Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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Um den Wegzoll

1

Der Bauervogt Hans Voß im Dorfe Warl schickte zum Zollwirt Peter Helling, er werde gebeten, Donnerstag nachmittag vier Uhr zu ihm zu kommen, um die Sache mit Hans Rohwer zu vergleichen.

Peter wollte nicht hin, aber seine Tochter Anna sagte: »Vater, das mußt du! Das gehört sich so, das schickt sich nicht anders. Und wenn du nicht kommst, erzürnst du das ganze Dorf.«

Peter Holling sah nicht gerade darnach aus, als ob er der Höflichkeit und Schicklichkeit auf Kosten seines Eigensinnes viel Spielraum gönne, aber der letzte von Anna angeführte Grund schlug durch. Er war Schenkwirt und Erheber des jetzt streitig gewordenen Wegzolls. Da war es ihm nicht einerlei, wie er mit dem Dorfe stand.

»Ich laß mich aber auf nichts ein«, sagte er, als er wegging.

 

»Da mußt du hin«, sagte des Steinhofers Mutter zu ihrem Sohne Hans Rohwer, als er die gleiche Einladung erhielt.

»Das versteht sich«, erwiderte dieser und setzte hinzu: »An mir solls nicht liegen, wenn nichts zustande kommt.«

»Du bist hitzig gewesen, Hans«, bemerkte die Alte.

»Das bin ich«, entgegnete Hans Rohwer. »Das will ich gern bekennen. Aber wie sagt das Sprichwort? ›De ni doll warrn kann, daegt ni.‹ Ich meine auch, der, dems bei gewissen Sachen nicht überläuft, der hat keine Ehre.«

»Denk an Anna!« rief ihm die Mutter nach, als er das Haus verließ.

Das Dorf bestand aus verstreuten Einzelgehöften, der Bauervogt Hans Voß wohnte ziemlich weit weg, der Steinhofbauer mußte an der Warler Mühle vorbei. Die Warler Windmühle gehörte dem Vogt zu eigen, er hatte selbst das Handwerk gelernt, wenn er es jetzt auch durch Gesellen betrieb. Hans Rohwer hatte den alten Vogt noch im Mülleranzug gekannt und war als Knabe mit ihm zur Mühlenkappe hinaufgestiegen.

Hans Rohwer dachte daran, als er bei der Mühle angekommen war; die Luft war schwül und schwer, Verlangen nach Höhenluft erwachte, er zog seine Uhr: ›Es ist noch Zeit, ich will mal auf die Galerie.‹

Es war Windstille, die Mühle, in der Schere stehend, sah mit ihrem Kopf, mit den Flügeln wie ein großer Vogel aus, der fliegen will. Hans Rohwer wußte noch von seiner Knabenzeit her, daß immer ein Glanz, eine Art Morgenröte auf ihrer Stirn liege; noch jetzt stand ›Aurora‹ mit langen gelben Buchstaben hingemalt an der Kappe.

Vom Mühlenberg und zumal von dem in ziemlicher Höhe rund um den Bau laufenden Wandelgang aus hat man die schönste Aussicht. Die Landschaft huldigt dem, der auf dem Berg und auf der Mühle steht und ihr die Ehre antut, sie zu besehen. Feld und Wiese und Wald und Höfe und Häuser werden durch die Ergebenheit gegen ihn zusammengehalten. Sie liegen zu seinen Füßen, ihm zu Liebe zeigen die fließenden Moore und Wiesen ihre Größe, ihre Freiheit, und dehnen sich, ihm zu Willen.

Prächtig hingerollte Felder und hinter den Koppeln das große Moor. Unmittelbar hinter den Koppeln? So scheint es. In Wahrheit ist aber noch ein ziemlich breiter, von den Knicken verdeckter Wiesenstreif dazwischen.

Nach dem Moor zu liegt auch Hans Rohwers Stelle, der Steinhof, ebenso seines Gegners Besitz, das Zollhaus, nicht nahe beieinander, aber beide am Rande der nach der braunen Steppe abfallenden Koppeln. Und beide in einer Gebüschwolke, die Steinhofwolke in breiten Formen (da herrschen Eichen vor), die Zollhauswolke in gefederten Linien (da streben rasche, ungeduldige Pappeln in die Höhe).

Gleich hinter dem Zollhaus ist die Aubrücke. Man sieht den mit Weidenstümpfen besetzten, nach dem Kirchspiel Schönmoor hinüber führenden Weg.

Wie ist die Luft so warm und schwer! Nach Schönmoor zu ballt sichs blauschwarz.

Die Straße lang und weit und gewunden über das Moor hinführend.

