Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Kirchdorf gab es einen Ziehharmonikamusikus, der Blohm hieß und Blümchen genannt wurde, für gewöhnlich schneiderte, aber die Musik im Nebengewerbe betrieb. Er war ein kleiner, buckliger Mann mit klugen, blauen Kinderaugen. Wenn Jahrmarkt war, dann saß er vor Heinrich Otts Haus und spielte, ging auch mal umher, kehrte aber immer wieder nach seinem roten, gedrehten Holzstuhl, den er vor Heinrich Otts Haus hingestellt hatte, zurück.
So tat er auch jetzt. Seine Lieder flogen wie Mariengarn und Distelsamen um Giebel und Erker, über die Häuser und Gärten hinweg. Man brauchte ihn selbst nicht zu sehen, die Harmonika hatte es so an sich, in den Äther zu heben, man brauchte nur Blümchens Harmonika zu hören: »Steh ich am Eisengitter« oder eine andere seiner schwermütigen Weisen, dann wußte man gleich: in Siethfelde ist was los.
Den Kindern, die sich im Lindenschatten drehten, schenkte er seine Musik umsonst, im übrigen erwartete er von gutdenkenden, harmonikaliebenden, fröhlichen Leuten eine kleine Beisteuer.
Blümchen, das Mohrsche Kuchenzelt und dann der Aaljohann, der geschmorte Sachen an der Kirchhofspforte ausbot – wenn die nicht gewesen wären, dann hätte Siethfelde schon, als die Sonne noch hoch stand, kaum was Besonderes an sich gehabt.
Aber halt! Die Fenster der Tanzböden waren geöffnet, von dort drang Geschwärm und Gejohle. Am schlimmsten war es bei Wulff, da war der Handewitter Jäger Mittelpunkt. Er rieb sich an Pastor und Kirchspielvogt: so was kühn Geistreiches war in Siethfelde noch nicht verbrochen worden, da fielen die Lachsalven zuweilen dröhnend, zuweilen schmetternd, immer laut auf die Straße.
Als die Dämmerung kam, gingen und fuhren die meisten Leute nach Haus. Das Kuchenzelt wurde abgebrochen, der Aalmann packte seine Waren, Blümchen hörte man auch nicht mehr. Es wogte nur noch von den Tanzsälen her.
Und als um zehn Uhr der Mond aufgegangen war, sah man in den Gassen kaum einen Menschen. Nur in den Ecken ... standen die üblichen Paare.
Da kam die Landstraße vom Dorfe Grauel her ein einsamer Mann. Er war lang und langbeinig, der Schritt nicht alt, nicht steif, nur müde, wie vom langen Gehen. Der Mann war Rudolf Schmidt.
Der Schulmeister von Handewitt? – Woher?
Nach seiner Zusammenkunft mit Frau Sophie war sie mit dem Wagen ihres Nachbarn heimgekehrt, Rudolf aber hatte sich entschlossen, einen langen Spaziergang zu machen und dabei auf Umwegen nach Handewitt zurückzukehren. Er war aber in der Irre gegangen, stundenlang war er umhergelaufen, war schon müde und abgespannt, als er wenigstens wieder auf den Kirchort stieß. Nun war er dessen froh und beschloß, in einem Gasthaus Unterschlupf zu suchen.
Er wählte den ›Springenden Hirsch‹.
Der ›Springende Hirsch‹ war eigentlich kein Tanzlokal, sondern Sammelplatz ruhiger Leute. Heute aber hörte Rudolf, als er über die Schwelle schritt, nicht ohne Verdruß Töne, wie Musik. Die große Wohnstube fand er ausgeräumt, es war auch hier für ein Tänzchen Raum gemacht worden. Und schon bewegte sich darin der fröhliche Reigen nach Blümchens Ziehharmonika.
Blümchen saß in der Ecke und zog mit großer Hingebung an seinem Ungetüm, die Tänzer drehten sich ohne viel Lärm, Rudolf stand in der Tür, sah zu, und es schwand sein Verdruß.
