Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In den letzten zwanzig Jahren war mehrere male Feuer im Kirchdorf gewesen, wobei einmal sieben Wohnhäuser in Asche gelegt worden waren. Da versah man die neuaufgebauten mit rotem Ziegeldach, es war überhaupt Mode geworden, harte Bedachung an Stelle des alten Strohdaches zu verwenden.
Harder Rickers Kate aber trotzte der Mode und ihren Neuerungen, ihr altes Strohdach überzog sich mehr und mehr mit dunkeln und grünen Flechten und Moosen, philosophierte nach wie vor hinter den Johannisbeerbüschen, die immer größer wurden und immer mehr und immer schnöder ihrer Bestimmung, Blüten und Frucht zu tragen, vergaßen. Tine hatte sie schon längst entfernen wollen, aber damit war Harder nicht einverstanden gewesen. Wie an der Kate und am Strohdach, so hielt er auch an ihrer Umgebung mit Einschluß der großen Büsche fest. Seien sie, so meinte er, auch zu nichts anderem nütze, so versteckten sie doch den Seiteneingang unter dem gar niedrigen Dach.
Rund um das alte Rauchhaus reichte das Dach auf Manneshöhe und weniger bis an die Erde. Das heißt: die beiden Schmalfronten ausgenommen. An der Dorfstraße, bei der großen Tür ging sogar ein kleines Fuder Heu hinein, und nach dem Garten bei den Stubenfenstern war es ebenso hoch wie die freilich kaum acht Fuß messende Zimmerdecke.
Kleine blumengeschmückte Fenster träumten dort nach dem nahen Haselknickwall hinaus, der den Garten von der Kuhweide schied, die zu Harders Kate gehörte. Und über die Weide hinüber und, wenn der Wind die schwanken Zweige bog, durch die Haseln hindurch, schimmerten die mächtig und immer mächtiger sich dehnenden und streckenden Gebäude des Großhändlers Nies.
Blumengeschmückte Bleifenster grüßten und träumten nach den Haseln hinaus, und faltigen Augenlidern gleich beschattete sie das weite überhängende Dach und die darüber sauber angebrachten Reusen und Netze seines Herrn, mit denen Harder Sonntags fischen zu gehen pflegte.
Die Zeit ging hin. Tine kochte und scheuerte und hielt ihren kleinen Hausstand blank und in Ordnung. Es ging in alter Weise, ihr Vater war leidlich gesund, und sie war es auch.
Die kleine Stube schien immer in Dämmerstimmung eingelullt. Es kamen viele alte Freunde, zu erzählen und sich was erzählen zu lassen und Harder Rickers Tabak aufzurauchen, zumal wenn die wirkliche ›Schummerstunde‹ nach des Tages Last und Arbeit herankam. Aber die Zahl der alten Freunde vergrößerte sich nicht. Krankheit und Alter ließen Unterbrechungen eintreten, dann und wann kam einer gar nicht mehr. Dafür mußte Tine dann ihrem Vater eine sehr fragwürdige Angströhre vom Boden holen und abstauben und sein schwarzes Zeug herkriegen, was Harder aufsetzte und anzog, um sich einem gleichgekleideten Sarggefolge anzuschließen.
Die Zahl der abgehenden alten Freunde wurde durch hinzukommende neue nicht vollständig ersetzt. Allerdings war einer darunter, der durch sein lautes Wesen, durch sein Geld und durch seine Geschäftsklugheit viele andere aufwog. Selbstverständlich war das Jochen Riese. Harder hatte schon früher bei seiner Zimmerei dann und wann einen Holzstamm gekauft und bearbeitet, der Nebenverdienst erhöhte sich, seitdem er in Jochen einen gut zahlenden Abnehmer gefunden hatte. Der plauderte auch gern mit dem Alten und erachtete dessen schlichten Holzstuhl nicht zu gering, den Großkaufmann aufzunehmen, des Zimmermanns Pfälzer nicht zu schlecht, seine Meerschaumpfeife damit zu füllen.
Der Sommer kam und verging. Und der Winter auch, und noch einmal, und dann noch einmal. Tine fing schon an, die Wochen zu zählen, wo sie auf Reimers Rückkehr hoffen durfte, und war gutes Muts. Da trat etwas ein, was sie sich nicht erklären konnte. Reimer schrieb nicht mehr.
Reimer schrieb nicht mehr, oder genau ausgedrückt: es liefen keine Briefe mehr von ihm ein. Es konnte ja auch an der Post liegen. Es war ja schon früher ein Brief an Tine und auch einer an Reimer verloren gegangen.
