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Luthers Tischreden gehören nach Form und Inhalt zu den eigenartigsten Erscheinungen unsrer deutschen Literatur. Es ist selbstverständlich, daß man sie nicht ohne weiteres zu den »Werken« Luthers rechnen kann. Wortgetreue Wiedergabe läßt sich in einer Zeit, wo es noch keine Stenographie gab, nicht erwarten, obwohl die Tischgenossen ihre Notizen noch am Tische Luthers selber zwischen dem Essen zu machen pflegten. Aber Luthers unnachahmliche Eigenart tritt uns in diesen Reden nicht weniger scharf und eindringlich entgegen, als in den Schriften von seiner eigenen Hand. Sie schimmert deutlich selbst aus denjenigen Stücken hervor, in denen seine Worte eine stärkere Stilisierung von seiten der Aufzeichnenden erhalten haben. Und jedenfalls, zur Kenntnis der Psyche des großen Reformators geben oft gerade diese unabsichtlichen, rückhaltlosen, freimütigen Augenblicksäußerungen unschätzbare Beiträge.
Eine Sammlung der auf eine ganze Reihe von Nachschriften und Notizen zurückgehenden Tischreden hat schon sehr früh stattgefunden. Die älteste gedruckte Sammlung verdanken wir dem späteren Senior in Erfurt, Joh. Aurifaber († 1575), der in den Jahren 1545 und 1546 selbst häufig Luthers Gast gewesen ist. Sie ist 1566 erschienen und erlebte in den folgenden Jahren, schnell hintereinander, mehrere Auflagen. Von den Urschriften, die die Grundlage dieser Sammlung bilden, besitzen wir noch fünf. Sie stammen von Konrad Cordatus († als Superintendent in Stendal 1546), Anton Lauterbach († als Superintendent in Pirna 1569), Veit Dietrich (Luthers langjähriger Famulus und nachmaliger Pfarrer zu St. Sebald in Nürnberg, † 1549), Johann Schlaginhaufen (Pfarrer in Zahna, später in Köthen) und Joh. Mathesius (der bekannte Biograph Luthers, Rektor und Pfarrer zu Joachimsthal im Böhmischen Erzgebirge, † 1565). Eine Abschrift der Mathesischen Handschrift ist erst neuerdings von Ernst Kroker in der Leipziger Stadtbibliothek aufgefunden und herausgegeben worden. (Ernst Kroker, Luthers Tischreden in der Mathesischen Sammlung, Leipzig 1903. Vergleiche die ausgezeichnete Einleitung über die Entstehungsgeschichte der Tischreden, S. 1-73.)
Die Untersuchungen über die Qualität der genannten Niederschriften und ihre gegenseitigen Beziehungen sind noch nicht abgeschlossen. Eine Gesamtausgabe, die die neuzeitlichen Funde und Forschungen berücksichtigte, gibt es noch nicht. Ich habe mich daher an die bisher vollständigste Sammlung in der Erlanger Ausgabe der Schriften Luthers gehalten. An einzelnen Stellen, wo es wesentlich erschien, habe ich die dort entnommenen Texte nach der Mathesischen Sammlung korrigiert; auch aus ihnen einige Stücke mitgeteilt, die sich in den älteren Ausgaben nicht finden.
In Mathesius' Lutherbiographie gibt es eine feine, anschauliche Schilderung, wie es an Luthers Tisch herging. »Ob aber wohl unser Doktor oftmals schwere und tiefe Gedanken mit sich an Tisch nahm, auch bisweilen die ganze Mahlzeit sein alt Klostersilentium hielt, daß kein Wort am Tische fiel, doch ließ er sich zu gelegener Zeit sehr lustig hören, wie wir denn seine Reden Condimenta mensae pflegten zu nennen, die uns lieber waren, denn alle würzige und köstliche Speise.