Die Zärtlichkeit, womit Blümchen sein Instrument behandelte, die Willigkeit, mit der es seine Töne hergab, der Zug sich gleichsam entschuldigenden Triumphs um des Schneiders schmale Lippen, wenn alles ihm zu Willen war – Rudolf sah und sah, obgleich er recht müde war, sich nicht satt.
Am Flur gegenüber im Gastzimmer war man bei Bier und Kartenspiel, nicht alle nüchtern, aber keiner zu schlimm betrunken. Ein Wachtmeister stützte sich auf sein blinkendes Wehrgehenk, stand an der Tonbank und tat mit dem Schenkmädchen schön.
Die Wirtsfrau hatte für ihren späten Gast nur ein kleines Gemach neben der Tanzstube. Rudolf war damit zufrieden: er hatte die Gabe, wenn er müde war, überall schlafen zu können. Von der Tanzgesellschaft trennte ihn nur eine dünne Wand; es klang wie ein Wiegenlied zu ihm her, er freute sich, die Glieder lösten sich, er war sicher, bald einzuschlafen, und froh, noch ein Weilchen zuhören zu können.
Das Register war klein, Blümchen spielte immer denselben Walzer. Aber der wogte zu Rudolf wie aus Morgengesängen seliger Geister, er überredete seine Seele zum Flug, und Rudolf flog gern ... Ein rührender Aufschwung, drei machtvolle Züge ... schluchzende, freudeschluchzende, zur Himmelfahrt zwingende Töne, Unschuldsengel, den Takt mit den Flügeln schlagend ... darauf ein derber, gutmütig spaßender, zur Erde niederziehender, den Flieger im Sand zurücklassender Baß.
Pausen gab Blümchen nicht viel. Sobald er die erste Note aus dem Blasebalg zog, hörte das Summen und Plaudern auf. Schritte (die Tänzer wählten) und dann die schurrende, schleifende, dem Hüonschen Zauberhifthorn gehorsame Gesellschaft.
Der Schulmeister war im Begriff einzuschlafen. Die Füße der Tänzer wurden Trippelschritte eines Tausendfüßlers, dann Sprünge eines Krokodils. Und tiefer sank der Schläfer, wohin keine Ziehharmonika und kein Tanzschritt reichte.
Nacht ... Eine weite Ebene ... Brennende Sterne ... der Himmel grünlich-schwarz, von fliegendem Funkengeschwärm durchzogen ... Am Rande der Welt ein Flammenmeer ... Das war Rom ... Rudolf Schmidt war Nero ... er hatte den Brand angefacht, er freute sich seiner Tat.
Nein, es war nicht Rom, sondern Birkenrade; er hatte es nicht getan, er freute sich nicht, er war zum Tode betrübt ... Klitsch, klatsch! – Der Wind trugs ihm zu. So klingt es, wenn die Geißel auf einen nackten Körper fällt.
Und sieh, und sieh!
Da kommt sie, die geschlagen wird.
Die Hände auf dem Rücken, das dunkle Haar auf die Büste fallend, vornübergeneigt, wortlos ... so zog sie an ihm vorüber. Und hinter ihr ein strenges Frauenbild ... härenes Gewand... tiefgefurchte Züge... die Lederriemen mit knöcherner Faust auf den nackten Leib und mit jedem Schlag einen Vers wuchtend:
Ich bin die Schuld, Und das ist meine Liebe. Zu strafen bin ich hergesandt, Der Hölle Qual zu lindern ist mein Amt. Ich bin die Schuld, Und das ist meine Liebe.
Rudolf Schmidt kannte die Geschlagene.
Er fing an, wach zu werden, er fühlte, daß er träume, die Schläge nahmen dumpfe Klangfarbe an ... Rudolf richtete sich im Bett auf. Klang das nicht wie Faustschläge auf die Tischplatte?
