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Sobald Robinson Hurtig an Bord des Schiffes anlangte, stieg er in die Kajüte hinab, um Madame Seagrave von allem Geschehenen zu unterrichten. Sie zeigte sich ein wenig besorgt, da sie ihren Gatten nun allein am Lande wußte; Hurtig beruhigte sie jedoch, indem er sie mit der Verabredung, die zwischen ihm und Herrn Seagrave für den Fall der Noth getroffen worden war, bekannt machte. Darauf begab er sich in die Segelkammer, holte Leinwand und ein ganz neues Bramsegel herauf und versah sich mit Bindfaden, Nadeln, Zwirn und einem Fingerhut. Noch war er damit beschäftigt, alle diese Dinge in das Boot zu schaffen, als er plötzlich das dumpfe Knallen eines Flintenschusses vernahm und gleich darauf Madame Seagrave ganz außer sich vor Schrecken aus der Kajüte herauf stürzte. Ohne Zögern griff Hurtig nach einem geladenen Gewehre, sprang in's Boot und ruderte mit schwerem Herzen, so schnell er konnte, dem Ufer zu. Eiligen Laufes rannte er dann den Weg zum Hügel hinauf, kam athemlos von der heftigen Anstrengung oben an und – fand Herrn Seagrave und Juno fleißig und ungestört bei dem Zelte beschäftigt. Der kleine Tommy aber wälzte sich auf der Erde umher und schrie aus vollem Halse Zeter und Mordio.
»Was ist geschehen?« fragte Robinson hastig Herrn Seagrave. »Haben denn Sie die Flinte nicht abgefeuert?«
»Behüte Gott!« erwiederte Herr Seagrave ein wenig ärgerlich. »Der unnütze Bube, der Tommy da, hat sie in seiner Thorheit losgebrannt. Während ich hier mit Juno beschäftigt war und nicht Acht auf ihn geben konnte, schleicht er sich leise zu dem Kokosbaume hin, an dessen Stamm ich das Gewehr angelehnt hatte und spielt ein Weilchen damit. Zufällig berührt er den Drücker, der Schuß geht los, und zum Glück, da der Lauf gerade aufwärts gerichtet ist, in die Kokospalme hinauf, ohne weiteren Schaden zu thun. Ein paar Kokosnüsse, die den Buben unfehlbar erschlagen haben würden, wenn sie ihn getroffen hätten, poltern herab, der Junge schreit, ich renne hinzu und sehe denn zu meinem Schrecken sogleich, was er in seiner Thorheit angerichtet hat. Natürlich gab ich ihm ohne Weiteres einen tüchtigen Verweis und einen noch schmerzhafteren Denkzettel obendrein; nun liegt er da und brüllt, als ob er am Spieße stäke.«
Robinson warf dem unartigen Knaben einen finsteren Blick zu und hätte ihn am liebsten kräftig abgestraft. Doch beherrschte er sich und sagte nur: »Es ist gut, Herr Seagrave, daß weiter kein Unglück geschehen ist. Doch will ich sogleich auf das Wrack zurückkehren, um Ihre arme Frau, die nicht wenig erschreckt worden ist, ihrer Seelenangst zu entreißen. Du aber, Tommy, hüte dich vor ähnlichen dummen Streichen, du unartiger, kleiner Bursch!«
Tommy heulte fort und Hurtig maß eiligst den Weg auf das Schiff zurück, um Madame Seagrave zu beruhigen und dann wieder an seine Arbeit zu gehen.
Außer dem Segelwerk, dem Bindfaden und Zwirn schaffte er noch zwei Matratzen und wollene Bettdecken aus des Kapitäns Kajüte und ferner einen ansehnlichen Vorrath von eingesalzenem Fleische in das Boot, befestigte noch eine Sparre an dem Hintertheile desselben und fand nun, daß er eine hinreichende Ladung eingenommen habe und auf keine Weise, da er allein rudern mußte, mehr fort zu bringen im Stande sei. Es kostete ihn Mühe, glücklich an's Ufer zu gelangen, und manchen Schweißtropfen mußte er vergießen, bevor endlich das Boot am Strande festgebunden lag.
