Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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3

Die Dorfkoppeln fielen nach der Niederung ziemlich jäh, doch hielt sich der vom Zollhaus nach Steinhof führende Weg auf der Höhe. Die daran liegenden Felder gehörten bis zu dem nach Süderau führenden Querweg (wo er die Biegung macht, setzt sich die Grenze an dem Knick der Meinerskoppeln fort), bis dahin gehörte das Land zum Zollhaus, auf der andern Seite war Steinhöfer Grund.

Jochim Vollstedt hatte freilich einen kleinen Acker dicht beim Zollhaus, und Henning Vollert hatte bei Störfetten eine Koppel im Zollhausland. »Die soll mir das Zollhaus noch mal teuer bezahlen«, pflegte Henning zu sagen. »Die stört dem Zollpeter die ganze schöne Harmonika, und das macht ihm Angst. Deshalb ist es auch ein Angstklave (Enklave), wie die Affkaten sagen.«

Henning hatte zu den Fremdwörtern ein eigentümliches Verhältnis, er liebte, aber mißhandelte sie und fühlte nicht, wie weh seine Bärenklaue tat. »Ich hab so ne Affektatschon, mich gut auszudrücken, und hab Schenie dazu«, pflegte er zu sagen.

Auf Henning Vollerts Störfetten lag der Buchweizen in Ackersenf, er sah mehr nach einem Lupinen- als nach einem Kornfeld aus. ›Was Henning wohl dazu sagt‹, dachte der Steinhöfer, da gewahrte er ihn selbst. Henning hatte sich gebückt, nun kam er in die Höhe, gelben Ackersenf in der Hand. Ohne Einleitung fing er mit Hans an:

»Sieh, Hans«, sagte er, »ich habe hier Buchweizen gesät, um agrikulturchemisch richtig zu handeln, aber da ist der böse Feind, will sagen die Trockenheit, die wir Anfang Juni hatten, gekommen und hat Unkraut, will sagen Kööken, was die Gelehrten sin Apis nennen, dazwischengeschmissen. Er hat geglaubt, mir damit Moleß anzutun und Schaden zu machen, aber diesmal hats nicht geglückt. Sieh mal, Hans, was für Viehfutter!« Und hielt dem Steinhöfer ein streng riechendes Senfbüschel unter die Nase.

Hans stimmte laut zu und dachte im stillen: es ist gut, wenn man sich zu trösten weiß und, falls es sein muß, Köök höher als Buchweizen einschätzt. »Godn Abend, Henning!« sagte er und ging weiter.

Nun war die Sonne untergegangen, und Abendrot brannte am Himmel.

Bei dem Weg nach Süderau hebt sich das Gelände. Über die Koppeln streichen freie Winde, man sieht über das Moor hinweg die blauen Höhen von Schönmoor. Goldweiden wachsen auf den Knicken, die Äcker heißen hier Hohenmichel.

Auf Zollhaus Hohenmichel bewegte sich etwas, es hob sich eine Form vom Abendhimmel ab, wie eines Mädchens breiter Sommerhut. Und als Hans Rohwer näher kam, stand ein Frauenzimmer am Hecktor.

»Deern!« rief Hans, »Deern Anna, büst du bat?«

»Ja, Nachbar«, scherzte sie, »Anna Holling heet ik, solang mi denken mag.« Es war des Zollwirts Tochter.

»Wir haben Flachs gespreitet«, sagte sie, »ich hab mal nachgesehen.« Sie trug ein Mieder mit kurzen Ärmeln und legte ein paar runde Arme auf den Schlagbaum.

›Ist doch ein verdammt hübsches Ding, die Anna Holling‹, dachte Hans. »Nun, wird der Flachs?« fragte er.

»Ja, lang dauert es nicht mehr, dann kann er auf die Brache.«

Hang Rohwer stand still, seine Augen beschäftigten sich mit Annas reinem Mädchengesicht.

»Ja, ja«, sagte er. »Es gibt Gegenden, ich weiß, in Hohn und Erfde über die Eider hinweg, da baut man keinen Flachs mehr. Sie könnens Leinen ebenso billig kaufen, sagen sie. Ja, kaufen können sie, es ist aber auch danach. Nein, da lob ich unsern Hanf und unsern Flachs und unsere alte Sitte.«

»Eigengemachtes hält besser«, entgegnete Anna.

Hans stand noch immer und sprach mehreres zum Lob der alten Sitten. Anna war nicht gerade blutjung, sie hatte aber ein so gutes Gesicht voll junger Mädchentugend. In ihrem Auge kehrte die Milde des Abendhimmels noch einmal zum Steinhofbauer zurück. Wenn es ihm nicht so lieb gedünkt hätte, so vor ihr zu stehen und mit ihr Aug in Aug zu sprechen: er wäre schon längst weitergegangen.

Anna sagte schließlich: »Wenn es nicht unlieb ist, Nachbar, dann plaudere ich mit dir längs. Ich hab einen Gang zu Schane Witt.«

Sie gingen nebeneinander her.

