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Brave Seeleute verlieren in keiner Gefahr den Muth, so lange sie noch irgend eine Möglichkeit sehen, ihr Schiff und ihr Leben durch Kraft, Anstrengung und Besonnenheit zu erhalten. So thaten denn auch auf dem Pacific alle Männer ihre Schuldigkeit, und weder der gebrechliche Zustand des entmasteten Fahrzeugs, noch der fortwährend tobende Orkan vermogten es, sie der tröstlichen Hoffnung auf ein noch gutes und erfreuliches Ende ihrer Fahrt zu berauben. Nur der plötzliche und unerwartete Tod ihrer Kameraden beugte das Gemüth der Matrosen nieder, obgleich auch selbst der Gedanke an ein ähnliches Schicksal ihre Herzen nicht entmuthigen konnte.
Das Schiff segelte, wie erwähnt, wieder vor dem Winde, und befand sich gegen früher, vergleichungsweise wenigstens, in einer so ziemlich gesicherten Lage, obwohl noch keineswegs die Gefahr zu scheitern sich bedeutend vermindert hatte. Noch immer stürzten die Wellen mit Wuth über das Verdeck hin, und der Tag kam und verging, ohne daß sich die Heftigkeit des Sturmes besänftigt hätte. Auch die Nacht brach wieder herein, und keine Aussicht eröffnete sich, der erschöpften Mannschaft einige Ruhe zu gewähren. Es dachte daher auch kein Mensch daran, Schlaf oder wenigstens Erholung in seiner Hängematte aufzusuchen. Jeder ohne Ausnahme fühlte sich mehr oder minder in unbehaglicher Stimmung, und sehnte sich so recht mit ganzem Gemüthe nach ein bischen Windstille und Sonnenschein.
Unten in der Kajüte unserer Freunde sah's traurig aus, wie oben auf dem Verdeck, wenn auch nicht ganz so schlimm. Madame Seagrave, von Angst, Schrecken und fortwährender Schlaflosigkeit erschöpft, fühlte sich ernstlich unwohl und mußte das Bett hüten. Herr Seagrave widmete ihr alle mögliche Sorgfalt, pflegte sie, beruhigte und tröstete sie, und vergaß darüber seine eigenen ängstlichen Besorgnisse. Die älteren Kinder, damit sie nicht durch das unaufhörliche Rollen und Schwanken des Schiffes hin und her geschleudert und verletzt werden mögten, wurden gezwungen, in ihren Betten liegen zu bleiben, und den kleinen Albert trug die geduldige und unermüdliche Juno fortwährend auf ihren Armen. Wenn nicht Kapitän Osborn und Robinson Hurtig zuweilen gekommen wären, um der Familie durch beruhigende Worte Trost und Hoffnung einzuflößen, so würde sich gewiß völlige Verzweiflung der bedrängten und geängstigten Leutchen bemächtigt haben.
Mittlerweile verging Tag auf Tag, Nacht auf Nacht, und der vierte Morgen nach Beginn des Sturmes dämmerte auf, ohne daß die trüben Aussichten in die Zukunft sich etwas tröstlicher erwiesen hätten. Die Lage des Schiffes war eher schlimmer als besser geworden. Das rastlose Anstürmen und Ueberströmen der Wellen machte die Mannschaft von Stunde zu Stunde mißmuthiger, und übel war es vollends, daß ein mächtig über das Hinterdeck rauschender Wogenschwall das Kompaßhäuschen mit sich fortgerissen hatte. Denn nun war Niemand mehr im Stande, weder die Richtung des Schiffes genau zu bestimmen, noch auch die Entfernungen zu messen, welche es den Tag über zurücklegte. Auch zeigte der lecke Zustand des Fahrzeugs dem erfahrenen Auge nur zu deutlich, wie viel ihm bereits die erlittenen heftigen Stöße geschadet hatten, und Niemand zweifelte daran, daß es nicht lange mehr der Gewalt des Sturmes und dem Anstürmen der Wogen werde Widerstand leisten können.
Kapitän Osborns Herz war schwer bekümmert und voll bitterer Sorge. Die gewichtigste Verantwortlichkeit ruhte auf seinen Schultern. Man hatte ihm ein werthvolles Schiff, eine kostbare Ladung anvertraut, und er konnte es sich selber kaum noch verhehlen, daß über kurz oder lang, trotz der ernstlichsten Anstrengungen, alles zu Grunde gehen müsse. Es jammerte ihn sein schönes Fahrzeug, aber mehr als Alles beklagte er den voraussichtlichen Untergang seiner Schiffsmannschaft und seiner unglücklichen Passagiere.
Raschen Fluges und unaufhaltsam eilte der Pacific einer Gegend des Meeres zu, die durch verborgene Korallenriffe selbst bei der günstigsten Witterung dem Seefahrer Tod und Verderben drohte. Wie sollte nun das entmastete Schiff beim heftigsten Sturme der unabwendbar herannahenden Gefahr entgehen? Kapitän Osborn schüttelte traurig bei diesem Gedanken sein sorgenschweres Haupt, und wendete sich, wie Trost suchend, zu Robinson Hurtig, der dicht in seiner Nähe eine Leine an dem flatternden Segel des Fockmastes befestigte.
