde. Wir nahmen uns daher vor, während der Nacht zu einem der Schiffe hinzuschwimmen. Es schien uns dieß eben kein großes Wagniß, da die Flotte kaum hundert Schritte von unserem eigenen Fahrzeuge vor Anker lag. Die einzige Furcht, welche wir empfanden, flößten uns die Haifische ein, die in ziemlich großer Menge im Hafen umherschwammen. Aber auch dieser Gefahr beschlossen wir zu trotzen, indem unsere Sehnsucht nach der Heimath stärker war, als unsere Todesfurcht.
In der Nacht vor dem Absegeln des Convoi's – ich erinnere mich der Sache so genau, als ob sie erst gestern geschehen wäre – um die Zeit der Mittelwache, ließen wir uns sacht an der Seite unseres Schiffes in's Meer hinabgleiten, und schwammen so leise und so schnell wir konnten dem uns zunächstgelegenen Westindienfahrer zu. Trotz unserer Vorsicht aber bemerkte die Schildwache auf dem Gangwege dennoch das Blitzen und Schimmern des Wassers, welches durch unser Schwimmen in Bewegung gesetzt wurde, und wir vernahmen ihren Anruf. Natürlich hüteten wir uns wohl, eine Antwort zu geben, sondern verdoppelten unsere Anstrengungen, um so schnell wie möglich davonzukommen. Gleich nach dem Rufe des Soldaten aber hörten wir ein Geräusch, blickten zurück, und bemerkten, daß der wachthabende Officier ein Boot aussetzen ließ, um es uns nachzuschicken. In diesem Augenblicke hatte ich schon das Kabeltau des Westindienfahrers erreicht, und war eben im Begriffe, mit Hilfe desselben an Bord zu klettern, als ich plötzlich einen lauten Schrei hörte, zurückblickte, und einen großen Haifisch sah, welcher den armen Hastings schon im Rachen hatte, und gerade mit seiner Beute unter das Wasser tauchte. Dieser fürchterliche Anblick erschreckte mich dermaßen, daß ich einige Minuten hindurch mich nicht zu regen vermogte; als ich aber endlich wieder zur Besinnung kam, kletterte ich so schnell wie möglich an dem Kabeltau empor.
Es war die höchste Zeit, denn im nämlichen Augenblicke versuchte ein anderer Haifisch einen Angriff auf mich selber, und war so erpicht auf meine Person, daß er, selbst als ich schon zwei Fuß hoch über dem Wasser war, hinter mir hersprang, nach meinem Beine schnappte, und mir wirklich einen Schuh vom Fuße abriß, den er mit sich fort in's Meer nahm. Die Angst verdoppelte meine Kräfte, und wenige Sekunden später war ich schon bis zu den Klüsgaten emporgeklettert. Die Leute am Bord, welche über die Brüstung des Schiffes hinausschauten und des armen Hastings klägliches Ende mit angesehen hatten, bemerkten mich kaum, als sie mir bereitwillig zu Hilfe eilten, mich an Bord zogen, und ohne Zögern im Unterdeck versteckten. Denn schon kam das uns nachgesendete Boot näher heran, und es würde mir schlimm ergangen sein, wenn mich die Mannschaft desselben entdeckt und aufgegriffen hätte.
Als der Officier des Bootes an Bord des Kauffahrers kam, und sich nach mir erkundigte, wurde ihm zum Bescheide gegeben, daß Hastings sowohl als ich selber von den Haifischen verschlungen worden sei. Der Officier, da er Hastings schrecklichen Todesschrei vernommen hatte, zweifelte keinen Augenblick an der Aussage der Leute, und kehrte, ohne Nachsuchung zu halten, zu seinem Schiffe zurück.
Bald darauf hörte ich vom Bord des Kriegsschiffes die rasselnden Töne der Trommel herüberschallen. Die Mannschaft wurde durch dieß Signal zusammenberufen, damit man ermitteln könne, wer die beiden Entflohenen gewesen seien. Wenige Minuten später ward wieder Retraite getrommelt, und nun wußte ich, daß hinter meinem wie hinter Hastings Namen in den Schiffsbüchern ein a. D. und ein Kreuz prangte.«
»Was bedeutet dieß?« fragte William.