›Das ist der Unglücksweg‹, dachte der Bauer, ›das ist er‹.

Hans Rohwer sah lange hin, und wie die Straße so wand sich auch sein reuevoller Sinn.

Es war kein einfacher Weg. Anfangs verfolgt man noch seine Baumzeile, bald wirds ein Gewirr, denn rechts und links zweigen sich Torffuhrwege ab, und alle sind wie der Hauptweg mit Weiden bepflanzt.

Zwischen Steinhof und Zollhaus auf der Höhe glänzen gelbe Stoppeln. Das sind die Grenzfelder beider Höfe – die Meinerskoppeln. Die Meinerskoppeln bekamen einen langen Blick, machten sie doch ein Hauptstück seines Lebens aus. Ihretwegen ging er heute zum Vogt.

 

Hans Rohwer und Peter Holling hatten sich geschlagen. Unter eingesessenen Bauern war das, Gott sei Dank! in Warl selten; um so größer daher der Skandal.

Der Vogt war zu seinen Räten gegangen. »Da muß man einschreiten«, hatte er ihnen vorgestellt. »Wir müssen versuchen, es wieder einzurichten. Ob es was nützen wird? Peter Zoll ist eigensinnig, und Hans zuweilen hitzig, ich weiß nicht, wir wollens versuchen.« – »Wir wollens versuchen«, hatten die Dorfväter geantwortet.

Es tat wirklich not, den Versuch zu machen. Denn kam kein Vergleich zustande, dann mußte sich die zwischen Steinhof und Zollhaus eingetretene Spannung in einen Prozeß austoben, wie Warl ihn noch nicht erlebt hatte. Und die Warler waren doch immer so stolz darauf gewesen, daß sie nicht, wie gewisse Nachbardörfer, ihr Geld nach Advokaten und Gericht trugen.

 

Der Vogt näherte sich den Siebzigern, hatte aber noch immer sein volles, schwarzes Haar. Bei ihm stellten sich die würdigen Väter der Gemeinde pünktlich ein. Da kamen mit ihren silberbeschlagenen Meerschaumpfeifen die Weißköpfe Sievert Thun und Lüders Timm, ferner Koopmanns Timm (beide hießen richtig Timm Sievers, waren aber nach Vorbesitzern, die vielleicht ein Jahrhundert zurücklagen, Lüders und Koopmanns von Geschlecht zu Geschlecht zubenannt), da kamen die behäbigen Jakob Sierk und Klaus Harms, der magere Johann Rieper und noch ein paar Leute.

Die Frau Vogt hatte den großen Leuteeßtisch in die Stube stellen lassen, der Vogt setzte sich obenan, die andern nahmen rundherum Platz. Auch Hans Rohwer tat es auf Wunsch und tat es ohne Ziererei um so mehr, als er in Gemeindeangelegenheiten zur Vertretung gehörte. Er saß schon da, als der Zollwirt Peter Holling kam.

»Sett di hier mit ran«, lud der Vogt ein. Aber Peter Holling war dazu nicht zu bewegen. Er setzte sich in der entferntesten Stubenecke auf einen Stuhl. »Hier hör ik her«, wiederholte er hartnäckig. Schließlich, als das Nötigen gar nicht aufhörte, fügte er hinzu: »Da sitzt einer am Tisch, der mir nicht paßt.« Da war denn nichts zu machen, da ließ man ihn in der Ecke.

Des Bauervogts Ältester bediente die Kehlen der Männer mit Grog und ihre Pfeifen mit ›Schwefelsticken‹.

Das Wetter kam auf; man war mit der Frage, ob es wohl zum Ausbruch kommen werde, noch nicht fertig, da fuhr schon der fahle Widerschein des ersten Blitzes durch die verräucherte Stube. Und der Donner grollte.

Auch über den Vergleichsverhandlungen lag Schwüle. Der Steinhofer wollte, aber der Zollwirt wollte nicht. Als nun gar jemand, es soll Koopmanns Timm gewesen sein, die Unklugheit beging, Hans Rohwer zu loben, da war alles aus.

»Aber, Peter«, sagte Koopmanns Timm, »du solltest dich nur geben und auch was tun. Hans kommt dir genug entgegen. Man muß nachbarlich sein, und Hans ist ein so guter Mensch!«

Peter lachte, es sollte wenigstens Lachen sein. Beim Lachen zeigte er immer das obere Zahnfleisch. »Bin ich denn nicht gut?« fragte er.

