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51. Kapitel.
Tommy und die Flinte.

Herr Seagrave und Hurtig ließen die Arbeit ruhen, machten sich ein bequemes aber einfaches Lager von Kokosbaumblättern zurecht, nahmen ihr Nachtessen ein, empfahlen sich dem Schutze des Höchsten und begaben sich endlich zur Ruhe. Am nächsten Morgen aber öffneten sie alle noch übrigen Kisten und Ballen, und fanden, außer einer bedeutenden Menge von Büchern, vier Kisten mit Kerzen, drei Fässer voll Reis, der zum Theil gut, zum Theil beschädigt war, und außerdem unter verschiedenen werthlosen Gegenständen noch Manches, was ihnen besondern Nutzen versprach.

Zu ihrer großen Freude entdeckten sie auch eine Kiste voll Thee und zwei Säcke Kaffeebohnen. Vergeblich aber sahen sie sich nach einem Vorrathe von Zucker um.

»Das ist Schade,« sagte Hurtig; »unser liebes Tommychen wird den Kaffee nicht ohne Zucker trinken wollen, obgleich er nicht gerade unumgänglich nothwendig ist.«

»Ei was!« erwiederte Herr Seagrave; »unser liebes Tommychen muß entbehren lernen. Wir können nicht verlangen, auf einer einsamen Insel Alles so bequem zu haben, wie in einer großen Stadt, wo an jeder Ecke ein Kaufladen prangt. Doch laßt uns jetzt nach den Sachen schauen, die wir früher im Sande eingegraben haben.«

Sie begaben sich an Ort und Stelle, schaufelten den Sand hinweg, und fanden die Fässer mit dem eingesalzenen Rind- und Schweinefleisch, so wie die tannenen Bretter im besten Stande. Manche andere Sachen waren jedoch völlig verdorben.

Um neun Uhr Morgens hatten sie ihre Untersuchung beendigt, und Herr Seagrave nahm jetzt noch, da die Zeit nicht drängte, mit Hülfe eines Compasses die Höhe von verschiedenen Punkten der Insel auf. Dann aber griffen sie zu ihren Gewehren und traten ihren Rückweg an, nachdem Hurtig noch seine Taschen mit ein Paar Pfunden des beschädigten Reißes, um die Hühner damit zu füttern, angefüllt hatte.

Glücklich kamen sie bei dem Hause an, rasteten hier ein wenig im Schatten der Bäume, und setzten dann mit neuer Kraft ihren Weg nach den Zelten auf der Südseite fort. Ungefähr eine halbe Meile mogten sie zurückgelegt haben, als Hurtig ein leises Geräusch vernahm, und Herrn Seagrave sogleich zuwinkte, ruhig stehen zu bleiben.

»Die Schweine sind ganz in unserer Nähe,« flüsterte er ihm zu. Laden Sie Ihr Gewehr, wie ich das meinige, und lassen Sie uns dann den Versuch machen, eins von den Thieren zu erlegen.«

Leise schlichen sie dem Orte zu, von wo das Grunzen der Schweine in ihre Ohren drang, erblickten sie aber erst, als sie nur noch etwa zwanzig Schritte davon entfernt waren. Die ganze Heerde befand sich bei einander, und weidete ruhig im hohen Grase.

Im nämlichen Augenblicke hoben die Thiere ihre Köpfe in die Höhe, schnupperten witternd in der Luft umher, und fingen plötzlich laut an zu grunzen. Dann aber, gerade in dem Momente, wo Hurtig seine Flinte abschoß, stoben sie aus einander, und zerstreuten sich in wilder Flucht nach allen Richtungen durch den Wald. Die Flucht geschah so rasch und plötzlich, daß Herr Seagrave gar nicht zum Schusse kam; Hurtig aber hatte eins von den Thieren erlegt, das zappelnd und strampelnd unter einem Kokosbaume lag.

»Ein Stückchen frisches Schweinefleisch wird uns wohl munden, Herr Seagrave,« sagte Hurtig, während sie sich dem erschossenen Thiere näherten.

»Gewiß wird es das, mein alter Freund,« erwiederte Herr Seagrave vergnügt. »Ich denke darum, wir versuchen das Thierchen auf unsern Schultern nach Hause zu tragen.«

»Das kann sich machen, wenn wir ihm die Beine zusammen binden und unsere Gewehre durchstecken. Sehen Sie, es ist noch ein junges Schwein und erst hier auf der Insel zur Welt gekommen. Wahrhaftig, ein prächtig fetter Bursch für sein Alter!«

Die Beine wurden zusammen gebunden, das Gewehr durchgesteckt, und das Schwein auf die Schultern geladen. Als die beiden Männer, auf diese Weise bepackt, aus dem Walde traten, erblickten sie Madame Seagrave und William, die den Schuß gehört hatten und ihnen, mit Besorgniß im Herzen, jetzt entgegen gingen. Besonders Madame Seagrave war sehr aufgeregt und erschrocken. Als sie jedoch das getödtete Schwein bemerkte, wußte sie, woran sie war, und beruhigte sich.

