Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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4

Der große Mann mit dem seinen Ehrgefühl schnob zwar zornig über die Diele aus dem Hause, fühlte sich aber doch nicht ganz auf der Höhe. Die Ruhe des Mädchens, die Redensart von den Briefen, die auf der Post geblieben sein könnten – das trat ihm als eine Macht entgegen, womit er nicht gerechnet hatte. Aber um so notwendiger war es, daß er Sieger blieb.

Er bog in die Dorfstraße ein, ging an den Nachbargrundstücken von Boldt und Bornholdt hin nach seiner Holzhandlung und – dachte. Was dachte er? Wunderlicherweise überlegte er, wo er wohl eine tüchtige Palme erstehen könne. Immer mehr verdichtete sich Palmenrauschen oder Blumenhain zum Symbol seines zukünftigen Siegs. Denn der große Jochen war im Grunde ein nicht so ganz kleiner Phantast.

Harder Rickers erfuhr noch an demselben Tag von seiner Tochter, was sich zugetragen hatte. Von einem Gang, den er nach dem Wald gemacht, zurückgekehrt, sah er von weitem die eilfertige Flucht des Holzhändlers aus seinem Hause, fand darauf die Tochter blaß und still und einsilbig in der Stube, fragte nach der Ursache und erfuhr nach anfänglichem Zögern den Hergang. Wenigstens ungefähr. Bei der Erzählung konnte er immer nur rufen: »Katrien« (das war die erste positive Sorge), dann »Tinchen« (das war die Steigerung), »liebes Tinchen« (das war die höchste Angst), und da war Katrien mit ihrer Erzählung zu Ende.

Er redete und warnte, sein Vaterherz war bekümmert, und doch können wir es nicht einmal in allen Punkten loben. Es war kein schlechtes; aus reinem Vergnügen hegte es keine Diebs- und Mordgedanken. Aber die praktische Lebensklugheit stand ihm doch höher als die reine zweck- und ziellose Moral. Er hielt es für ganz in der Ordnung, daß Katrien dem wandernden Reimer die Treue halte. Aber Reimer muß doch auch Treue halten. Und daß er nicht mehr schrieb, sah nicht nach Treue aus. Und wenn nun ein Mann wie Jochen, der reiche Jochen Riese, es sich in den Kopf gesetzt hat, die Katrien zu heiraten, dann erhielt die Sache doch ein ganz anderes Gesicht. Dann war es seines Erachtens eine an Schlechtigkeit grenzende Torheit, wenn nur ein Wort im Wege stand und das für wichtig genug gehalten wurde, ein unerhörtes Glück fahren zu lassen. Was war denn ein Wort? Eine Zusage, aber eine, die sich nach den Umständen richtete. Und was war Liebe? Eigentlich eine eingebildete Empfindung – alles zusammen gegenüber dem Glanz des Goldes und Wohlleben ein Schlagbaum aus Spinngewebe, den zu respektieren beinahe lächerlich war. Mit einem Wort: Harder Rickers war nicht besser, als die Menschen gewöhnlich sind.

Und dann kam noch folgendes. Jochen brachte den Holzhandel im Dorf zu nie gekannter Blüte. Und Harder verdiente gut bei Jochen. Was er bisher an Holz verarbeitet und was er erstanden hatte, war geradezu lächerlich im Vergleich zu dem Geschäftsumfang, seitdem Jochen da war. Jochen mußte heidenmäßig viel Geld haben, so wie er die Sachen führte und alles bar bezahlte. Nein, das durfte sein liebes Tinchen ihrem Vater nicht antun, daß sie diesen Geschäftemacher abwendig machte, daß sie einen solchen Schwiegersohn vor die Tür setzte. Nun, das werde schon alles wieder in Ordnung kommen, sie solle nur nicht ›sipp‹ und launisch sein, nicht ›so tun‹, wie man wohl sagt, das heißt: Jochen nicht nachlaufen ... bewahre! ... aber auch nicht die Gekränkte und Unversöhnliche spielen. Harder verlangte nichts weiter als ein Benehmen, wie wenn der Streit nicht vorgekommen sei.