»Ich will man gestehen, Hans«, fing sie an und stand still so lange, wie nötig war, ihrem Begleiter mit stummer Bitte ins Gesicht zu sehen, »ich will man gestehen, ich hab beim Hochenwichel auf dich gewartet.«

»Das freut mich, Anna, das ist nett.«

»Ich will dich was bitten, Hans.«

»Das ist lieb. Wer bittet und fragt, hat Vertrauen.«

»Vater ist so aufbrausend, ich wollt dich bitten, ihm das nicht übel zu nehmen.«

»Wir sind als Freunde geschieden, Anna.«

»Und dann das andere. Hat Vater wirklich kein Recht auf Weggeld? Und all unsere Papiere, sind die für nichts?«

»Laß sein, Anna, es ist keiner da, der klagt.«

»Aber wenn nun einer käme, wenn nun einer nicht zahlte?«

»Ja, Anna, ich hab gesagt, ich glaube, dann ists zu Ende. Und das ist meine Meinung. Aber was weiß ich? Ich kann nur sagen, dann gibts einen Prozeß. Wie der ausfällt, weiß keiner.«

Anna rang die Hände. »O, Hans!«

»Was, Anna?«

»Ein Prozeß ist was Fürchterliches.«

»Ist nicht schön, ist aber auch ja nicht nötig.«

»Hans, darf ich sagen?«

»Sag!«

»Als ich in der Küche saß, da hörte ich so was, als ob du darum prozessieren wolltest. Und da bin ich so unruhig. Es ist ja nicht wegen des Geldes, wir könnens entbehren, es ist nur wegen meines alten Vaters. Du kennst ihn ja, er ist so zornig und so wunderlich. Er würde nicht darüber wegkommen.«

Hans Rohwer hatte ihr zweimal in die Rede fallen wollen: »Aber Anna!«

»Aber Anna«, sagte er, als er zu Worte kam, wo denkst du hin! Du hast ganz falsch gehört, da kannst du ganz ruhig sein. Ich denk gar nicht daran, zu prozessieren.«

»Wirst es auch nicht tun, Hans?« Anna Holling stand mit erhobenen Händen vor dem Steinhöfer.

Hans Rohwer wurde verlegen, er nahm seine Mütze ab und kratzte sich den Kopf. »Du fragst und fragst, Anna. Ich soll mich für alle Zukunft festmachen, und das, das siehst du ein, das kann ich nicht. Weiß ich, weißt du, was die Zukunft bringt?«

Sie standen unter den Eichen des Steinhofs, Hans faßte Annas Hände. »Begnüge dich, Anna, ich hätte bald Kind gesagt. Anna, gib dich damit zufrieden, ich denk nicht daran, dem Zollhaus das Weggeld abzustreiten, und werde es nie tun, wenn ich nicht dazu getrieben werde, wenn da nicht was Besonderes kommt.«

»Was müßte denn passieren, Nachbar, daß dus doch tätest?«

»Anna, ich möchts nicht erklären und nicht beschreiben, ich kann mir nichts denken, ich fühl es mehr, daß was ganz Undenkbares kommen müßte, etwas, was ganz unwahrscheinlich ist und sicher nicht kommen wird. Dein Vater ist ein Mensch, er hat, du sagst es selbst, seine Wunderlichkeiten, ich bin auch ein Mensch voller Fehler, habe auch Seiten, wo es weh tut. Und wenn ein Mensch die Besinnung verliert, tut er was, was er eigentlich nicht tun will. Laß es dir genügen, Anna, das wird sicherlich nicht geschehen.«

Er hatte ihre Hand nicht losgelassen und schüttelte sie, solange er sprach, auf und ab, zuletzt nahm er nicht nur ihre rechte, sondern auch die linke Hand. Wenn er etwas eifrig beteuerte, machte er es immer so.

Sie standen unter den Eichen des Steinhofs im Weg. Des Bauern Mutter saß am Fenster und strickte und lugte hinaus und sah alles mit an.

»Was hattest du mit Zollwirts Anna?« fragte sie, als Hans in die Stube trat. Sie blickte mit klugen Augen über die Brille weg: sie war eine alte, gescheite Frau.

»Nichts, Mutter, Anna wollte zu Schane Witt, da sind wir zusammen gegangen.«

»Und das Diskurieren und Händeschütteln? Das war ja ein Abschied wie nach Amerika!« Ein Lächeln lag um ihren Mund.

»Ja, das hatte seinen besondern Grund. Sie ist bange, ich fange mit dem Alten Prozeß an, weißt du, wegen des Weggeldes, und da hab ich ihr die Hand gegeben, daß das keine Not habe.«

Die Mutter strickte einmal herum. »Anna ist ein nettes Mädchen«, sagte sie.