Als mit Hilfe Herrn Seagrave's und Juno's die neue Ladung auf den Hügel gebracht worden war, befestigte Hurtig die Sparren zu dem zweiten Zelte und besichtigte hierauf die geschehenen Arbeiten am ersten. Er fand Alles gut und freute sich, als Juno versicherte, keine bösen Insekten und giftiges Gewürm unter dem aufgehäuften Laubwerke gefunden zu haben. Dann ertheilte er einige nothwendige Anordnungen, gab Tommy einen Stock in die Hand, befahl ihm mit verstelltem Ernste, sich neben die Fleischvorräthe zu setzen, sie aufmerksam zu bewachen und kein lebendiges Geschöpf in ihre Nähe kommen zu lassen, und trat dann endlich mit unermüdlichem und rastlosem Eifer abermals den Rückweg zum Wracke an. Doch überzeugte er sich zuvor noch, daß Tommy, nun wieder guter Laune, seinen Posten mit der ganzen Wichtigkeit einer tapfern Schildwache behauptete.
Zwei Fahrten machte Hurtig noch zu dem Schiffe hin und zurück, und brachte nach und nach eine Menge Bettzeug, mehrere Körbe voll Schiffszwieback und Kartoffeln, Teller, Messer, Gabeln, Löffel, Bratpfannen und mehr dergleichen Küchengeräth, sowie eine ganze Masse anderer nutzbarer Dinge an das Land herüber. Hierauf gab er Juno Anweisung, die Enden des Zeltes mit der herbeigeschafften Leinwand und dem Segeltuche zusammen zu nähen, so daß es ringsum fest geschlossen war und weder dem Winde noch dem Regen den Zugang gestattete, versicherte sich mit eigenen Augen von der vortrefflichen und rasch fortschreitenden Arbeit der Negerin und wendete sich endlich wieder zu Herrn Seagrave.
»Wir haben jetzt leider nur noch zwei Stunden Tag, Herr Seagrave,« sagte er, »und es wird wohl Zeit sein, Ihre Frau Gemahlin an's Land zu bringen. Ich denke, wir fahren hin und holen sie mit den Kindern herüber. Für die erste Nacht wird es ihr wohl ganz leidlich unter dem Zelte gefallen.«
»Wollen wir aber nicht erst noch eine Ladung Geräthschaften einschiffen und herschaffen?« fragte Herr Seagrave.
»O nicht doch, nicht doch,« erwiederte der alte Hurtig. »Wir sind Alle sehr fleißig gewesen und werden gewiß herzlich müde sein. Auch müssen wir morgen in aller Frühe wieder auf, um das gute Wetter zu benützen, das uns der liebe Gott nur einige Zeit noch erhalten möge. Auf jeden Fall müssen wir tüchtig schaffen, um so viel als möglich das Wrack auszuleeren, da aller Wahrscheinlichkeit nach ein einziger kraftvoller Windstoß es in tausend Stücke zertrümmern wird. Morgen wollen wir mit Gottes Hilfe ein gut Theil wegschaffen und ich denke, es wird mir dabei zu statten kommen, daß ich selber früherhin die ganze Ladung im Raume einpackte. Ich fürchte nur, daß wir nicht mehr viel finden werden, was uns wirklich von Nutzen sein kann.«
Sie setzten nach dem Wracke über, und sobald Herr Seagrave an Bord gestiegen war, ging er hinab zu seiner Gemahlin und ersuchte sie, ihm auf das Land zu folgen. Madame Seagrave, obgleich sehr schwach und von ihrer Krankheit ungemein angegriffen, benahm sich doch sehr gefaßt, und muthig und erreichte, von ihrem sorglichen Manne unterstützt, glücklich das Verdeck. William folgte mit Albert, und Robinson Hurtig mit der kleinen Karoline nach. Alle wurden, obwohl mit einiger Schwierigkeit, in dem schmalen Nachen untergebracht und stießen ab. Die Bewegung des Bootes bekam jedoch der Madame Seagrave so übel, daß ihr Gemahl sie mit dem Arme unterstützen und sein Ruder an William abgeben mußte. Dennoch landeten sie glücklich und ohne weiteren Unfall, trugen Madame Seagrave vorsichtig an den Strand und legten sie im Zelte auf eine Matratze nieder. Mit matter Stimme verlangte sie jetzt nach einem Glase Wasser.