Die geschäftlichen Gründe machten Eindruck auf Katrien. »Das tut mir leid, Vater«, gestand sie, »daran habe ich gar nicht gedacht. Ich will zu vergessen suchen, was geschehen ist.« Sie wollte den häßlichen Vorfall in ihrem Gedächtnis auslöschen, wenigstens so tun.

»Nur das eine, das kann ich nicht, Vater«, sagte sie. »Das tu ich nicht, niemals! Meinem Reimer bleib ich treu. Daß er lebt, fühl ich. Daß er nicht anders sein kann als gut und treu, das weiß ich. Auf seine Rückkehr will ich warten, und sollte ich alt und grau dabei werden.«

 

Jochen, der Einzige, führte aus, was Katrien versprochen hatte. Harder gegenüber tat er, als sei nichts vorgekommen. Als dieser am folgenden Tag zu ihm auf den Holzplatz ging, nahm Jochen ihm das Wort aus dem Munde. Er hatte die Fähigkeit, über alles hinwegzukommen, und von diesem Hilfsmittel machte er ausgiebigen Gebrauch.

»Na, Harder (du hast doch nichts dagegen, oder soll ich Rickers sagen?), hat Mamsell (Tinchen darf ich nicht mehr sagen), hat sie dir erzählt, was für einen Tanz wir aufgeführt haben?«

Harder teilte mit, was er wußte, und fing an zu beschwichtigen; er schimpfte in seiner Weise auf die Frauensleute und ihre ›Flausen‹, er wusch seine Hände in Unschuld, Jochen möge es ihm nicht nachtragen.

»Hältst mich eigentlich für einen Kindskopf? Das sollte ich ihrem alten, braven, fleißigen Vater nachtragen, wenn ein Mädel kratzbürstig wird? Ich nehms überhaupt nicht so schwer. Da ist Reimer, ist fortgelaufen, läßt sie im Stich (paß auf, er wird sie im Stich lassen!), aber sie hängt noch an ihm und will sich nicht gewöhnen. Und ich ... nun ich ... ich in meiner Unschuld ... schlag ein Wort raus ... sie wird wild ... und grob ... ich werfs auf die scherzhafte Seite, da wird sie saugrob. Da werd ich zornig ... ein Wort gibt das andere ... im Zorn wird manches dahergeredet, was gar nicht so gemeint ist – und die Verfluchung ist fertig.«

»Ja«, erwiderte Harder, »so wirds wohl gewesen sein, und Katrien denkt jetzt auch anders über die Sache. – Was meinst, Jochen, wenn wir beide hinübergingen?«

Aber Jochen schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Harder, das geht doch nicht. Ich bin nicht rachsüchtig, und das Mädchen mag ich leiden. Da jetzt nichts daraus wird, kann ich dirs ja gerne sagen: ich hätte sie gern zur Frau Holzhändlerin gemacht; aber das, nach dem, was sie mir an den Kopf geworfen hat, das kann ich nicht, da bin ich wunderlich, da hab ich ein zu feines Ehrgefühl zu, außerdem heiß ich Jochen Riese. Eigentlich bin ich doch, was man so nennt, rausgeschmissen worden. Ehe ich ihr wieder in den Weg laufe, muß sie sich zuvor hierher bemühen ... natürlich mit dir.« Und dabei blieb es, soviel Harder Rickers auch noch auf ihn einreden mochte. Schließlich nahm dieser von weiteren Versuchen Abstand, nur die Versicherung wollte er noch haben, daß es geschäftlich zwischen ihnen beim alten bleibe.

Das Lachen, das der Große, der Großmütige, der Einzige nach solch dummer Frage anschlug, war geradezu ein Siegesgesang über alle kleinliche Denkungsart.

»Harder Rickers!« rief er, »bist du denn ganz von Gott verlassen? Weil deine Tochter mich nicht haben will, weil sie mich ausgescholten hat – versteht sich, ganz ungerecht ausgescholten hat, und darauf von mir bekommen hat, was ihr zukam – deshalb sollte ich kein Geschäft mehr mit ihrem Vater machen wollen, dem ehrlichsten Kerl, der jemals die Axt geführt hat? Na, wäre noch schöner. Da denke ich ganz anders, ich will dirs beweisen. Du wolltest vorgestern für den Stamm auf deiner Weide siebzehn haben, ich wollte nur fünfzehn geben, heute gebe ich siebzehn, obwohl er mit fünfzehn bezahlt ist. Abgemacht?«

Er hielt die Hand hin, der Alte schlug mit Freuden ein.

