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32. Kapitel.
Hurtig erzählt weiter.

Das Blöken und Mäckern der Zicklein weckte am nächsten Morgen unsere Freunde früher als gewöhnlich. Das Wetter war wieder schön geworden, die Sonne stand leuchtend am Himmel und Hurtig führte deßhalb die schwarze Nanny sammt ihren Jungen hinaus in's Freie. Darauf wurde ein treffliches Frühstück von gebackenen Fischen zubereitet und aufgetragen, und nach eingenommener Mahlzeit gingen Herr Seagrave, Hurtig und William hinaus an ihr Tagewerk. Die beiden Männer schlugen die Zelte ab und breiteten das nasse Segeltuch auf dem Boden aus, damit es völlig trocken werden mögte; William aber streifte umher, die Hühner zu suchen, welche man schon seit einigen Tagen nicht gesehen hatte. Ueber eine halbe Stunde lief er vergebens in der Kokosbaumwaldung umher. Endlich aber hörte er den Hahn krähen, folgte der Richtung des Tones und fand glücklich die davongelaufenen Flüchtlinge auf. Er streute ihnen Erbsen vor, lockte sie mit schmeichelnden Worten und brachte sie nach manchem vergeblichen Versuche endlich in die Nahe des Hauses, wo er sie zurückließ, ihnen noch einige Erbsen hinwarf und sich dann zu seinem Vater und Hurtig begab, um ihnen Beistand zu leisten.

Die Hühner hätten vermuthlich lieber Weizen und Gerste als Erbsen aufgepickt, aber diese Sämereien mußten für die Aussaat aufbewahrt werden und wurden daher so viel als möglich geschont. Wenn es auch vor der Hand nicht an Mehl fehlte, indem mehrere Tonnen voll aus dem Schiffbruche gerettet waren, so mußte doch jedenfalls auch für die Zukunft gesorgt werden; Hurtig war nicht der Mann, dergleichen zu vergessen oder zu vernachlässigen.

»Nun, William,« sagte der Alte, als der Knabe zu ihm trat und das gelungene Einbringen der Hühner berichtet hatte, »mit dem Ausbreiten der Zeltleinwand wären wir fertig, und können nun nichts Besseres thun, als ein Hühnerhäuschen zu bauen. Es ist nicht mehr als eine Tagesarbeit und die Thierchen werden uns dafür danken, wenn sie unter Dach und Fach kommen und gegen das schlimme Wetter geschützt sind. Kommen Sie, Herr Seagrave, komm, William, wir wollen uns gleich daran machen!«

Sie fanden nahe beim Wohnhause vier dicht belaubte Palmen, die so eng bei einander standen, daß Hurtig sogleich beschloß, in ihren Schatten das Häuschen anzulegen.

»Hier laßt es uns aufführen!« sagte er. »Die Bäume ersparen uns ein gut Stück Arbeit und wir werden um so eher damit fertig.«

Herr Seagrave zeigte sich mit der Stelle zufrieden und sie gingen daher alsbald an's Geschäft. Ein paar dürre Pfähle und Sparren waren bald zusammen gesucht. Sie wurden an die vier Stämme der Bäume angenagelt, so daß sie zum Haltpunkt für die Wände dienen konnten, und nun brachte Robinson in kurzer Zeit die nöthigen Sparren zu dem schräg abfallenden Dache an.

»So,« sagte er, als er fertig war, »das ist vor der Hand aus dem Rohen gearbeitet, und genügt einstweilen. Nun müssen wir noch ein paar Sitzstangen darin anbringen, die Wände ein bischen bekleiden, das Dach mit Kokosblättern decken, dann ist die Geschichte beendigt. Aber sieh da, da kommt eben Juno und trägt das Mittagsessen auf; laßt uns daher die Arbeit bis nach Tische verschieben.«

Gegessen hatten sie bald und kaum war die Tafel wieder abgedeckt, so ging es auch wieder an das Hühnerhaus. Herr Seagrave sammelte Zweige, William und Hurtig flochten sie in die Wände ein, deckten das Dach mit Kokosbaumblättern und freuten sich endlich, ehe noch die Sonne unterging, des gelungenen Werkes. Der Hühnerstall war fertig, William lockte die Hühner hinein, warf ihnen eine Hand voll Erbsen vor, und sprach seine Freude über das nette Gebäude aus.

»Gewiß, Herr Seagrave,« sagte Robinson, »werden sich die Thierchen bald hinein gewöhnen; wenn ich einmal Zeit habe, will ich ihnen auch eine kleine Thüre vor den Eingang zimmern. Ich denke, die kleine Karoline wird wohl hier ihre Herrschaft geltend machen, und sich die Besorgung der Hühner und der Küchlein, wenn erst welche da sind, nicht nehmen lassen.«

»Ja, das soll ihr Amt sein,« rief William aus. »Sie wird, sich recht freuen, wenn sie hört, daß sie die kleine Hühnermutter werden soll. Aber wollen wir nicht jetzt noch die Zeltleinwand aufrollen? Der Tag war herrlich und da hat sie die Sonne schon ganz ausgetrocknet.«