»Das Wetter gefällt mir gar nicht, Hurtig,« sagte er mit bedrückter Stimme zu dem alten Seemanne, »und ich fürchte, daß wir einer Gefahr in den Rachen laufen, die wir mit aller Aufopferung und Mühe nicht werden abwenden können.«
»Leider sprechen Sie nur zu wahr, Herr,« erwiederte Robinson, »und ich selbst sehe weder Rath noch Hilfe. Bei alledem aber stehen wir immer in Gottes Hand, und des Herrn Wille mag geschehen!«
»Amen! Amen!« bekräftigte Kapitän Osborn feierlich mit gefalteten Händen und zum Himmel emporgerichteten Augen.
»Wie so manche Kapitäne, Robinson,« fuhr er nach einigem Stillschweigen fort, »beneideten mich, als mir das Kommando über dieses schöne Schiff übertragen wurde. Ob sie wohl in meiner jetzigen Lage mit mir tauschen mögten? Ich glaub' es nicht.«
»Und ich auch nicht, Kapitän Osborn,« sprach Robinson Hurtig, »und wir mögen daraus abnehmen, daß sich im Laufe der Zeit zuweilen etwas als schädlich erweist, was wir früherhin übermäßig gewünscht und gepriesen haben. Im Uebrigen aber ist noch nicht aller Tage Abend, und man vermag nicht voraus zu sehen, was uns der morgige bringen wird. Ich kann mir denken, Herr, daß Sie nicht wenig unruhig sein mögen, denn Sie haben wahrlich den triftigsten Grund dazu. Bei alledem aber kann es ja dem Allmächtigen gefallen, diese erzürnten Wogen zu ebnen, die brausenden Stürme zu besänftigen, und uns irgend einem sicheren Hafen zuführen, ehe wir es denken. Jedenfalls dürfen wir bis zum letzten Augenblicke das Beste hoffen, und geht's dann schief, nun so müssen wir uns geduldig in Gottes Willen fügen und uns mit dem Bewußtsein trösten, auf alle Weise redlich und getreulich unsere Pflicht gethan zu haben. Und die haben Sie gewiß gethan, Kapitän Osborn, und das zwar in allen Stücken, und in jeder Beziehung. Mehr vermag Niemand!«
»Gebt Acht!« rief in diesem Augenblicke Kapitän Osborn dem alten Bootsmanne zu. »Gebt Acht und klammert Euch fest, dort kommt eine mächtige Woge gegen uns angerollt!«
Hurtig packte schnell das Geländer des Verdecks und klammerte sich fest an, um der nahe drohenden Gefahr zu begegnen. Die Woge kam, stürzte über das Verdeck hinweg, riß den beiden Männern die Füße unter dem Leibe fort und setzte für eine kurze Zeit das ganze Schiff unter Wasser. Bald aber verlief sie sich wieder, und Hurtig schüttelte gemächlich das Wasser von seinen Kleider ab.
»Es ist kein Spaß das,« sagte er dann kaltblütig zum Kapitän. »Ich bin überzeugt, daß solch' eine Sturzwelle Bäume entwurzeln würde, wenn sie überhaupt auf dem festen Lande vorkommen könnte.«
»Sie hat mich nicht wenig erschreckt,« erwiederte Kapitän Osborn, »und mit Trauer denke ich daran, daß selbst das beste Schiff von der Welt solche Stöße nicht lange würde aushalten können.«
»Wenn wir nur noch ein Paar Segel anzubringen wüßten,« fuhr er fort. »Aber ich sehe bei unserer so sehr geschwächten Mannschaft keine Möglichkeit dazu. Nun, wie Gott will! Ihm wollen wir getrost unser ferneres Schicksal anvertrauen.«
Er ging nach vorn, und das Gespräch hatte ein Ende.
Die ganze Nacht noch dauerte der Sturm fort. Endlich am nächsten Morgen mäßigte sich seine Wuth in etwas, und die Wogen der See gingen weniger hoch. Trotzdem aber mußte der Pacific noch immer grade vor dem Winde gehalten werden, da Kapitän Osborn nicht wagte, bei dem erschütterten Zustande desselben seine Breitseite dem Wogendrange preiszugeben. Doch konnte man allenfalls daran denken, Vorbereitungen zu Aufrichtung von Nothmasten zu treffen, und ging daher ohne langes Zögern an's Werk. Kapitän Osborn und seine Untergebenen waren eben eifrig mit dieser Angelegenheit beschäftigt, als Herr Seagrave mit seinem Sohne William auf dem Verdecke erschien.