Das war ein Kerl, das war wirklich einer. Wie war Tinchen doch dumm! Er war ganz hin vor Bewunderung. Unserm Meister war nichts klarer, als daß Jochen ein großer Mann sei, und da Jochen nun in der Tat ein langer Mensch war, so sah Meister Rickers buchstäblich zu ihm auf.

»Jochen«, sagte er, und seine Stimme zitterte vor Feierlichkeit.

»Was, guter Meister?«

›Was bist für ein Mann, ich wollt, ich war ein Mann wie du, so reich, so klug, so erfahren, so großmütig und so gut!‹ Harder sprach wie immer plattdeutsch: »Dat is ja ganz gräsi«, sagte er wörtlich. »Du büst jo n ganz gräsigen Kerl. So vel Geld un hes so vel lehrt, und büst so good, so gräsi good. Jochen, wat büst förn Mann!«

Jochen lachte. Er fing in hoher Stimmlage an und ging tief hinunter, so wie die Hand eines alten Harfners die Tonleiter hinab über die Saiten tippt oder wie ein Kind in Holzpantoffeln die Treppe runterläuft: alle ins Freie führenden Türen sind offen, da schallt es, und die oberen Treppenstufen klingen in hoher Tonlage. ›So ein Kerl bin ich nun mal‹, das lag drin, ›aber ich trag meine Größe mit Würde.‹ »So weit wie ich«, erwiderte er bescheiden, »wirst du es in deinem Alter nicht mehr bringen. Aber etwas werden wir auch noch für dich herausarbeiten können; auf mich kannst allezeit rechnen, an mir solls nicht fehlen.«

Meister Rickers schwamm in Wonne. Sein Blick ging über die Stämme, die gesägt werden sollten, über die Bretter, die reinlich aufgeschichtet waren. Welch ein Reichtum! Jochen führte ihn, als zeige er dem Zimmermann alles zum ersten mal, und diesem war zumute, als habe er es noch niemals gesehen.

Vor einer Partie schlanker, junger Eschen blieb er stehen. »Schönes Holz, doch Nutzholz?«

»Daraus werden Schiffsstaken«, erklärte Jochen. »Du kennst die langen, leichten und doch starken Stangen, womit Schifferknechte die großen Flußkähne fortstaken. – Hör mal Meister!« Er dämpfte seine Stimme. »Man kennt das hierzulande nicht. Die Leute sind zu dumm. Ich sags keinem, aber dir will ichs anvertrauen. Da läßt sich viel Geld bei verdienen. Aber kennen muß man so was. Vier Schillinge kostet mir der Stamm, vier Schillinge sind meine Unkosten, noch zwei für Unvorhergesehenes, sind zehn Schillinge, drei Mark bekomme ich wieder. Der Hegereiter (aber unter uns!) ist auch zu dumm und doch schon dreißig Jahr hier, da muß mans ausnutzen. Wenn ein Klügerer kommt, dann ists vorbei. Hundert Stück liegen da, zweitausend sind noch zu haben. Weißt was?« Jochens Augen richteten sich voll auf den kleinen Mann; es lag viel Gutmütigkeit und Gutherzigkeit darin. »Weißt was, Harder Rickers? Ich will dir einen Beweis geben, wie ich bin und wie gut ich es mit dir meine. Wir wollen das Geschäft zusammen machen. Ich will das Geld hergeben, was dazu nötig ist. Du sollst das Fällen der Stämme leiten und das Aufladen und den Transport. Ich will dir dafür aufkommen, daß dich kein Verlust trifft, und den Gewinn will ich mit dir teilen. – Was? Was sagst du nun? Mein ichs gut oder mein ichs nicht gut? Ist Jochen Riese ein guter oder ein schlechter Kerl? – Hier meine Hand, schlag ein!«

Harder Rickers hätte nicht Harder Rickers sein müssen, er hätte ein Tor sein müssen, wollte er ein solches Angebot ausschlagen.

