Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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26

Am folgenden Morgen beichtete Hinnerk Schmidt seinem Seelsorger. Zwei Stunden unterredete er sich mit ihm. und als er aus der Tür trat, ging er zuerst nach der Post, eine Depesche an Hans und dessen Frau nach Hamburg aufzugeben. Und dann begleitete der Propst ihn nach dem Gericht – Hinnerk Schmidt stellte sich den Behörden.

Auf dem Gericht sah er sich nach dem Gerichtsdiener und nach den Ketten um, da er sich selbst schuldig sprach. Aber es geschah nichts dergleichen, der Fall war nicht danach angetan, den vermöglichen Hinnerk Schmidt in Haft zu nehmen.

Und nach drei Monaten saß er auf der Bank der Angeklagten vor dem Schwurgericht.

Die Verhandlung ließ sich für den Angeklagten gut an. Milde und Wohlwollen webten in dem Raum, und die, die sich darauf verstanden, lasen in breiter Schrift an den Wänden die Worte: Hinnerk Schmidt wird freigesprochen werden.

Der Angeklagte las es nicht, er sah keine geschriebenen Weissagungen und nicht die Hand der Zukunft an der Wand. Und doch saß er ruhig und gesammelt auf der Sünderbank des Gerichts. Der Freispruch wird ihm nicht unerwünscht kommen, eine Verurteilung aber auch nicht. So saß er da als ein Unverletzlicher, dem nichts geschehen kann. Bruder und Schwägerin waren auf sein Telegramm nach Westerhusen zurückgekommen, mit denen hatte er richtig aufgeteilt, mit denen hatte er sich ausgesöhnt, die letzte Abgabe seiner Tat war er jetzt im Begriff zu zahlen. Dem Rechte war Genüge geschehen.

Aber das befriedigte Hinnerk Schmidt in seiner Büßerstimmung nicht. In ihm wühlte und wogte es, er müsse (sein Prozeß möge so ausgehen oder anders) dem vom ihm verletzten sittlichen Recht zur Sühne seinen Teil am Gewinn den Armen geben. Dabei dachte er wohl nicht einmal an Lohn und Strafe im Jenseits. Das glaubte er wenigstens, so empfand er, und so fühlte er sich glücklich. Er täuschte sich nicht mehr, er wollte das Gute, wollte es nicht zu seinem eigenen Heile, wollte es nur deshalb, weil es das Gute war. Und das machte ihn froh, gab ihm süßen Frieden. O Gott, frohlockte er, ich glaube wirklich, du sendest mir dein Reich! Noch ist es nicht da, aber es naht, es kommt, schon fühle ich sein sanftes Wehen.

Er wollte alles den Armen geben, er wußte nur noch nicht, wie und wem. Der Ärmste im Dorf war der alte Hargens, mit dem er einstmals zusammen das Gänsegeschäft gemacht hatte. Federn hatte er aufgesammelt. Wie er daran dachte, schien es ihm kaum glaublich. Johann Hargens war zwar auf nichts gekommen, aber ihm konnte er doch nicht alles geben. Was sollte der mit all dem Geld?

Den Schatz verteilen? Nein, das war auch nicht das Rechte. Das war, wie Flintsteine in die Fuhlenau werfen. Aus sich selbst wurde er mit dem Punkt nicht fertig, er wußte nicht, wie es anzufangen sei, sein Gut den Armen geben. Er wollte den Propst und den Justizrat fragen, wie man das mache.

So grübelte er, während die Zeugen vernommen wurden und dann der Staatsanwalt sprach und auch, als darauf sein Verteidiger, Justizrat Bauer, redete. Immer dachte er: wie das wohl anzufangen ist? Er allein konnte das nicht durchdenken, er zweifelte auch, ob der Notar und der Geistliche das wüßten. Aber durch all die Zweifel hindurch frohlockte es in ihm: Gottes Reich ist mir nahe. Er hörte nur leicht hin, als der Staatsanwalt das Schuldig des wissentlichen Meineids gegen ihn in Antrag brachte. Das war ja ganz einerlei, denn das Reich Gottes macht nicht vor Zuchthaus- und Gefängnismauern Halt.

