Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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2.

Diese Blätter blieben dem großen Akademiker unbekannt. In dem Verkehr mit ihm wurde das Tagebuch nicht erwähnt, und von der Frau Sophie verlautete kein Wort.

Dagegen war der Schriftwechsel in anderer Hinsicht ein lebhafter geworden. Rudolf arbeitete. Er hatte sich in eine kleine Ecke der großen Wissenschaft hineingegraben, er hatte einen Kreis seines Schaffens gefunden oder glaubte doch gefunden zu haben, woran der Schöpfer gedacht haben könnte, als das ›Werde!‹ an ihn erging. Ihn hob das Gefühl, darin noch etwas Tüchtiges zu leisten. Endlich hatte er, so nahm er an, die Flucht seiner Neigungen festgehalten und auf einen Gegenstand vereinigt, der ihm Erfolg verhieß.

Die Anregung gab die Handewitter Düne. Ein fetter, wenn auch nicht breiter Streifen fruchtbarer Marscherde trennte sie von der Küste. Oberhalb der Bucht grollte eine Brandung, die jede Marschbildung auszuschließen pflegt. Es zeigten sich auch die Anfänge von neuen Dünenketten, deren Stoff vorläufig der Meeressaum noch roh und ungeordnet unter einer weichen Sanddecke verbarg. Welche Umstände hatten die Marschbildung ermöglicht, und welche Veränderungen sie gehemmt? Welche Ortsverschiebung hatte das Wandern der Berge zur Folge gehabt?

Von der Düne kam er auf die Marschbildung in dem Gebiet des breiten Grenzstromes seines Landes überhaupt. Die Gliederung der Eindeichung dieser Marschen wich von der in benachbarten Kögen ab. Wie, wenn seine Marschen nicht dem Festlande angegliedert worden wären, sondern sich aus Inseln entwickelt hätten und erst allmählich mit dem Festlande durch Anschlickung verbunden worden wären? Sprachen doch schon römische Schriftsteller von mehreren Strommündungen. Lag es nicht nahe, anzunehmen, daß damals noch Priele – breite, flache Gewässer – die höher gelegenen Teile, die jetzt Marschen sind, umspülten?

Das interessierte ihn. Und zugleich stellte sich die Frage nach der Art, wie das neue Land besiedelt worden sei, anspruchsvoll vor ihm auf. Manches wies auf die Einwanderung holländischer Kolonisten hin, die vielleicht auch die Kunst des Deichbaues aus ihrer Heimat mitgebracht hatten. Indem er so vom Schreibtische aus die Jahrhunderte auf und ab wanderte, wurde er unversehens in die politischen Kämpfe verwickelt, die über den Erdstrich dahingerast waren. Er sah sich zurückgeworfen in die Normannenzüge, wo die Strommarschen noch unzugängliche Sümpfe gewesen waren und der geängstigten Bevölkerung offener Küstenstriche als Zuflucht vor blutigen Raubzügen gedient hatten.

Durch seinen Freund erhielt er aus der Universitätsbibliothek die bisherige Literatur. So entstand in ihm ein bestimmtes, wenn auch nicht lückenloses Bild des Werdens und der Entwicklung der Marschen. Schon jetzt hätte er dem Alten Neues hinzutun können.

Um so herzlicher war seine Freude, als es ihm gelang, neue Quellen zu entdecken, Aufzeichnungen und Chroniken früherer Pfarramtsverweser von Siethfelde, die er aufstöberte. Ihr Inhalt versetzte ihn in langst verflossene Jahrhunderte zurück und überlieferte ihm ein getreues Bild damaliger Zustände. In dem naiven Chronikenstil wendete sich das Bild reizvoll und verklärt dem Forscher zu.

Christian Normann hatte mit Rudolf zusammen auf dem Boden des großen Pfarrgebäudes Nachforschung gehalten; sie fanden eine verstaubte Kiste. Hurra! Die enthielt in festverschnürten Bündeln die chronologisch geordneten Denkwürdigkeiten des Pastors Tiburtius von Bishorst. Rudolf studierte darin, so oft und so viel es seine Zeit erlaubte. Es war ein eigener Genuß, zu sehen, wie sich manche alte Ansicht als unhaltbar erwies, noch mehr, wenn die neue Quelle über viele Zweifel des Forschers, über Lücken hinweghalf.