Wie staunte der Knabe, als er die Verwüstung bemerkte, die des Sturmes Gewalt auf dem Schiffe verursacht hatte! Die schlanken hohen Masten mit all' ihrem zierlichen Takelwerk und den breiten, bauschigen Segeln, die er oft den Schwingen eines Vogels verglichen hatte, waren verschwunden, die Brüstung des Schiffes erschien an vielen Stellen zerbrochen, das Kompaßhäuschen war nicht mehr zu sehen, und alles Uebrige befand sich in dem traurigsten Zustande der Verwirrung und Zerstörung.
»O weh!« sagte er mit betrübtem Gesichte zu seinem alten Freunde Robinson; »was ist aus unserem prächtigen, stolzen Schiffe geworden? Hat dieser einzige Sturm es so furchtbar verwüstet?«
»Ja, ja, dieser eine Sturm und der Wille Gottes,« erwiederte der alte Seemann ernst. »Die Hand des Herrn liegt schwer auf uns, und beugt unsern Stolz tief hinab in den Staub. Schon die Bibel spricht: Wer auf die Meere geht und es wagt mit den Wassern des Oceans, der wird die Werke Jehovahs schauen und seine Wunder in der Tiefe des Abgrunds.«
»Oh, das ist schlimm, sehr schlimm,« sagte nachdenklich William. »Wie wollen wir nun, da wir weder Masten noch Segel mehr haben, nach Sidney in die Heimath gelangen?«
»Je nun, wir müssen eben unser Möglichstes thun, um glücklich hinüber zu kommen, und wollen deßhalb jetzt Nothmasten aufrichten und sie mit Segeln versehen. Noch vor Nacht werden wir hoffentlich damit fertig sein, und uns dann so nothdürftig helfen können. Sind auch die Nothmasten klein und die Segel schmal, wenn es Gottes Wille ist, thun sie doch ihre Dienste und bringen uns in dein Vaterland hinüber, mein lieber Junge. Nur mußt du die Geduld nicht verlieren und weder Muth noch Hoffnung aufgeben.«
»Aber wie geht es ihrer Frau Gemahlin,« wandte er sich zu Herrn Seagrave, der die Anstalten der Seeleute mit Aufmerksamkeit betrachtete. »Befindet sie sich etwas besser?
»Leider nein,« erwiederte Herr Seagrave auf die theilnehmende Frage Robinsons. »Ich fürchte, daß sie sich recht krank und elend fühlt, und daß ihr Zustand sich noch verschlimmern wird, wenn wir nicht bald besseres Wetter bekommen. Meint Ihr, Robinson, daß sich der Sturm nun endlich legen werde?«
Traurig schüttelte der alte Hurtig sein graues Haupt, und deutete über Bord hinaus auf eine dunkle Wolkenmasse, die sich nach und nach wieder an dem bereits heller gewordenen Himmel zusammengezogen und aufgethürmt hatte. »Dort die Wand gefällt mir nicht,« sprach er, »sie bedeutet nichts Gutes, und wenn ich meiner fünfzigjährigen Erfahrung trauen darf, so wird sie uns einen neuen Sturm über den Hals schicken, der noch schlimmer als der letzte hausen wird. Geben Sie Acht, ehe die Nacht völlig hereindunkelt, geht's wieder los.«
»Der Wille Gottes mag geschehen,« sagte Herr Seagrave traurig bei dieser hoffnungslosen und betrübenden Nachricht. »Wenn nur meine arme Frau die immer und immer wiederholten Stöße ertragen kann. Wahrlich, ich bin sehr besorgt um sie.«
»Grämen sie sich nicht zu sehr, lieber Herr,« tröstete gutmüthig der alte Robinson. »Noch nie habe ich gehört, daß Jemand von dem bloßen Wehen eines Sturmes gestorben wäre, und der liebe Gott wird auch im ärgsten Ungewitter Ihre leidende Frau zu behüten wissen. Aber höre, William, weißt du schon, daß wir fünf von unsern Matrosen verloren haben?«
»Um Gotteswillen, nein!« rief der Knabe, und schlug vor Schrecken die Hände über dem Kopfe zusammen. »Wie ist denn das zugegangen?«
»Nun, Wilson ist über Bord geschwemmt, Fennigs und Masters sind wahrscheinlich vom Blitze erschlagen, und Jones und Emery von dem niederstürzenden Hauptmaste zerschmettert worden. Gewiß dachte bei der Abfahrt vom Kap keiner von ihnen daran, daß wenige Tage nachher sein entseelter Körper von Wind und Wellen auf der Fläche des Meeres umher getrieben werden würde. Rasch tritt der Tod den Menschen an, es ist ihm keine Frist gegeben, sagt ein alter Spruch voll Kraft und Wahrheit, und wir sollten deßhalb stets unseres Endes eingedenk sein, und nimmer vergessen, daß wir selbst in der Blüthe des Lebens dicht am Rande des Grabes wandeln.«
Robinson wendete sich nach diesen Worten wieder zu seiner Arbeit, und Herr Seagrave kehrte sehr ernst und nachdenklich gestimmt mit William in die Kajüte und zu seiner kranken Gattin zurück.
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