»A. D. heißt so viel, wie außer Dienst, das Kreuz aber bedeutet den Tod;« erwiederte Hurtig. »Und wirklich, nur der Gnade Gottes hatte ich es zu verdanken, daß ich mit meinem Leben davongekommen war.
Die Gefühle, welche einige Stunden später noch in meinem Herzen auftauchten, vermag ich kaum zu beschreiben. Ich versuchte zu schlafen, konnte aber vor Todesängsten nicht dazu kommen. Immer, wenn ich im ersten Schlummer lag, träumte mir, ein Haifisch hätte mich in seinem Rachen, und mit einem gellenden Schrei fuhr ich jedes Mal in die Höhe. Ich versuchte die Stürme meiner Seele durch Gebet zu besänftigen; aber es gelang mir nicht, und ich vermochte in dieser Nacht keine Ruhe zu finden, kein Auge zu schließen. Der Kapitän des Westindienfahrers fürchtete endlich, mein lautes, oft wiederholtes Angstgeschrei mögte an mir zum Verräther werden, und schickte mir ein großes Glas Rum. Ich trank es aus bis auf den Grund, und betäubte damit meine aufgeregten Nerven. Bald darauf verfiel ich in einen festen Schlaf.
Als ich wieder erwachte, sah ich, daß mein Schiff bereits mit vollen Segeln davonfuhr, und in Begleitung von mehr als hundert andern Fahrzeugen seine Reise nach England angetreten hatte. Die Kriegsschiffe, welche zum Schutze das Convoi begleiteten, gaben unaufhörlich Signale, feuerten Kanonen ab, und gewährten dadurch einen herrlichen Anblick. Ich fühlte mich so glücklich, daß ich mich im Nothfalle noch zehn Mal dem Rachen eines Haifisches ausgesetzt haben würde, um nur meine Freiheit behaupten, den Strand meiner Heimath wieder betreten, darauf nach Newcastle gehen, und meine geliebte, arme Mutter wieder sehen und umarmen zu dürfen.«
»Da muß Eure wunderbare Rettung, Hurtig, doch keinen tiefen Eindruck auf Euch gemacht haben,« sagte Madame Seagrave. »Ich fürchte beinahe, daß Ihr zu jener Zeit wirklich ein wenig leichtsinnig gewesen seid.«
»O nein, Madame Seagrave,« erwiederte Robinson. »Nur die Freude, endlich meine theure Heimath, meine Mutter wieder zu sehen, ließ mich auf kurze Zeit die Vergangenheit vergessen. Der wunderbare Beistand Gottes hatte mich gesetzter, und ich kann wohl sagen, auch besser gemacht. In der nächsten Nacht betete ich inbrünstig zu Gott, dankte ihm mit gerührtem Herzen für seine Gnade, und nahm mir vor, in der Folge frömmer und tugendhafter zu werden, als zuvor. Der zweite Lieutenant des Schiffes, ein wackerer alter Schotte, bemerkte meine Reue und meine guten Entschlüsse, und bestärkte mich noch darin. Oft sprach er mit mir, setzte mir auseinander, wie ich nur der wundervollen Fürsorge des himmlischen Vaters meine Rettung zu danken habe, und las sehr häufig mit mir in der Bibel, deren herrliche Sprüche er auf das Beste zu erklären verstand. Fortan las ich auch oft allein in dem heiligen Buche, und kann wohl sagen, daß es mir jederzeit Trost und Erquickung verliehen hat.
Ich theilte dem Lieutenant meine Lebensgeschichte mit, und dieser machte mich erst recht darauf aufmerksam, wie unrecht und thöricht ich gehandelt hatte, als ich meine Mutter verließ, und als ein unbesonnener Knabe die Unterstützung meines Pathen, des Herrn Robinson, ausschlug. Nur zu tief empfand ich die Wahrheit seiner Worte, und sehnte mich mehr als jemals in die Arme meiner Mutter, und nach ihrer Verzeihung meiner Thorheiten.
