Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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8

Als Hinnerk Schmidt nach Hause fuhr, sprach er mit seiner Maleen über das, was der Propst gesagt hatte. Maleen hatte noch weniger verstanden als er. Sie hatte alles auf das Tun bezogen. Sie hatte verstanden, wir sollten das Gute tun. – »Ja«, erwiderte Hinnerk, »ja, Maleen, das war ja just nichts Neues.« – ›Neues?‹ dachte Maleen. ›Muß eine Predigt denn was Neues enthalten?‹ Ihr war der Gottesdienst immer ein Wortgeklingel, das sich nett anhörte und andächtig machte, im übrigen aber für und für die alten Sätze wiederholte.

Hinnerk und Maleen aßen sonst mit ihren Leuten zusammen an einem Tisch, nun trug die Köchin für sie allein auf, denn es war schon abgegessen worden. Und nach dem Essen ging Maleen, wie immer Sonntags, ein paar Stunden zu Bett, mal ordentlich auszuschlafen. Hinnerk aber wühlte in seinen Gedanken weiter, ging nach der Hinterstube und nahm die Familienbibel, die neben der Holsteinischen Wasserlösungsordnung stand, vom Bücherbrett. Und setzte sich in den Lehnstuhl seiner Wohnstube und fing an zu lesen.

Er hielt sich für ein Kind Gottes und nicht für ein Weltkind, für ein Kind des Lichts und nicht für ein Kind der Finsternis. Dafür wird er in den Himmel kommen, und die Kinder der Finsternis werden in der Hölle brennen.

Am besten hatte ihm immer das Gleichnis gefallen von dem Herrn, der über Land reist und derweilen seinen Knechten Goldpfunde zur treuen Verwaltung, zur fleißigen Vermehrung übergibt. Darin erblickte er die Rechtfertigung seiner Denk- und Handlungsweise, darauf hatte seine Ansicht von der Gleichheit des Dürfens in rechtlicher, des Müssens in sittlicher Beziehung beruht, welche Gleichheit der Propst in Zweifel gezogen hatte. Wie konnte er die Pflicht des Haushalters anders verstehen, als er tat? Stand es nicht klar und deutlich im Buch, was seine Pflicht war? Hab und Gut vermehren, Grundstücke gut bewirtschaften, Kapitalien sicher zinsbar anlegen, allenfalls eine offene Hand haben, wo es nötig war, für sich selbst aber keine überflüssigen Ausgaben machen. Die Freude des Habens, die Freude an der Idee der in dem Gelde verkörperten Macht hielt er für eine dem lieben Gott wohlgefällige Lust. Das alles las er aus dem Gleichnis heraus.

Hinnerk mitn Fellerbüdel schlug es auf und las es noch einmal durch. Beim Lesen befestigte sich seine Auffassung noch mehr. Er glaubte schon etwas von der Ruhe zu spüren, die mit Gottes Reich in unser Herz kommt. Er fühlte sogar Mitleid mit den armen Verdammten. Lazarus hätte ganz gewiß gern die brennenden Wunden des reichen Mannes mit seinem Finger gekühlt. Er war sich bewußt, nicht weniger barmherzig zu sein als Lazarus. Sich selbst sah er und hörte er in einem weißgewaschenen Kleide vor Jehovas Thron Halleluja singen. Es kam ihm freilich ein bißchen schemenhaft vor: er, Hinnerk Schmidt von Westerhusen, in einem weißen Kleid, das war ihm genierlich, alles in allem etwas verschwommen. Wie greifbar und hörbar blubberte dagegen das siedende Pech im Höllenpfuhl! Aber die Zuversicht ewiger Seligkeit blieb doch sein Stecken und sein Stab. Er hatte das Buch zugemacht und auf den Tisch hingelegt und dachte an den Schatz, der unter seiner Bettstatt verborgen war. Er nahm die Bibel noch einmal her. Die Blätter fielen wieder in den Evangelien auseinander, Hinnerk las, er las den Spruch: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele?«

Die Sterbestunde seines Bruders kam in unheimlicher Klarheit herauf; die Worte des Propsten verhallten dumpf und drohend vor seinem Ohr: du darfst nicht alles, was die Welt dir zu tun gestattet! Hinnerk schüttelte sich, er schüttelte es ab. ›Nein‹, sagte er zu sich, ›da sei man ganz ruhig! Das hat nichts zu sagen. Du bist auf Gott wohlgefälligen Wegen‹.