»Ihr habt mir wahrhaftig keine kleine Furcht mit Eurem Schusse eingejagt,« sagte sie, indem sie ihren Gatten liebevoll umarmte. »Wir erwarteten euch heute noch nicht.«

»Wie ist's euch indeß gegangen?« fragte Herr Seagrave.

»O, wir sind die ganze Zeit über Alle recht wohl und munter gewesen,« erwiederte seine Frau.

William trat jetzt zu seinem Vater, nahm ihm seine Last ab, und lud sie sich selber auf, während Herr Seagrave mit seiner Frau langsam voranging.

»Brav gemacht, William!« belobte Hurtig den Knaben. »Was habt Ihr Neues?«

»Mancherlei Gutes, Hurtig!« erwiederte William. »Gestern Abend, als ich das Graben und Pflanzen satt hatte, nahm ich das Boot, und machte einen Versuch, ob ich nicht auch auf der Südseite hier im tiefen Wasser einen Fisch fangen könnte. Und gefangen hab' ich ein Paar, Hurtig, die nicht schlecht waren. Drei große, dicke Kerle, aber von anderer Art, als sie drüben bei'm Hause sind. Heute haben wir sie zum Frühstücke und Mittagsbrode verspeist, und Ihr könnt mir glauben, daß sie ganz kostbar schmeckten!«

»Du warst doch aber nicht allein im Boote, William?«

»Nein, Hurtig, bewahre Gott! Juno war mit, und ich habe bemerkt, daß sie vortrefflich rudern kann.«

»Ja, ja, es ist ein geschicktes Mädchen, William! Uebrigens haben wir nun auch unsere Besichtigung vollendet, und ich kann dir sagen, daß sich in der Rettungsbucht drüben für dich und mich ein tüchtiges Stück Arbeit gefunden hat. Ich glaube kaum, daß wir in einer Woche mit dem Herschaffen all' der Sachen fertig werden, und wünsche deßhalb sehr, daß wir schon morgen anfangen können. Doch müssen wir vor allen Dingen hören, was dein Vater dazu sagt.«

»Gut, Hurtig! Ich will froh sein, wenn ich erst wieder im Boote sitze. Um das Graben und Pflanzen beneide ich Keinen, und überlasse dieß Geschäft dem Vater herzlich gern.«

»Ja, er wird es wohl übernehmen müssen, da er doch gern bei deiner Mutter und den Kindern bleiben will.«

Als sie bei den Zelten ankamen, hing Hurtig das Schwein an eine Querstange des Zeltes, lehnte die Gewehre an die Seitenwand desselben, und entfernte sich mit William, um zum Ausweiden des Schweines sein Messer und ein Paar Querhölzer zu holen. Kaum war er fort, so stellten sich Tommychen und Karoline ein, um die Jagdbeute zu besehen. Tommychen versicherte der Schwester mit wichtiger Miene, daß es ihm äußerst angenehm wäre, zum Mittagsessen Schweinebraten zu bekommen, nahm darauf eins von den Gewehren, und sagte: »Jetzt Karoline, werde ich das Schwein todt schießen.«

»Tommy, du sollst die Flinte nicht anrühren,« schrie Karoline. »Der Vater hat dir's verboten, damit zu spielen, und wird gewiß böse werden, wenn du ungehorsam bist. Denke nur daran, wie du schon einmal ein Gewehr abschossest, als wir noch drüben in der Rettungsbucht wohnten!«

»Ach was, ich fürchte mich nicht!« antwortete Tommy patzig. »Paß' auf! Ich werde dir zeigen, wie man ein Schwein schießt.«

»Thu's nicht, Tommy!« rief Karoline. »Wenn du es thust, geh' ich hin zur Mutter und sag' es ihr.«

»Dann schieß' ich dich todt!« schrie Tommy, und richtete sofort die Mündung des Gewehrs auf seine Schwester.

Karoline erschrak so heftig über diese Drohung, daß sie sogleich schreiend davon lief. Tommy aber strengte alle seine Kräfte an, das Gewehr gegen seine Schulter zu stemmen, und zog an dem Drücker.

Zum Unglücke hatte Tommy gerade seines Vaters noch geladenes Gewehr ergriffen, welches natürlich, als er abdrückte, los ging. Da er es nicht fest genug gegen die Schulter gestemmt hatte, so prallte es zurück, und versetzte dem Jungen eine solche Ohrfeige, daß ihm beinahe Hören und Sehen verging. Der Schaft schlug ihm zwei Zähne aus, quetschte ihm die Nase, und richtete ihn dermaßen zu, daß alsbald aus dem Munde und den Nasenlöchern ein Strom von Blut hervorquoll.