Im Uebrigen that ich während der Ueberfahrt meinen Dienst als Matrose pünktlich und gewissenhaft, und der Kapitän bezeigte sich sehr zufrieden mit mir. Unser Schiff war nach Glasgow bestimmt, begleitete daher das Convoi nur bis North Foreland, und kam glücklich im Hafen an. Nachdem wir die Anker ausgeworfen hatten, führte mich der Kapitän zu dem Eigenthümer des Schiffes, ließ mir für meine Dienste fünfzehn Guineen auszahlen, und ertheilte mir hierauf meinen Abschied. Ich nahm mein Geld, und trat unverzüglich die Reise nach Newcastle an. Um so schnell wie möglich fortzukommen, bezahlte ich einen Sitz im Postwagen, und traf hier mit einem Herrn zusammen, der aus meiner Vaterstadt gebürtig und daselbst wohnhaft war. Ich fragte ihn sogleich, ob der Schiffsbaumeister Robinson noch am Leben sei, und erhielt zur Antwort, daß er vor drei Monaten gestorben wäre.
›Und wem hat er sein Vermögen hinterlassen?‹ fragte ich wieder. ›Er war sehr reich, und hatte, so viel ich weiß, keine Kinder.‹
›Nein,‹ erwiederte, der fremde Herr, ›und deßwegen eben vermachte er beinahe sein ganzes Hab und Gut einer Stiftung, und verordnete, daß ein Hospital und Armenhaus davon gebaut werden solle. Seine Vorräthe und Werfte hinterließ er einem Teilnehmer seines Geschäfts, den er erst in den letzten Jahren seines Lebens angenommen hatte, wahrscheinlich weil er nicht wußte, wen sonst er damit beglücken könne. Früherhin, hörte ich sagen, hätte er die Absicht gehabt, einen Knaben, Namens Robinson Hurtig, den er an Kindesstatt annahm, zu seinem Erben einzusetzen. Aber der Junge lief aus der Schule weg, ging zur See, und ließ seitdem nichts mehr von sich hören. Er soll, nachdem er sich lange umhergetrieben, in einem Seegefecht umgekommen oder gefangen worden sein. Man weiß nichts Gewisses von dem thörichten Knaben, der jetzt ein wohlhabender, ja reicher Mann sein würde, wenn er mit Besonnenheit und Ueberlegung gehandelt hätte. So aber stürzte er nicht nur sich selbst, sondern auch seine arme Mutter in's Unglück. Als diese hörte, daß er umgekommen sei, schwand sie dahin, und der Kummer nagte an ihrem Leben.‹
›Sie wollen doch nicht sagen, daß sie todt ist!‹ schrie ich auf, indem ich den Herrn krampfhaft beim Arme packte.
›Gewiß will ich das,‹ erwiederte der Fremde, und sah mich verwundert an. ›Sie starb im vergangenen Jahre an einem gebrochenen Herzen.‹
Bei diesen Worten fiel ich zusammen, und wäre aus dem Wagen gestürzt, wenn der fremde Herr mich nicht festgehalten hätte. Endlich brach ich in einen Strom heißer Thränen aus, rang meine Hände, jammerte, schluchzte und weinte, als ob mein Herz im Leibe brechen sollte.«
Hurtig hielt hier einen Augenblick inne, und als Herr Seagrave sah, wie angegriffen der alte Mann war, so machte er den Vorschlag, für heute die Erzählung abzubrechen und zu Bette zu gehen.
»Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit, Herr Seagrave,« sagte Robinson bei diesem Vorschlage. »Ich fühle mich wirklich so schwach, daß ich heute nicht weiter erzählen kann. Meine alten Augen füllen sich immer noch mit Thränen, wenn ich an jene Zeiten zurückdenke, und mir dann nicht verhehlen kann, daß ich durch mein unsinniges Betragen den Tod der zärtlichsten und liebevollsten Mutter beschleunigte. Gewiß, ich würde diese traurigen Scenen nicht erwähnen, wenn ich nicht dächte, daß sie den Kindern als Warnung dienen konnten. Hüte dich, William, hüte dich, Tommy, jemals deine guten Eltern zu kränken und zu beleidigen; die Reue, wenn auch spät, hinkt unfehlbar dem Vergehen nach, und erfüllt das Herz mit Traurigkeit und den bittersten Schmerzen. Gott möge Euch behüten und segnen, Kinder! Gute Nacht, gute Nacht!«
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