Und wieder blätterte er in der Bibel, sein Auge lief über die Geschichte von dem reichen Jüngling. Die Gesetze und die Propheten hat er von Jugend auf gehalten, nun fordert Christus von ihm, Hab und Gut den Armen geben, das Kreuz auf sich nehmen und ihm, dem Heiland, nachfolgen. Und das vermochte der Jüngling nicht über sich, er ging weinend davon, ›denn er war sehr reich‹. Christus aber spricht das harte Wort: »Wahrlich, ich sage euch: Eher wird ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen, denn ein Reicher ins Himmelreich kommen.«

Hinnerk Schmidt seufzte, saß vor dem Buch und blätterte, ohne zu lesen. Dann fing er wieder an. Die heiligen Gebote des Mitleids und der Menschenliebe, der Ertötung von Rache und Zorn sprachen auf ihn ein: »Wer zwei Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat, und wer Speise hat, tue dasselbe.« Wo er auch das Buch der Bücher aufschlug, immer und überall fand sich ein Widerhaken, der in seiner Seele blieb. »Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda gedenken, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe!«

Jeder Bibelspruch wendete sich gegen ihn. Was war das? Wollte die Bibel was von ihm?

Wand an Wand neben der Wohnstube war die Küche, Hinnerk Schmidt hörte ein helles Sprackelfeuer auf dem Herd. Die Köchin hatte den Kaffeekessel aufgehängt und trocknes Fallholz (Sprock) auf den offenen Schwibbogenherd getan. Hinnerk hörte es knattern, hörte auch das Wehen der heißen Flammen.

Zwanzig Jahre etwa mochte es her sein, da war seines Nachbars Hof abgebrannt, und der Sohn des Eigners war dabei umgekommen. Er hatte die Pferde retten wollen, das Dach war zusammengeschossen, er war noch lebend aus den Flammen gezogen, aber nach wenigen Stunden unter großen Qualen verschieden.

Als Hinnerk noch die Dorfschule besuchte, da hatte der Lehrer mal ein Märchen vorgelesen ... ein Gedicht ... ein Bild ... als Krücke der Phantasie zur Vorstellung der Ewigkeit.

Fern in Indien ist ein Berg vom härtesten Diamant in Kegelgestalt. Tausend Hamburger Ruten hat er im Durchmesser und tausend Ruten ist er hoch. Und alle tausend Jahre kommt ein Vogel geflogen, der wetzt seinen Schnabel an dem harten Diamantberg, und wenn der ganze, große Bergkegel weggewetzt worden ist, dann ist die erste Sekunde der Ewigkeit verflossen. – O, Ewigkeit, du Donnerwort! Ohne Aufhören am lebendigen Leibe brennen!

Hinnerk öffnete die Tür zur Küche, rote Flammen schlugen hoch in die Esse hinauf.

»Wieb, mutt to Kaffeekaken son grot Für?« sagte er und machte, ohne Antwort abzuwarten, die Tür wieder zu. Die roten Flammen hatten sein Gleichgewicht vollends erschüttert. Ein Frostschauer zog durch seinen Leib, die Bibel legte er auf die Schatulle.

Auf der Schatulle fand er einen Brief, ein Schreiben, das der Briefträger in seiner Abwesenheit dorthin gelegt haben mochte. Hinnerk Schmidt öffnete. Das Erbschaftssteueramt verlangte ein Verzeichnis des von seinem Bruder hinterlassenen Nachlasses nach beigefügtem Formular und die Versicherung der Richtigkeit.

Hinnerk Schmidt entschloß sich, das, was in dem Kasten war, in das Verzeichnis mit aufzunehmen. Er wollte alles hineinschreiben, und es sollte gleich geschehen.


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