»Das hab ich nicht gesagt, daß du nicht gut seist«, erwiderte Koopmanns Timm, »du bist so gut, wie wir alle sind. Eben sprach ich von Hans. Denn das muß doch jeder sagen, der ist gut, der läßt keinen im Stich.«

Das war zu viel, das konnte Peter nicht aushalten. Der Steinhöfer, der mit seinem breiten, sichern Gang, mit seinem großen Hof und all seinem Geld! In seinen eigenen Sommerroggen war er von ihm niedergeworfen worden, und noch all das andere. Und nun saß der mitten unter den Dorfältesten und ließ sich loben ...

»Der, der?« schrie Peter und sprang auf. Mit langem Zeigefinger wies er auf ihn. »Der – der – der ist für die Hölle zu schlecht!« Peter suchte nach einem Bild, nach einem Unglücksfall, schrecklich genug, die Tiefe seiner Mitleidslosigkeit, seines Hasses, zu veranschaulichen. »Wenn der«, kreischte er, »wenn der im Moorgraben sitzt, ich zieh ihn nicht heraus.«

Das war ein starkes Stück. In der Moorkuhle, im Moorgraben sitzen, das war nach den in Warl landläufigen Begriffen ungefähr das schlimmste, was einem Menschen passieren konnte.

»Peter, Peter«, warnte der Vogt, »nimm din Wör in acht! Uns Herrgott wacht!«

Alle drehten sich nach dem Zollwirt um, als wollten sie sagen: ›Siehst du wohl? Noch immer lebt unser Herrgott‹. Denn es wurde ganz dunkel im Zimmer. Und als ein rascher Blitz seine Helle darüber warf, stand wirklich in den Mienen: ›Gott in der Höh bucht die Lästerworte.‹ Ein über das halbe Firmament hinweg grollender Donnerschlag wiederholte: ›Er trägts in seiner Hand!‹

Keiner sagte etwas, auch Hans Rohwer nicht, wenigstens lange Zeit nicht. Der Donner war verhallt und ein paar Minuten vergingen. Dann erst stand Hans auf, trat einen Schritt auf Peter zu und sprach. Er sprach mit dem angenehm klingenden dunkeln Ton seiner Stimme gutmütig, aber dabei ernst und eindrucksvoll: »Das meinst du nicht so, Peter. Du ziehst mich raus, ich zieh dich auch raus, es ist Christenpflicht.«

»In meinem Katechismus stehts nicht, daß ichs tu. Du tusts auch nicht.«

»Ich tus, denk an mein Wort, ruf nur, ich komm.«

»Du kannst ...« Peter brauchte einen häßlichen Ausdruck.

Der Himmel nahm ihm das Wort, Blitz und Donnerschlag: das Haus erbebte, Fenster und Groggläser klirrten, die Pendeluhr stand still, des Vogts alter Köter kroch unterm Ofen hervor und fing an zu heulen.

Alle griffen nach den Mützen und eilten hinaus. Aber der Weg war eine Au geworden, ein wolkenbruchartiger Regen trieb sie zurück. Hans Voß rief seine Leute, Knechte und Mägde liefen verstört und eilfertig durchs Haus. Es vergingen ein paar Minuten, dann stand der Großknecht pudelnaß vor dem Vogt und meldete, Haus und Hof seien unversehrt, aber die Pappel am Backhaus liege auf dem Steinpflaster.

Der Regen hatte nachgelassen, die Bauern besahen den Schaden, staunten, besprachen alles, gingen wieder hinein und unterhielten sich weiter über den Fall. Man erzählte von andern Blitzschlägen, jeder kannte einen, aber man kam immer auf diesen zurück. Dem einen war gewesen, als ob es in der Nebenstube eingeschlagen habe, der andere hatte gemeint, die Scheune sei getroffen worden.

»Wo ist Peter?« wurde gefragt.

Vom Zollwirt war nichts zu sehen.

»Er hat seine Mütze genommen und ist nach Haus gelaufen«, berichtete Sievert Thun, »mitten im Regen.«

»Wegen der Nässe brauchts keinen Graben, besser kann der es auch nicht machen«, scherzte jemand.

Der Spaß fand keinen Anklang.

 

Der Streit zwischen Steinhof und Zollhaus hat, als alles erfüllt war, im Mund der Kirchspielskinder ein seltsames Aussehen bekommen.

»Sieh«, sagten die Leute, denen alles willkommen ist, ihre auf Lohn und Strafe gestellte Weltanschauung zu rechtfertigen. Man nannte sie die Frommen. »Seht«, sagten sie, »da kann mans wieder mal greifen!«

»Unsinn«, antworteten die anderen, die Weltlichen.

Wir schlagen uns zu keiner Partei, wir ... erzählen.


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