»Wahr, William,« erwiederte Hurtig. »Wir wollen sie nach Hause schaffen und ihr vor der Hand eine Stelle unter dem Divan, wo noch hinreichend Platz ist, anweisen.«

Während Herr Seagrave und Robinson das Segeltuch zusammen rollten, und William die schwarze Nanny mit ihren Zicklein versorgte, war die Sonne untergegangen und alle drei begaben sich in's Haus. Die ganze Familie setzte sich um den Tisch herum und Robinson wurde einhellig aufgefordert, in der Erzählung seiner Geschichte ohne Aufenthalt fortzufahren. Robinson räusperte sich und begann wie folgt:

 

»Gestern Abend erzählte ich, daß ich fest entschlossen war, aus der Schule wegzulaufen, erklärte aber noch nicht, auf welche Weise ich die Flucht bewerkstelligte. Ich konnte das Schulhaus nicht unbemerkt verlassen, außer zu der Zeit, wo alle Knaben im Schlafe lagen. Dazu waren alle Thüren im Hause stets verschlossen und obendrein noch lag meine Schlafkammer zum Unglücke im obersten Stockwerke des Gebäudes. Ich hatte jedoch eine Fallthür bemerkt, die unter das Dach führte und zu der ich vermittelst einer Leiter gelangen konnte. Sie war nur von innen durch einen Riegel verschlossen und ich nahm mir sogleich vor, meine Flucht auf dem Wege durch dieselbe zu bewerkstelligen. Eines Nachts benutzte ich meine Zeit, erhob mich, als alle übrigen Knaben fest schliefen, von meinem Lager, kleidete mich in möglichster Stille an und verließ, auf den Zehen schleichend, mein Schlafgemach.

Zum Glück schien der Mond so hell, daß ich ohne Schwierigkeiten zu der Fallthüre gelangte. Ich klimmte zu ihr hinauf, um sie zu öffnen. Es gelang mir, aber erst nach großer Anstrengung; denn sie war für einen Knaben von meinem Alter ausnehmend schwer. Als sie offen stand, schlüpfte ich hindurch und stieg durch eine Bodenluke auf das Dach des Hauses hinaus. Hier schaute ich mit Entzücken umher; ich konnte, in der Dachrinne stehend, den Mastenwald der Schiffe im Hafen und weiterhin das offene Meer sehen, und hielt mich bereits für frei und gesichert. Daß ich erst noch auf die Straße hinab klimmen mußte, vergaß ich ganz. Endlich fiel mir dieser Gedanke schwer auf's Herz, ich begann unter mich zu schauen und nach einem Wege umher zu spähen, auf welchem ich vom Dache hinab kommen konnte. Nach kurzer Ueberlegung entschloß ich mich zuletzt, an der zinnernen Wasserröhre, die vom Dache bis auf den Boden reichte, hinunter zu klimmen, und ging ohne Zögern an's Werk. Mit Händen und Füßen klammerte ich mich, da sie weit genug von der Mauer abstand, daran fest und ließ mich langsam hinabgleiten. Ich war damals leicht wie eine Feder und gewandt wie eine Katze. Glücklich kam ich auf der Erde und im Hofraum an, kletterte geschwind über das eiserne Thorgatter und befand mich nun in völliger Freiheit auf der offenen Straße.«

»Nun, da konntet Ihr von Glück sagen, Hurtig,« bemerkte Madame Seagrave. »Es ist ein wahres Wunder, daß Ihr nicht vom Dache gestürzt seid und den Hals gebrochen habt.«

»Ja wahrlich, es war ein großes und unverdientes Glück, und oft habe ich späterhin mich daran erinnert. In jenem Augenblicke dachte ich aber an nichts, als an meine wieder errungene Freiheit und an meine halsstarrigen, wahnsinnigen Pläne und suchte so eilig wie möglich davon zu kommen. Ohne Hut, denn die Hüte der Schulknaben wurden stets im Lehrzimmer an Nägeln aufgehangen, rannte ich dem Hafen zu und bemerkte vom Strande aus ein Fahrzeug mit gelösten Topsegeln, das offenbar die Zeit der Ebbe, die nicht mehr fern war, zur Abfahrt benutzen wollte. Die Leute darauf wanden eben den Anker in die Höhe und sangen dabei ihr gewöhnliches Hoia und Hüa durch die Nacht. Schon überlegte ich, ob ich mich nicht ohne Umstände in's Wasser werfen und hinüber schwimmen sollte, als ich bemerkte, daß ein Matrose in der Jolle (kleiner Nachen) nach einer höher gelegenen Uferstelle ruderte, wo ein Landanker befestigt war. Ich lief hin, erreichte den Ort, ehe der Matrose das Tau gelöst hatte und sprang, ohne ein Wort zu sagen und ohne alle Umstände, in das Boot hinein.

›Was willst du, junger Bursch?‹ fragte der Matrose überrascht.