Ganz entsetzt über das Losgehen des Gewehrs und den Schlag, den er empfing, stieß Tommy ein mörderliches Geschrei aus, ließ das Gewehr fallen, und rannte dem Zelte zu, in welchem sich seine Eltern befanden. Diese vernahmen den Schuß, das Gebrüll, und stürzten voll Schreckens hervor, um zu sehen, was es gäbe. Als Madame Seagrave Tommy erblickte, als sie das strömende Blut sah, und ihn so jämmerlich schreien hörte, da meinte sie nicht anders, als er sei durch den Schuß gefährlich verwundet worden, und fiel ohnmächtig ihrem Gatten in die Arme. Mittlerweile rannten auch Hurtig und William, in der Meinung, daß irgend ein Unglück passirt wäre, auf's Eiligste herzu, und sprangen Tommy bei, während Herr Seagrave seine Gattin in den Armen aufrecht erhielt. Hurtig wischte dem Jungen sogleich mit der flachen Hand das Blut aus dem Gesicht, bemerkte auf den ersten Blick, daß er nicht verwundet oder sonst ernstlich beschädigt worden sei, und rief diese fröhliche Nachricht mit lauter Stimme Herrn Seagrave zu.

»Nur die Nase blutet dem Jungen,« sagte er, »und das hat nichts weiter zu bedeuten. – Höre auf zu schreien und zu heulen, du unnützer Bengel!« wandte er sich zu Tommy. »Wie konntest du dich unterstehen, das Gewehr anzurühren?«

»Die Flinte hat mich geschlagen!« jammerte Tommy schluchzend, während immerfort das Blut aus seinem Munde rann.

»Da ist dir schon recht geschehen, du nichtsnutziger Bursch,« schalt Hurtig. »Künftighin wirst du dich wohl hüten, wieder ein Gewehr anzufassen!«

»Ich will in meinem ganzen Leben keines wieder anfassen!« heulte Tommy. »'S hat mich geschossen!«

Ehe Hurtig antworten konnte, kam Juno mit Wasser gelaufen und wusch dem Jungen das Gesicht. Mittlerweile erholte sich auch die arme erschreckte Mutter, ging in das Zelt zurück, und vernahm zu ihrem Troste von Herrn Seagrave, daß nur Tommy's Nase es gewesen sei, die so viel Blut vergossen habe.

Nach einer guten halben Stunde hörte Tommy zu schreien und seine Nase zu bluten auf. Man reinigte sein Gesicht von Neuem, und entdeckte nun, daß er zwei Vorderzähne verloren hatte und seine Backen und Lippen gehörig gequetscht waren. Juno kleidete ihn aus und legte ihn zu Bett, wo er bald einschlief.

»Ich hätte die Gewehre nicht stehen lassen sollen,« sagte Hurtig zu William. »Es war eine Unvorsichtigkeit von mir; jedoch konnte ich mir nicht denken, daß gerade Tommy, dem es schon so oft verboten worden ist, sie anrühren würde. Aber ich merke schon, wo nur irgend Unfug getrieben werden kann, ist der Junge jederzeit bei der Hand.«

»Ja, er wollte mich todt schießen,« sagte Karoline; »aber ich lief schnell davon, als er auf mich zielte.«

»Großer Gott, welch' ein Unsinn von dem Jungen!« rief Madame Seagrave entsetzt aus. »Er hätte mein liebes, gutes Kind, seine eigene Schwester, ermorden können, der elende, nichtswürdige Bube!«

»Nun, er ist für dieß Mal gehörig für sein Vergehen bestraft, liebe Madame Seagrave,« sagte Hurtig. »Ich stehe dafür, daß er für's Erste nicht so leicht wieder ein Gewehr anrühren wird.«

»Allerdings ist er bestraft,« erwiederte Herr Seagrave, »aber er muß noch härter gezüchtigt werden, damit er zeitlebens an seine Thorheit denken möge.«

»Na, Herr Seagrave,« sagte Hurtig lächelnd, »wenn Sie ihn recht ausgesucht hart und strenge strafen wollen, so geben Sie ihm nichts von unserem Schweinebraten. Tommychen ist ein so eingefleischtes Leckermaul, daß ihn keine Züchtigung schärfer treffen und unangenehmer berühren kann, als wenn ihm ein delikates Gericht entzogen wird.«

»Ja, ja, Ihr habt Recht, Hurtig,« entgegnete lachend Herr Seagrave, »und deßhalb sei hiemit beschlossen und entschieden, daß Tommy nicht einen Bissen vom Schweinebraten bekommen und schmecken soll, von Rechts wegen!«

Sie setzten sich zu Tische, nahmen ihr Abendbrod ein, und begaben sich bald darauf sammt und sonders zu Bette.

*


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