Der gute Robinson Hurtig schlug sich, als er diesen Wunsch hörte, mit der flachen Hand vor die Stirn und brach in einen heftigen Strom von Selbstvorwürfen aus. »Ei, ich alter dummer Esel!« rief er. »Ich habe ja wahrlich vergessen, Wasser mit herüber zu bringen. Schleppe mich da mit allerlei unnöthigem Kram hin und her und vergesse das Allerwichtigste und Unentbehrlichste. Aber ich will auch gleich wieder an Bord und ein Fäßchen voll holen! Nein, es ist zu dumm von mir! Nehmen Sie nur meine Vergeßlichkeit nicht übel, lieber Herr Seagrave! Die Ursache ist eigentlich, daß ich im Sinne hatte, mich sobald als möglich nach einer Quelle umzusehen, um dadurch diesem wichtigen Bedürfnisse abzuhelfen. Aber nur ein wenig Geduld, augenblicklich will ich das Versäumte nachholen.«
Er eilte schnell davon; die Zurückbleibenden hörten noch in einiger Entfernung, wie er sich fort und fort mit einer heftigen Strafpredigt und den lebhaftesten Vorwürfen überschüttete. Es dauerte übrigens gar nicht lange, so war er schon mit zwei Tönnchen voll Wasser zurückgekehrt und rollte sie mit Williams Hilfe zu dem Zelte hinauf. Madame Seagrave wurde mit ihrem Inhalte erquickt und erklärte sich für weit besser und kräftiger, als sie ein paar Gläser des kühlenden und erfrischenden Getränkes genossen hatte.
Mittlerweile setzte sich der alte Hurtig auf ein zusammengerolltes Stück Segeltuch und sagte, indem er sich die perlenden Schweißtropfen von der Stirne wischte: »Heute, Herr Seagrave, gehe ich nun nicht mehr an Bord; ich bin müde. Wahrhaftig, herzlich müde fühl' ich mich.«
»Und das ist nicht zu verwundern, lieber Freund,« entgegnete Herr Seagrave. »Wenn man seit vielen Nächten kaum ein Auge zugethan hat und Tag für Tag schwer und anstrengend arbeitete, da muß ja wohl zuletzt auch die kräftigste Natur erschöpft werden.«
»Das würd' es nicht allein thun, Herr Seagrave,« erwiederte Robinson, »aber ich habe heute den ganzen Tag noch keinen Bissen gegessen und mit keinem Tropfen Wasser meinen Durst gelöscht; das ist's eigentlich, was mich ein wenig mitgenommen hat.«
»Ihr werdet doch nicht krank sein, bester Robinson?« fragte mit ängstlicher Hast William.
»O nein, nein, nur erschöpft, mein Junge,« sagte Hurtig. »Die alten Glieder wollen nicht mehr so gut fort, wie in den jüngeren Tagen. Aber mögtest du mir wohl ein Glas Wasser reichen?«
William wollte sogleich davonspringen, den Wunsch Robinsons zu erfüllen; Herr Seagrave aber kam schon mit einer voll gefüllten zinnernen Kanne herbei, die er dem braven Bootsmann an die Lippen setzte. »Trinkt das,« sagte er dabei. »Es wird Euch wohl thun, alter Freund.«
Robinson trank in langen Zügen und erholte sich sogleich sichtlich. Darauf aß er ein wenig, und die Speise belebte ihn noch mehr. Er schaute bald wieder munter und mit hellen Augen umher.
Mittlerweile war Juno äußerst geschäftig gewesen. Sie hatte den Kindern Zwieback und etwas Salzfleisch gegeben, hatte Tommy und Karoline zu Bette gebracht und das zweite Zelt beinahe fertig genäht.
»Nun, Juno,« rief ihr Herr Seagrave freundlich zu, »wir werden heute Nacht gewiß recht süß schlafen; denn nach der Arbeit ist gut ruhen, sagt ein altes Sprichwort, und gearbeitet haben wir in der That mit äußerster Anstrengung.«
»Ja, Herr Seagrave, das haben wir,« fiel Hurtig ein, »trotzdem aber denke ich, werden wir noch ruhiger schlafen, wenn wir vorher dem lieben Gott herzlich für all' die Liebe und Güte danken, die er uns heute in so großem Maaße bewiesen hat. Denken Sie nur, wenn er uns statt des Sonnenscheins Sturm und Regen geschickt und die See mit seinem Hauche in ihren Tiefen aufgewühlt hätte. Würden wir dann wohl so behaglich und ruhig uns der Sicherheit am Ufer erfreuen können? Nein, nein, gewiß nicht! Darum danket dem Herrn und lobet ihn, denn seine Güte währet ewiglich!«
Alle knieten nieder, falteten andächtig ihre Hände und sprachen mit leiser Stimme die Worte eines heißen Dankgebetes nach, welches Herr Seagrave zu dem Throne des gütigen Allvaters emporsandte.
Darauf begaben sich alle zur Ruhe.
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