Äußerlich sah man ihm nicht an, was er dachte, äußerlich angesehen, saß er mit rotem Gesicht auf der Anklagebank, die Züge ruhig, gelassen, ein bißchen schlafmützig und müde. Hinter dem Richtertisch führten zwei junge, im Vorbereitungsdienst beschäftigte Herren ein Nebenprotokoll. Den Angeklagten nahmen sie gelegentlich unter ihre Kneifer. Der eine legte die flache Hand an die Stirn, die Dicke des Brettes zu veranschaulichen, das Hinnerk Schmidt vor seinem Verstandskasten trage, der andere machte aus seiner Linken ein Sprachrohr und flüsterte: »Stupor!« Und beide dankten dem Schöpfer, daß sie nicht waren wie der.

Dem Verteidiger kam es darauf an, die Gedankenmaschine freizulegen, bei deren Gangart Hinnerk Schmidt so handeln mußte, wie geschehen. Daß der von seinem Klienten geleistete Eid sachlich nicht zu Recht bestehen könne, gab er, nachdem er die Rechtslage nach allen Seiten beleuchtet hatte, zu. Er prüfte, welchen Wert die mit Peter Schmidt bei Lebzeiten getroffene, dann einseitig von dem Verstorbenen unmittelbar vor seinem Tode zurückgenommene Abmachung vor dem Recht in Anspruch nehmen könne, und kam zu dem Ergebnis: Hinnerk hatte kein Recht, die Sachen von dem Nachlaßverzeichnis auszuschließen. Ob er einen persönlichen Anspruch gegen die Erben auf Herausgabe des Schatzes habe, solle dahin gestellt bleiben. Der Rechtsanwalt behauptete indessen, Hinnerk Schmidt sei derart im guten Glauben gewesen, daß weder ein wissentlich falscher Eid, noch auch ein fahrlässiger Falscheid in Frage komme.

Der Angeklagte selbst hatte ihm dazu in der Verhandlung wenig Stoff geliefert. Wenn Karl Ohm Schnoor aus Bargenhusen nicht dagewesen wäre, hätte es um die Darlegung seiner inneren Erlebnisse mißlich ausgesehen. Aber da kam Karl Schnoor. Der Staatsanwalt hatte ihn wegen Anstiftung oder Beihilfe anklagen wollen, das Gericht hatte aber das Verfahren gegen ihn eingestellt. Eines anderen Selbstbewußtsein hätte darunter gelitten, Karl Ohm Schnoor fühlte sich gehoben. Und eifrig und feurig blieb er bei allem, was er zu Hinnerk Schmidt gesagt hatte, und holte zu schwungvollen Reden aus, wobei er die Idealität und Unerschütterlichkeit der Rechtsgrundsätze darzulegen versuchte. Es war schade, daß der Mann auf dem Richterstuhle so gar keine Auffassung für Feuer und Begeisterung hatte und den Flieger immer wieder zur festen, dauernden Erde herunterholte. Ein noch besserer Zeuge war der Propst, der mit Genehmigung seines Beichtkindes sachlich und ausführlich mitteilte, was er wußte. So kamen die Geschworenen in die Lage, das parlamentarische Räderwerk in Hinnerk Schmidts Seele arbeiten zu sehen.