Er war wach geworden, er wußte, wo er war, er horchte. Im Nebenzimmer tobte Zank, tobte Lärm ... andere Leute, als Blümchen und sein Volk.
Laute Stimmen ... eine lärmende, rücksichtslose ... Lallen eines anderen, eines Trunkenen, der seine Zunge nicht in der Gewalt hatte... Rede, Gegenrede.
... Junker Jäger.
Der Rücksichtslose schlug in den Tisch. »Bist ein schlechter Kerl, wenn du nicht mit mir Brüderschaft trinkst!«
Der Jäger setzte etwas auseinander. Alles lachte... der Rücksichtslose am lautesten.
»So ists recht, Bruder! Wir gehören zusammen, und wenn deine Frau auch zehnmal eine Gräfin ist«.
Zorniges Schäumen und Würgen, und dazwischen der Rücksichtslose:
»Was? – Was sagst du? – Was willst du? Junge, ich rate dir! – Junge, nimm deinen Fuß weg! – Meinst, ich hab die Stiefel gestohlen? Zwei Schritt vom Leibe, sonst gibts was! Verstehst mich? – Willst mir den Mund verbieten, verbieten von deiner Frau zu sprechen? – Ich hab sie gesehen, ich mag sie leiden, hat was Gräfliches, ist auch ja beim Grafen gewesen.«
Stimmengefecht: ein Verständiger ... ein Aufreizender.
Der Verständige: »Still, sag ich, du siehst doch, daß er sich nicht kennt.«
Der Aufreizende: »Warum sollen die Siethfelder immer still sein? Laß die Handewitter das Maul doch auch halten!«
»Seid man ganz ruhig«, überschrie der Rücksichtslose die Verständigen und die Unverständigen, »den möcht ich sehen, der mir den Mund stopft. Hör mal zu, Jäger, will dir was erzählen ... Mit mir hats keine Not, ich seh sie nur an, davon leidet sie nicht, bin ihr auch viel zu grob. Aber andere, da bleibts nicht beim Ansehen ...«
Tumult ... Zischen ... Wutschnauben ... Beschwichtigung ... Aufhetzen.
»Er soll den Mund halten!« befahl die energische, die verständige Stimme. »Man sieht doch, er macht ihn unklug. Er kriegt den Schlag, oder es gibt anderes Unglück.«
»Der?«
Getöse.
Der Rücksichtslose drohend, in schäumender Wut: »Diese Faust fährt jedem in die Fresse, der mir den Mund verbietet. Hör zu, Jäger, dich gehts an! – Ich hatte die Pferde weggebracht nach unsrer Buschkoppel an Hinrichsens Redder. Da höre ich was ... Ich denk, was ist? Hin, ganz leise, ... guck durch den Knick... was seh ich? Haha, haha, was seh ich? – Ich muß lachen. Soll ich sagen, wer da war? Deine Frau wars und nicht allein. Hatte einen guten Freund bei sich. Junge, Junge, ich sage dir, die konntens, die waren zärtlich. Küssen, daß mans durch den Knick hörte. Und was wars für einer? Ein Langer, Hab ihn mal gesehen, wird ein Schulmeister oder so was sein. Schwarzer Schlapphut, graue Hosen, Sommersprossen, Haare wie meines Bauern Gelber«.
Ein Schrei unterbrach ihn, kein menschlicher: das Brüllen eines Tieres – Stoßen, Balgen, Drängen – ein Tisch wird umgestoßen, ein Flaschengericht bricht zusammen.
Darauf Schurren eines Schleppsäbels und die Kommandostimme des Wachtmeisters, den Lärm zur tiefen Stille niederwuchtend: »Im Namen des Gesetzes! Sie sind verhaftet, kommen Sie! ... Wie? ... Was sagen Sie... ich soll nicht wagen?«
Schläge...Ringkampf ... Stöhnen. Ein Körper fällt schwer zu Boden.
»Bindet ihn«, befiehlt die Obrigkeit, »und dann mit ihm nach Nummer Sicher.«