Zu häufig schrieb man damals schon nicht wegen der hohen Kosten. In den Elbherzogtümern waren die Fürsten von Thurn und Taxis noch im Besitz der Gerechtsame, ein in das innere Deutschland versendeter Brief war eine Seltenheit und ein Risiko, die Kostenberechnung machte dem Meister der Post viel Plage. Meistens wurde von dem Absender ein Vorschuß erhoben, wegen dessen er zu ihm in Abrechnung blieb. Ein Brief war eigentlich eine Art Frachtstück, von einem wirklichen hauptsächlich nur durch die Größe unterschieden. Im Kirchdorf war das Postwesen nun gar nicht auf der Höhe, die Posthalterei nicht einmal im Ort, sondern auf einem Nachbargut, die Briefbestellung war gelegentlich und geschah in der Regel durch Weißbrotträger oder Metzger.
Das sah Jochen Riese, und sein großer Geist fand es unerträglich. Auf seine Veranlassung kamen Posthalterei und Verwaltung nach dem Kirchdorf in die Hände des dafür geeigneten Mannes. Selbstverständlich war das Jochen Riese. Und für die Briefbestellung im Ort wurde ein eigener Briefträger angestellt.
Und gleich nach diesem Umschwung blieben Reimers Briefe aus.
Tine sah die Veränderung nicht gerne, ihr war es nicht lieb, daß sie jetzt gewissermaßen die Post aus Jochens Hand entgegennehmen müsse. Ihr Widerwille blieb der alte, mochte er seiner dreisten, zugreifenden Natur auch noch so sehr Zügel anlegen. Verstellung war eigentlich des Holzhändlers Sache nicht, durch die zur Schau getragene Gleichgültigkeit sah man das heimliche Begehren, und wenn es jetzt auch noch wie ein träges Krokodil im Sumpf lag. Es galt auch bald für ein öffentliches Geheimnis, daß Jochen Riese es auf Katrien Rickers abgesehen habe.
Wie ein träges Krokodil. Es war auch das ratsamste; denn bei dem leisesten Versuch der Zudringlichkeit hüllte Katrien sich in Unnahbarkeit, zog wie ein Burgherr alle Brücken auf, die über die Gräben führten. Und, wo er gar zugriff, wurde sie ein aufgerollter Igel von lauter Nadeln und Spitzen. Es helfe, meinte Jochen, nur ein gewaltsamer Durchbruch, und er war entschlossen, ihn gelegentlich zu versuchen.
Es lag doch wohl nicht an der Post. In dem letzten Brief hatte Reimer die Absicht ausgesprochen, die kleinen Nester, wo er bisher gearbeitet hatte, mit einer großen Stadt zu vertauschen. Er lerne da mehr und sammle mehr Erfahrung. Bei seinem jetzigen Meister könne er ohnehin nicht länger bleiben, denn es werde immer offenbarer, daß der ihn an seine lange, gelbe Tochter verkuppeln wolle.
Tine hatte kräftig dagegen geschrieben, das heißt: gegen den Plan, in die Großstadt zu ziehen. Meister Eggert wolle ihm sein Geschäft abtreten, für hier zu Hause lerne er in kleinen Örtern genug. Freilich: der Meister müsse wohl gewechselt werden.
Der Brief war unbeantwortet geblieben. »Die Ratschläge hat er übel genommen«, riet Härder. – ›Ob es wohl an der Post liegt?‹ dachte Katrien. Daß Reimer ihr untreu werden könne, war ein ihr ganz unmöglicher Gedanke. – »Es können doch nicht alle Briefe verloren gehen, Reimer müßte sich doch wieder melden. Wo er ist, wissen wir nicht, unsern Wohnort kennt er.« So redete Harder. »Es liegt nicht an der Post.« – »Wenn es nur nicht an dem neuen Postmeister liegt«, entgegnete Katrien. – »Was willst du damit sagen?« fuhr Harder auf. – »O, ich meine nur.«
Ihr Vertrauen wankte nicht, aber immer bestimmter wurde die Richtung ihres Verdachts. Sie fragte bei dem letzten Meister an, was ihm von Reimer bekannt sei. Die Antwort stellte lediglich klar, daß Reimer nicht mehr da sei und wohl nicht in Frieden mit dem Alten auseinandergekommen war. Sie war spitz und lakonisch: »Mit Fagapunden bemenge ich mir nicht. Paul Sinzenhagen.«
Durch Harder wurde die Antwort im Ort bekannter, als gut war, und in Jochen Riese brachte sie den Entschluß zur Reife, den Sturm zu versuchen.