›Ich will in See!‹ erwiederte ich; ›und du sollst mich mit an Bord nehmen.‹

›Gut, mein Jüngelchen,‹ sagte er kaltblütig. ›Der Kapitän hat ohnehin davon gesprochen, daß ihm noch ein Schiffsjunge fehle und da kann er dich vielleicht gebrauchen.‹

Er stieß wieder vom Lande ab und ruderte an's Schiff zurück. Wie ein Eichhörnchen kletterte ich an Bord.

›Wer bist du?‹ fragte mich der Kapitän, der auf dem Verdecke stand.

Ich brachte meine Worte wieder an und sagte ganz trocken, ich wolle in See gehen.

›Du bist noch zu klein und zu jung dazu,‹ sagte der Kapitän.

›Nein, das bin ich nicht,‹ antwortete ich kurz und patzig.

›Kannst du auf den Mast klettern?‹ fragte mich der Kapitän.

›Ja, ich kann's!‹ sprang schnell und hurtig wie eine Katze zwischen das Takelwerk hinein und saß im nämlichen Augenblicke auch schon ganz oben auf der Topgallantraa.

Als ich wieder herab kam, schaute mich der Kapitän verwundert an. ›Gut,‹ sagte er; ›ich sehe, aus dir kann ich mit der Zeit einen tüchtigen Seemann machen und will dich daher mitnehmen. Wenn wir nach London kommen, sollst du als Lehrling, eingeschrieben werden. Aber wo hast du deinen Hut?‹

›Daheim gelassen hab' ich ihn,‹ erwiederte ich.

›Thut nichts,‹ entgegnete der Kapitän und lachte. ›Eine rothe Nachtmütze ist eben so gut für dich.‹

Er ging in die Kajüte, holte eine Mütze heraus und schenkte sie mir.

Das Fahrzeug, auf welches ich mich, wie erzählt, eingedrängt hatte, war ein Kohlenschiff und segelte nach kurzer Frist ab. Noch ehe der Tag anbrach, befand ich mich schon auf dem Oceane, der fortan meine Heimath werden sollte.

Sobald die mit einer Abfahrt immer verknüpfte Unruhe und Unordnung vorüber war, unterwarf mich der Kapitän, welcher mir mehr und mehr als ein rauher Mann erschien, einer näheren Prüfung. Jetzt bereuete ich schon den Schritt, den ich gethan hatte, und als ich mich nach überstandenem Examen in der kalten Nacht durchnäßt und fröstelnd auf ein Bündel alter Segel niedersetzte, stiegen zum ersten Male trübe Gedanken an meine arme Mutter und an den Kummer, den ich ihr durch meine Flucht verursachen würde, schwer und bedrückend in meiner Seele auf. Ich weinte heiß und bitterlich; aber Rückkehr war nun nicht mehr möglich.

In späterer Zeit, Herr Seagrave, habe ich oft gedacht, daß mein ganzes mühevolles und trauriges Leben nur die gerechte Strafe für den Leichtsinn und die Grausamkeit gewesen ist, mit welcher ich meine arme, liebe Mutter verlassen konnte. Ich war ihr einziges Kind, ihr einziger Trost, ihre ganze Liebe. Nichts auf der ganzen Welt hatte die arme Frau, was sie lieben konnte, als nur mich allein, und ich böser und nichtswürdiger Bube konnte es über's Herz bringen, sie mit ihrem brennenden Schmerze allein zu lassen. Mein Undank hat ihr das Herz gebrochen! Eine schlechte Vergeltung, William, all' ihrer Liebe und zärtlichen mütterlichen Sorgfalt! Nicht? Ja, Gott im Himmel möge mir die schändliche That verzeihen!«

Ueberwältigt von innerlicher Bewegung hielt der alte Hurtig inne und Niemand wagte durch ein Wort, einen Laut die schmerzlichen Gefühle des alten Mannes zu stören. William aber, der neben seiner Mutter saß, wandte sich leise zu ihr und küßte sie.

»Das ist mir ein erfreulicher Anblick, William!« rief Robinson, der die Zärtlichkeit des Knaben bemerkt hatte. »Er ist mir ein Beweis, daß du dir meine Geschichte zu Herzen nimmst und gewiß nun und nimmermehr deine guten Eltern verlassen wirst!«

Eine Thräne glänzte auf der Wange der Mutter, als sie ihren Knaben fest an ihren Busen drückte.

Robinson aber fuhr fort: »Wenn Ihr nichts dagegen habt, so laßt mich für heute meine Erzählung beschließen. Ich bin nicht mehr in der Stimmung, weiter zu sprechen, mein Herz schlägt bang und traurig, wenn ich an jene thörichte und gottlose That zurückdenke. Auch ist es Zeit zum Schlafengehen. Nehmen Sie daher die Bibel, Herr Seagrave und lesen Sie uns, ich bitte, das Kapitel vor, in dem der herrliche Spruch unseres Heilandes steht: ›Kommet her zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will Euch erquicken und trösten!‹ Es ist eine wunderbar schöne und erhebende Stelle in der heiligen Schrift.«

Herr Seagrave schlug die Bibel auf, las das von Hurtig gewünschte Kapitel und beschloß es mit einem kurzen und inbrünstigen Gebete. Hierauf suchten Alle ihre Lager auf und schlummerten ruhig und süß.

*


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