Wenn er uns wollte Rede abgewinnen, pflegte er einen Anwurf zu thun: Was höret man Neues? Die erste Vermahnung ließen wir vorübergehen. Wenn er wieder anhielt: Ihr Prälaten, was Neues im Lande? da fingen die Alten am Tische an zu reden. Doktor Wolff Severus, so der Römischen Königlichen Majestät Präzeptor gewesen, saß oben an, der bracht was auf die Bahn, wenn niemand Fremdes vorhanden, als ein gewandeter Hofmann.
Wenns Gedöber (d. h. eifriges Gespräch), doch mit gebührlicher Furcht und Ehrerbietigkeit anging, schossen andere bisweilen ihren Theil auch dazu, bis man den D. anbracht. Oftmals legte man gute Fragen ein aus der Schrift, die löset er fein, rund und kurz auf, und da einer einmal Part hielt, könnt ers auch leiden und mit geschickter Antwort widerlegen. Oftmals kamen ehrliche Leut von der Universität, auch von fremden Orten an Tisch, da fielen sehr schöne Reden und Historien.«
Bei der Lektüre der nachfolgenden Tischreden wird dem Leser unwillkürlich dies Situationsbild vor die Augen treten. Ergänzt wird es durch die kleinen anschaulichen Züge, die einzelne der Tischreden selber enthalten, wenn sie die Veranlassung der Worte Luthers angeben. Gerade solche Stücke wirken manchmal mit einem wundervollen poetischen Zauber.
Der Luther der Tischreden ist nicht mehr ganz der Luther der großen Reformationsschriften aus der ersten Zeit der öffentlichen Wirksamkeit. Sein kühner Optimismus ist durch die schweren und schmerzlichen Erfahrungen seit dem Bauernaufstand ganz merklich gedämpft worden. Eine tiefe Schwermut klingt durch viele seiner Worte hindurch. Er stellt der nächsten und der fernen Zukunft die trübsten Prognosen. Der jüngste Tag, der vor der Tür steht, beschäftigt seine Phantasie sehr lebhaft. Seine Kritik der Widersacher im evangelischen Lager ist häufig schärfer und bitterer als die der katholischen Gegner. Aber wenn er auch den Glauben an Welt und Menschen verloren hat, oder vielleicht gerade deshalb, – die Intensität seines religiösen Glaubens erscheint fast noch gesteigert. Ein grandioses Gottvertrauen – das ist der Grundzug seines Wesens geblieben. Und dazu: eine schlichte Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit, die völlig unbekümmert ist um die Folgen dessen, was sie sagt und tut, sprühender Witz und herzenswarmer Humor, bei aller Einseitigkeit erstaunliche Treffsicherheit im Urteil über Personen und Ereignisse, Wucht und Tiefe der Gedankenbildung und unerschöpfliche Bildkraft der Sprache, eine Charaktergröße, in der sich Stahlhärte mit einer wundersamen Weichheit des Gemütes verbindet – all diese Eigenschaften in ihrer ganz eigentümlichen Prägung, die sich jeder Analyse entzieht und die wir schließlich nur mit dem Namen »Luther« bezeichnen können, entfalten sich an den bunten und reichen Gesprächsstoffen der Tischreden.
Die Auswahl, die hier geboten wird, umfaßt kaum den 20. Teil des Vorhandenen. Alles nur theologisch Interessante ist zurückgestellt worden. Aber das Beste, was unmittelbare Wirkung zu üben geeignet ist, hoffe ich aus der großen Masse herausgeholt zu haben. An der kräftigen Derbheit einiger Reden werden allzu zartbesaitete Gemüter sich vielleicht stoßen. Aber für solche ist Luther überhaupt nichts. Überkultivierte, verträumte religiöse Romantik muß sich schon andere religiöse Helden suchen. Für alle aber, die sich in unsern hypermodernen und nervösen Zeitläuften Geist und Gemüt gesund erhalten haben, wird gerade auch der derbe Luther ein besonderes Labsal sein.