Zu einer ungewohnten Vormittagsstunde kam er und traf Katrien allein in der Stube. »Also mit Fagapunden will Sinzenhagen sich nicht bemengen.« So führte er sich ein und warf sich lachend in Harders Lehnstuhl.
Er hatte ein nervös machendes Lachen, konnte dabei aber ein für Liebhaber psysiognomischer Studien unbezahlbares Gesicht aufstellen, so offen und ehrlich und gutmütig und gemütlich mit einem Anflug von Grimm. ›Du weißt, wie ich es meine‹, stand darin. ›Wir verstehen uns ganz prächtig, deine Augen dringen in die Tiefe meines unergründlichen Schalkshumors. Jochen Riese sitzt vor dir, Jochen Riese ist ein Ausnahmemensch. Jochen kann mehr als Brot essen, darf sich mehr herausnehmen als unsers lieben Herrgotts Dutzendware.‹
Katrien saß am Fenster, nähte und antwortete keine Silbe. Aber das ficht Jochen Riese nicht an, wieder lacht er. »Was meinst, Tinchen? Ich denk, da ist was Weibliches dabei.«
Keine Antwort.
»Mach doch nicht son Gesicht, Tinchen! Ich glaube wirklich, da ist was Weibliches dabei. Es müßte ja auch wunderlich zugehen, wenn er nicht schon längst was Schmuckes an der Hand hätte. Ein Kerlchen wie der!«
Die von der Umworbenen hierzu gemachte Miene war wohl nicht nach seinem Wunsch. Denn er fuhr fort: »Aber Tine, ich bitte, mach nicht son verregnetes Gesicht. Nimm es leicht! Will er nicht, wir lassen ihn. Schwärmt er im Lande umher und schiert sich nicht um uns, so kümmern wir uns auch nicht um ihn.«
Er lächelte bei diesen Worten und tat es mit süß tuenden Lippen. »Tine«, wiederholte er.
Da entgegnete sie scharf: »Riese, laß das mit ›Tine‹. Katrien Rickers ist mein Name.«
Die Röte des Zornes stieg ihm ins Gesicht, aber er bezwang sich: »Ah, sind gnädiges Fräulein geworden.« Und dann wieder lächelnd: »Aber für mich wird Tinchen keine Gnädige sein wollen.«
Er mochte viel verstehen, der große Holzmann, auf die Gesinnung und Stimmung von Frauen verstand er sich jedenfalls schlecht, denn sonst hätte er nicht gewagt, in dem alten Ton fortzufahren.
»Tinchen«, schmachtete er und hatte wieder einen süßen, spitzen Mund.
»Laß das, Riese«, war die Antwort, »es ist mein Ernst. Ich mag dein ›Tinchen‹ nicht. Es liegt ja doch nur obenauf.«
»Obenauf?« scherzte Jochen. »Du kennst mein Herz noch lange nicht.« Er hatte Lust mehr zu deklamieren, unterließ es aber, weil er nicht weiter wußte, verfiel daher auf sein altes Mittel. Er lachte, lachte laut und zutraulich, so wie ein guter Kerl nur lachen kann.
»Was kenn ich nicht? Dein Herz kenn ich nicht! Riese? Hast du denn wirklich so was?«
Katrien wollte so grob werden, wie ihre Natur zuließ. Er hatte ihr weh getan, sie wollte ihm wieder weh tun. Sie wollte, ohne es zu wissen, einen Bruch, der nie mehr heilen könne. Vielleicht wäre es auch so geworden, wenn ihr der Zorn nicht so gut gestanden hätte und Jochen nicht so verliebt gewesen wäre. Aber wie schön kleideten der Sanften, der Blonden, die Blutwellen in dem feinen Geäder!
Der große Holzhändler mochte so klug sein wie immer, auf Frauenzimmer, jedenfalls in seiner gegenwärtigen Lage, verstand er sich schlecht. Er hätte sonst nicht nach ihrer Hand gegriffen und, als sie sie wegzog, zu ihr gesagt: »Tinchen, sei gut. Kannst nicht ein bißchen lieb mit mir sein?« Und zum allerwenigsten hätte er sie mit seiner großen Hand am Kinn gefaßt.
Als sie die Hand des Verhaßten fühlte, ergoß sich ein Funkenstrom der Empörung durch ihre Glieder und nahm ihr alle Selbstbeherrschung und nahm ihr alles schöne Maß. »Verfluchter«, schrie sie, »dreimal verfluchter Judas! Hand weg, oder ich schlage dich in dein bübisches Gesicht.« Da zog Jochen Riese seine Hand zurück, und sein Gesicht war unheimlich verändert ... kupferrot, die Stirnader dick geschwollen. Den Mund verzerrte furchtbare Wut, die Lippen klafften auseinander, das Raubtierähnliche an ihm trat hervor, ein schreckliches Gebiß legte sich bloß.