»Aber«, warf der Staatsanwalt ein, »Ferdinand Lücht hat ihm vor dem Schwur einen Fall mitgeteilt, aus dem der Angeklagte entnehmen mußte, daß die Schenkung höchstens zum Wert von 4666 2/3 Mark zu Recht bestehe.«

Als der Staatsanwalt das gesagt hatte, stand Hinnerk Schmidt auf und sagte: »Das ist wahr, das hat er mir gesagt.«

Der Vorsitzende nahm Veranlassung, die Beweisaufnahme noch einmal zu eröffnen und den Angeklagten zu fragen: »Ja, Schmidt, mußten Sie sich da nicht sagen, daß das auch bei Ihnen gelte?«

»Ja, Herr Präsident. Ich glaube, im ersten Augenblick habe ich so was gedacht. Aber es war mir, namentlich das mit dem Bruch und mit der Zahl, so wunderlich, als ob es gar nicht angehen könne, und nachher habe ich es ganz vergessen gehabt. Und daß der Amtsrichter davon etwas gesagt hat, ist mir nicht bewußt. Daß es doch so sei, das und vieles mehr hat mir der Justizrat erst gesagt, aber das war nach dem Schwur. Als ich schwor, glaubte ich ganz fest, wahr zu schwören.«

»Schmidt, früher waren Sie Ihrer Sache doch nicht so sicher; Sie haben den Zeugen Schnoor befragt, weshalb nicht vor dem Schwur den Justizrat?«

Hinnerk Schmidt schwieg.

»Wenn Sie das Rechte gewollt haben«, fuhr der Vorsitzende fort, »weshalb glaubten Sie Karl Schnoor, der die Sache doch nicht studiert hat, weshalb folgten Sie diesem Rat (es war ein schlechter Rat), weshalb hüllten Sie sich in Schweigen, als der Amtsgerichtsrat Sie vernahm? Warum gingen Sie ihm gegenüber nicht offen vor, teilten den Sachverhalt, wie er lag, mit? Es wäre zu Protokoll genommen worden, auch Ihr Protest. Sie konnten dann Ihre Rechte noch immer verfechten.«

Hinnerk Schmidt sagte zwar einige Zeit nichts, aber man sah, wie seine Lippen arbeiteten. Dann kam es: »Das habe ich nicht gekannt.«

»Mag sein«, erwiderte der Vorsitzende. »Mir kommt es überhaupt so vor, Sie sind, wie man so sagt, in die Sache ›hineingedöst‹. Wissentlich Falsches wollten Sie nicht beschwören, ich meine so, daß Sie beim Schwur der Unwahrheit scharf ins Gesicht sahen. Sie fragten aber keinen Rechtsverständigen und hüllten sich in Schweigen, weil sie befürchteten, etwas zu erfahren, was Ihnen Gewissensnot bereiten könnte, mehr, als Sie ohnehin schon hatten. Und Sie wollten das schöne Geld doch gar zu gern für sich allein behalten. Und in dem Augenblick, als Sie schworen, hatten Sie sichs so fest eingeredet, Sie seien im Recht, daß die Zweifel hinter Ihnen lagen. Ist es so, Schmidt?«

Da antwortete Hinnerk Schmidt: »Just so ist es, Präsident.«

Nach diesen Worten setzte er sich nieder, stand aber gleich wieder auf und fügte hinzu: »Damals war aber Gottes Reich noch fern von mir.«

»Was war fern von Ihnen?« fragte der Vorsitzende, er glaubte sich verhört zu haben.

Hinnerk Schmidt erhob sich noch einmal und antwortete: »Gottes Reich!« und nahm schnell wieder auf seiner Bank Platz.

Ob dieser Antwort lief ein gutmütig überlegenes Lächeln von der Bank der Geschworenen nach dem Richtertisch; am Katzentisch der Nebenprotokolle fror es auf den Gesichtern der Jünglinge fest.

»Mit der letzten Äußerung ist ein fahrlässiger Falscheid gegeben«, bemerkte der Staatsanwalt.

Staatsanwalt und Verteidiger wiederholten ihre Anträge, Hinnerk Schmidt hatte nichts mehr zu sagen. Die Geschworenen berieten nicht lange, dann sprachen sie Hinnerk Schmidt von Westerhusen von der gegen ihn erhobenen Anklage frei. Sie nahmen weder wissentlichen Meineid noch fahrlässigen Falscheid an.


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