»Ist sie auch.«

Der Strumpf wurde in den Strickkorb zurückgelegt. »Hans«, sagte die Alte, »nun hör mal zu! Sollte das nicht die Rechte sein?«

Hans schwieg eine Weile. Es gingen Gedanken durch seinen Kopf. Zukunftsgedanken und Zukunfsbilder. Weiber? hatte er bisher in Scherz und Ernst gesagt, Weiber? – die kenn ich. Eine, wie meine Mutter ist, gibts nicht mehr.

Er hatte einmal geliebt, da war er eben konfirmiert gewesen. Geliebt hatte er mit allen Fasern, und war bis in die letzte Faser hinein betrogen worden. Nun war er fertig.

Anna Holling war unter seinen Augen groß geworden. Sie war nicht die Schlechteste, aber Besonderes hatte er doch auch an Anna Holling bisher nicht gefunden. Vielleicht bis heute abend. Das war richtig; bei der Begegnung, die er eben mit ihr gehabt, hatte sie so gut ausgesehen und war so nett gewesen. Das Bild war ihm lieb, er mochte es nicht missen. Ihm war, als ob ihm was geschenkt oder ein Geschenk versprochen worden sei.

»Was schnackst du, Mutter?« rief er.

»Ja«, erwiderte diese eifrig. »Oft genug hab ich von dir gehört, du wolltest nicht heiraten, und oft hab ich dir gesagt: das ist nicht recht. Ja, ich hab gesagt, das ist Sünde. Sieh, du hast den großen Hof und Geld und Gut. Und das soll in alle Winde gehen? Die Rohwers vom Steinhof wohnen hier über hundert Jahre. – Ich bin alt«, fuhr sie fort, und der Haushalt geht über meine Kräfte. Schließlich sag ich: ich kann nicht mehr. Da komme ich aufs Altenteil. Du nimmst dir ein fremdes Menschenkind her und gehst schließlich, wie so viele, ins Garn. Ja, so wird es; wenn es eine darauf anlegt, euch zu kapern, seid ihr immer verloren. Und das ist nicht in Ordnung, ein Mann muß heiraten, nicht aber geheiratet werden. Und Anna ... die kenne ich, die wirft keine Netze aus, und den Haushalt führt sie gut. Die ist echt. Zum Mann gehört die Frau, und zur Frau Kinder. Das ist überall so, das ist Gottes Ordnung und Gottes Bestimmung.«

»Sie ist siebenundzwanzig und ich bin elf Jahre älter«,, entgegnete Hans, um was zu sagen.

»Nun, ist das nicht wunderschön? Dein Vater war auch zehn Jahre älter als ich, und just so paßt es sich gut.«

»Soll ich Schenkwirt werden?«

»Bewahre! Das Zollhaus wird an Peters Schwestersohn abgegeben. Dann bleibts in der Familie.«

»Und wenn ich auch wollte. Weißt du denn, ob Anna will? Und daß Peter ›ja‹ sagt?«

»Na du!« Frau Rohwer schlug ihrem Sohn scherzend auf die Schulter. »Das ist zu albern, da antwort ich gar nicht drauf.« Die Steinhofbäuerin war stolz auf ihren vielbegehrten Sohn.

Sie sprachen noch lange, hauptsächlich die alte Frau. Als es spät geworden war, sagte Hans: »Was meinst, Mutter, kann Katrien noch ne Tasse Kaffee kochen? Ja? Dann schwarz und stark! Bei Peter bekam ich süßen Grog, bei Mutter süße Rede. Auf süßen Grog und süße Rede gehört bittere Bohne. Sonst stößt es einem auf, und man wird den Geschmack nicht los.«

»Jawohl, mein Sohn«, sagte die alte Frau und ging nach der Küche. ›Das wird!‹ dachte sie. ›Ich will mit ihr reden und ein bißchen vorfühlen.‹

 

Als Hans Rohwer im Bett lag, konnte er nicht gleich schlafen. Er mußte immer rechnen, was das Zollhaus wohl wert sei, wenn mans zum Bruderpreis an Peters Schwestersohn abtrete, und er mußte zweimal rechnen, weil er bald den Wegzoll mit in Anschlag brachte, bald nicht.

Schließlich schlief er aber doch ein und – träumte. Aber nicht vom Zollhaus und auch nicht von Anna Holling und von den Plänen seiner Mutter. Er stand immer bei Henning Vollert auf Störfetten im Köök und kam von der Koppel nicht herunter.

»Nein, Hans«, sagte Henning Vollert. »Nein, Hans, das weißt du nicht recht. Buchweizen ist eine Blatt- und Kolbenfurcht mit doldenmäßigem Anschlag, aber sin Apis ist als Furasche eksellent, wie nichts. Sieh mal, Hans, wie die Biester einhauen.«

Aber Hans sah keine Biester, er sah nichts als einen gelben Mädchenstrohhut.

 

In der Kammer des Zollhauses lag Anna Holling kalt und sanft und braun im geblümten Bett und dachte: ›Er ist so stolz, er ist so nett. Ob er mich wohl liebt, wie ich ihn liebe?‹


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