Er schlug ein, in seinem Innern tief überzeugt, daß der liebe Gott vor etwa dreißig Jahren sich eines Tages entschlossen gehabt habe, nach so mancher Tagesware mal einen wirklich tüchtigen und klugen und dabei einen unerhört edlen Menschen zu schaffen, und daß Jochen Riese das Ergebnis dieses Gottesentschlusses sei. Zugleich richtete er seine eigene Seele, die heute früh noch platt am Boden gelegen, auf. So ein ganz gewöhnlicher Mensch mußte doch auch er nicht sein, da er gewürdigt werde, die Zuneigung eines so herrlichen Mannes und seine Güte zu genießen. Sein Hochgefühl wurde nur durch einen Nebengedanken getrübt. Da war ein armseliger Handwerksbursche mit einem Wachstuchranzen, der irgendwo auf staubiger Landstraße daherwanderte und sich kümmerlich von Sauerkraut und einem Heringsrücken nährte. In den Gegenden, die auf der anderen Seite der Elbe liegen und von Gott im Zorn erschaffen sind, nährten sich nämlich alle Leute, nach landläufiger, auch von Harder geteilter Ansicht, von Sauerkraut und ein bißchen Hering. Dieser Geselle wanderte nun schon Jahre, um Meister zu werden. Und Harder hatte ihm seine Tochter versprochen.

 

Das Geschäft wurde gemacht und verlief nach Wunsch. Meister Rickers erhielt von Jochen gerade keine Tausende, aber doch eine ganz erhebliche Summe als seinen Geschäftsanteil am Gewinn des Eschengeschäfts ausbezahlt.

Nun hatte er die Freude des Geldgewinnes ohne körperliche Arbeit gekostet, nun war kein Halten mehr, nun wollte er mehr und mehr. Bei Jochen wollte aber die ›Kompagnie‹ nicht mehr passen. Bald stand dieser Grund, bald ein anderer entgegen; er ermunterte aber zu eigenen Unternehmungen.

»Aber Betriebskapital?« warf Harder ein. »Noch ist mein Vermögen klein.«

»Was bist du für ein guter, dummer Kerl, Harder!« antwortete der überlegene Jochen. »Bin ich denn nicht da? Kann ich nicht aushelfen, wenn es bei dir mangelt? Du kannst mir eine Hypothek geben. Etwas ist doch auch dein Häuschen und die Weide wert. Wenn du dann Geld brauchst, ziehst du einen Wechsel auf mich.«

»Was soll ich ziehen?« fragte der unschuldige Meister.

Jochen lachte, und nun hatte er dazu wirklich Grund. Denn Wechselziehen und Harder Rickers, das paßte, wie die Faust aufs Auge.

»Ich will dirs erklären«, sagte Jochen. »Komm mit nach dem Kontor.«

Nun bekam Harder Rickers die erste Stunde im Wechselrecht mit praktischen Beispielen aus der Hypothekenlehre.

Wie war das alles so einfach, so klar, wie war es so leicht, Geld zu machen! Man schreibt auf so einem länglichen Blatt Papier, wo schon alles gedruckt ist, man füllt eine Summe aus, man schreibt seinen Namen unten rechts (das bedeutet das), man schreibt seinen Namen quer (das bedeutet das), man schreibt seinen Namen hinten auf die leere Seite, und dann fällt einem das Geld in den Schoß ... eine ganz herrliche Einrichtung.

Wenn Harder Rickers im Augenblick etwas bedauerte, so war es das, daß er so lange auf der Welt gelebt hatte, ohne die rein ideale Freude des Wechselverkehrs zu kennen. Er rechnete kurz nach. Er war jetzt zweiundsechzig Jahre alt geworden, Jochen Riese vielleicht dreißig. Von Rechts wegen hätte er mindestens schon zweiunddreißig Jahre hindurch die Seligkeit des Wechselziehens genießen sollen. Das lebhafte Dankgefühl, das ihn gegen den lieben Gott beseelte, der alles, alles, auch den Wechselverkehr macht, wurde nur ein bißchen gemindert durch den stillen, seinem Schöpfer gemachten Vorwurf, daß er ihn zweiunddreißig, sage zweiunddreißig Jahre wie einen Wilden auf der Welt ohne Kenntnis dieser geradezu erstaunlichen Einrichtung hatte hinleben lassen.

Damit war denn der neue Lauf seines Lebensschiffchens gegeben.


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