Das dauerte aber nicht lange ... dann lachte er wieder, aber anders als sonst. In frechen, hohen Tönen ... kichernd aus Gaumen und Mund ... von Hohn gesättigt. Allmählich glättete sich seine Haltung dann wieder zu der Überlegenheit, die er so lange beiseite gesetzt hatte. Diese unausstehliche Überlegenheit nahm von allen ihren Herrlichkeiten wieder Besitz. So war er wieder Herr seiner Stimme und seines Zornes geworden, als er die Angebetete anschrie:
»Unverschämte Dirn, was bildest dir ein? Was hast denn und was bist denn? Da tut man, was man kann, und ist lieb und freundlich, und dann das? Das wagst du bei Jochen Riese? Du meinst Jochen Riese zu kennen, aber du kennst ihn lange nicht. Du glaubst, mit ihm spielen zu können, aber ich sag dir, wer mit mir spielt, verliert die Partie. Nein, so was, ... so was Infames, so ne Niederträchtigkeit! Und ich heiße Jochen Riese, und wenn der sagt: So ist es, und so wird es, dann wird es auch so. Du glaubst, ich habe kein Ehrgefühl, und ich will dir zeigen, daß ich ein feines Ehrgefühl habe. Will zugeben, bin in deine Larve verschossen, und wünsche dich zur Frau. Bisher hätte ich allenfalls davon ablassen können, nun aber wirds mir zur Ehrensache. Nun, so sage ich: du sollst meine Frau werden, und ich heiße Jochen Riese.«
Und zum Überdruß wieder das unerträgliche Lachen, dabei auf den Tisch trommelnd.
»Das gnädige Fräulein hat nicht dulden wollen, daß ich ›liebes Tinchen‹ zu ihm sage – es soll die Zeit kommen, wo sie mich darum bitten wird und mich ›lieber Jochen‹ nennt. Ich habe dich nicht berühren dürfen, es soll die Zeit kommen, wo du mich bittest, dich zu nehmen. Ja, so wahr ich Jochen Riese heiße« (er erhob die Faust, wie um in den Tisch zu schlagen, besann sich aber und schlug nur auf sein Knie), »es soll die Zeit kommen, wo du mich um mein Jawort angehst mit ausdrücklicher und aufrichtiger Erklärung, daß alles aus reiner Herzensliebe geschieht.«
Jochen Riese hatte Phantasie. Im Geiste sah er die Szene, die er prophezeite. Er fühlte so was wie Rauschen einer Palme über seinem Haupt. Palmenrauschen gehörte zu seinen stillen Träumen. Als junger Mensch hatte er ein Theaterstück gesehen, wo ein, wie wir jetzt sagen würden, wo ein ›Übermensch‹ alles beherrscht und zunichte gemacht hatte. Ein paar Szenen hatten sich (ein ganz zufälliger Umstand) in einer Art Treibhaus unter Palmen abgespielt. Seitdem hatte sich bei ihm die Idee verdichtet, daß zu einem Siege Palmen gehörten und daß er seine besten Triumphe unter Palmen feiern werde. Und das Rauschen der Zukunft hörte er jetzt über seinem Haupt.
Merkwürdigerweise war in Katrien die Bewegung um so mehr zurückgestaut, je zorniger Jochen geworden war. Und bei der Ausschüttung ihres Gegners war sie schließlich eiskalt. Sie erwiderte daher mit einer Ruhe, die wunderlich mit dem Vorhergegangenen in Widerspruch stand:
»Riese, ich hörte nicht genau. Aber mir war, als ob es auf einen Heiratsantrag hinauslief. Das geht nun ja nicht, da ich, wie du weißt, schon einen Bräutigam habe.«
Jochen Riese hatte dafür nur ein verwundertes Achselzucken und machte Miene, die Stube zu verlassen, als das Mädchen fortfuhr:
»Nur noch ein Wort an unsern Postmeister! Sollte es nicht angehen können, daß Briefe von Reimer auf deiner Post zurückgeblieben wären? Vielleicht läßest du mal nachsehen.« Da bekam Jochen Riese, wenn möglich, einen noch röteren Kopf und ein noch mehr verwundertes Gesicht als vorher, ging eilfertig weg und machte die Tür sachter hinter sich zu, als man nach dem, was vorhergegangen war, hätte erwarten können.