Zum ersten mal empfand Rudolf reine Forscherfreude. Ungetrübt war sie, gesättigt aber nicht, denn der gewissenhafte Tiburtius wies öfters auf eine von ihm benutzte ältere Quelle hin, Aufzeichnungen eines Amtsverwesers aus dem Zeitalter der Reformation. Die Auffindung der echten Institutionen von Gajus kann nicht heißer ersehnt worden sein, als der Schulmeister von Handewitt die Entdeckung einer Schrift erstrebte, die nach allen Anzeichen von entscheidender Wichtigkeit sein mußte. Im Pfarrhause war die Chronik nicht, jede Ecke, jeder Winkel war durchsucht, also hinauf auf den Kirchenboden, hinein in das Gerümpel, das die Jahrhunderte dort abgelagert hatten. Am zweiten Tage kam Rudolf strahlend die Treppe herab; im Arme hielt er, selbst von Spinngeweb und Staub bedeckt, die doppelt in Staub und Spinngeweb eingesargte Chronik.

Die Mühe war keine vergebliche gewesen, Specovius stand weit über Tiburtius. Rudolf Schmidt war eingeladen, an dem Ruhme der Forscher teilzunehmen. Es ist schwer zu sagen, ob sein Genuß höher war, wenn er seine Annahmen bewiesen fand, oder wenn er seine Ansichten zu berichtigen genötigt war und seine Einsicht in den historischen Zusammenhang erweiterte. Aber über allem stand die Freude des Schulmeisters, der nunmehr wußte, wozu er tauge.

In diesen Gedanken begegnete Rudolf sich mit einem Briefe seines Freundes:

»An dem Erfolg Deiner Forschungen, Liebster, kannst Du keine größere Freude haben, als Dein noch immer getreuer Leibbursche Friedrich empfindet. Endlich zeigt sichs, wozu die Schöpfung ein so vortreffliches Hirn und Herz machte: sie wollte einen fleißigen, klugen Mann, der mit Liebe, ja, mit schwärmerischer Liebe sich in die Geschichte seines Landes und seiner Heimat vertieft. Und ist es auch nur ein kleiner Fleck der großen Erde, den Du ausgemessen hast, wo Du den Herzschlag der schaffenden Natur belauschtest: der Gewinn fällt doch dem großen Kosmos zu, von dem Du in Deiner Marsch ein kleines Stückchen unter die Lupe nahmst.

In den Anlagen übersende ich Dir die Abdrücke Deiner beiden prächtig geschriebenen Aufsätze, die die Redaktion des ›Globus‹ mit Dank empfing. Und zugleich sende ich Dir das Honorar. Die wissenschaftliche Welt wartet gespannt auf das Erscheinen Deines Buches. Sie muß Bedeutendes von einem Manne erhoffen, der mit so entschiedenem Erfolg in die gelehrte Welt eintritt.

Schulmeister von Handewitt! Nicht mehr lange! Wir haben schon einen Posten ausersehen, der ihn und seine liebe Frau Mutter und, wenn er sich mal sollte beweiben wollen, auch seine Familie ernähren wird, der überdies – das ist ja die Hauptsache – seinen Neigungen entspricht und ihm Zeit zu wissenschaftlichen Arbeiten läßt. An der hiesigen Bibliothek ist er ausgeschrieben. Dir, lieber Rudolf, ist er gesichert; es erübrigt nur noch, daß Du willst und Dich bewirbst.

Ich schweige von allem, wovon Deine lieben Briefe schweigen, hoffe aber auf eine frische, fröhliche Zusage und rufe: auf Wiedersehen!«

Auch bei diesem Briefe mißfiel dem Empfänger die eine Hindeutung. Das Angebot nahm er nach schwerem Kampfe nicht an. Noch wurde er in Handewitt gehalten. Er – konnte sich nicht losreißen, wollte es nicht einmal. So schrieb er denn an seinen Freund eine schlecht begründete Absage.


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