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Das Schulschloß von Handewitt liegt im höchsten Punkt des Geländes, hoch oben auf unserm Schimborasso, genannt Schierenberg, und auf meiner Höhe bilde ich mir ein, König zu sein, habe ich doch von meinem Herrschersitz einen prächtigen Rundblick über das Reich. Die dunkle Masse im Osten: das ist der Handewitter Forst; der schneeige Streifen im Westen, leuchtend wie Kreidefelsen von Moen: die weiße Sanddüne. Und weiter hinaus fliegt der Blick dorthin, wo meine Seele das unbegrenzte Meer sucht und sieht oder doch zu sehen glaubt. Und darüber das weiße Schwanengefieder der Wogenkämme. In der Regel freilich schließt der von der Küste sich herwälzende Rauch ungeheurer Nebelschiffe auch dem phantasievollsten Auge die Lider.
Die Sanddünen schneiden unser langgestrecktes, aus weit zerstreuten Höhen bestehendes Küstendorf nach Westen ab; einzelne Anbauer (›Abbauer‹, wie es im Kanzleistil heißt) taten das Äußerste und schoben ihre einsamen Katen bis an die Ausläufer der in mehrere Trossen zusammengerollten Hügelkette.
Eigenartige Berge, die Dünen, deren weiße Glatze der spärliche langhaarige Sandhafer nicht verdeckt, Wellenberge aus fliegendem Sand, aufgeregt und wild, wie erstarrte, brandende Meerflut.
Hier haust nach alter Sage ein überirdisches Wesen, der ›Dünengeist von Handewitt‹, dessen Dasein schon anno 1729 eine nicht bezweifelte Tatsache war, wie ich durch die Güte Christian Normanns aus dem Kircheninventarium von Siethfelde, wohin das damals noch kirchlich wilde Handewitt eingepfarrt wurde, ersehen habe. Seine Hochehrwürden, der Herr Pastor Ösam begleiten jenen Zuwachs mit dem Stoßseufzer:
»In den Handewitter Dünen geht ein Gespenst um, mit grünen Augen und langem Binsenhaar, das im Dünensande den rauhen Nordwind durch rohes Gelächter überschreit, und unter den Wohnstuben der Bauern, wenn sie das Vaterunser beten, höhnisch lacht, was nicht wenig zu dem Rufe jenes Dorfes, als eines von Gott und seinen Engeln verlassenen, beigetragen hat. So ist denn der böse Ort unserer Seelsorge überantwortet, nun gilt es, dem listigen Feinde furchtlos entgegenzutreten. Viel Arbeit im Weinberge des Herrn, doch auch des Verdienstes viel vor des Ewigen Antlitz«.
Der wackere Seelenhirte fügt ihm aber bitteres Unrecht zu. Das ist kein Teufel, sondern ein Naturgeist, ein legitimer Sohn aus der Ehe der Salzflut mit dem sandigen Strande, dem sie nun schon von Ewigkeit her mit ihren grollenden und wetternden Gardinenpredigten in den Ohren liegt.
Dieser unsterbliche Herr ist, wie ich von meinen Dorfeingesessenen erfahre, ein sanfter Geist, und am wenigsten lacht er laut und roh. Er ist ein stiller Freund des Alleinseins, der an dem Leben und Treiben von Handewitt ein beschauliches Genügen findet, froh, in seinem unwirtlichen Nest selten belästigt zu werden. Ja, wenn einmal ein Jägersmann, füllt ihm gleich der Sand die Stiefelschäfte, den Schritt in die Dünen lenkt, dann findet der Alte noch immer eine sichere Schlucht, die ihn verbirgt. Verschwiegene Gänge führen den Feinschmecker der Einsamkeit tief hinab in die Höhlen der Erdeingeweide, durch ein Netz von Minen und Gängen auf traute Lauscherplätzchen unter die Wohnungen der Bauern.
Sicherlich hat in seiner Jugend das jetzt hinter Schlick und Schlamm zurücktretende Meer den Fuß der Dünen umbrandet, er wird sich in schaumspritzenden Wogen mit Wasserjungfern belustigt haben. In reiferen Jahren vertrug er wohl das Gelächter der Frauenzimmer nicht mehr. So zog er sich in die Düne zurück.
Das Dorf gefällt ihm wegen der einsamen Lage. Von Osten und Süden her versteckt es sich hinter großen fiskalischen Waldungen, nach Westen und Norden ist es durch Dünen und Sumpfland wie von der Welt und ihrem Geräusch so auch von dem Meere geschieden. In behaglicher, wunschloser Ruhe sehen wir Handewitter die gackernden und schnatternden Völker der Wanderschwäne und ihrer Verwandten über die Baumgruppen unserer Höfe streben, indem wir uns derweilen unserer gefüllten Torfställe und Holzschuppen für den kommenden Winter getrösten. Im Frühjahre bewillkommt unsere Dorfjugend mit dem bekannten Ringelreim ›Adebar Langbeen‹ den gravitätischen Ägypter, wenn er hinter dem Spaten der die Wasserzüge lösenden Bauern die frechsten Frösche verspeist oder von der Dachfirst her gesunden Handewitter Nachwuchs verheißungsvoll klappert.
Für den Stadtbewohner liegt Handewitt ›achter de Ooken‹, das heißt: unaussprechlich weit ab von seinem Orte, dem Sitz der Kultur, draußen, unmittelbar an der Himmelswand, wo die Menschen nur noch bellen und die Aufgabe haben, den Sonnenball allabendlich niederzuziehen, damit die lichte Glut im Meere zischend verlösche.
Ist es bei dieser Sachlage ein Wunder, daß Handewitt sich eigene Gebräuche und Sitten schafft? Mir scheint: es ist nichts natürlicher als das. Vergißt die Welt uns Handewitter, so haben wir Handewitter auch ein Recht, die Welt zu vergessen.
Wollte man die Gebräuche schwarz auf weiß sammeln, es würde ein stattlicher Band werden. Denn die Vorschriften sind, bei aller Freiheit des Handewitter Betragens im allgemeinen, doch bei einzelnen Vorkommnissen recht verzwickt. Zum Beispiel, wie der Handewitter grüßt, wie er ißt und Kaffee trinkt, wie er zur rechten Zeit dumm und wiederum, wenn es notwendig ist, klug ist, in welchen Fällen (zum Beispiel Pferdehandel und Steuerzahlen) er nicht alles zu sagen braucht. In der Kunst, den Taler festzuhalten, sind wir Meister. Durch unsere pfiffige Verschlagenheit haben wir großen Ruhm erlangt, fast zu viel, denn unser Ort wird nicht gern von Handelsleuten besucht. »Sie sind mir zu jüdisch, die Handewitter«, sagt Veitel Mosessohn, »mit denen habe ich nicht gerne zu tun.« Als ein unbedachter Stellenschlächter sich einmal mit der Zerlegung einer Handewitter Hufe befaßt hat, ist er gerupft und matt aus dem Nest gekommen, was von allen Ortskundigen vorausgesehen worden war. Für sie war er schon ein Gegenstand des Mitleids, als er in der Dorfschenke die ersten Verbindungen mit den Bauern anknüpfte, und sie in seiner arglosen Einfalt für so dumm hielt, wie sie sich stellten. Schon damals lag auf seinem Haupte die Märtyrerglorie des Opferlammes, über dessen Wolle die Handewitter bereits die Würfel warfen, als es noch vom goldenen Vließe träumte.
Selbstherrscher der Handewitter Jugend! – Ein reinlich geflicktes Kleid hat was Rührendes, erinnert an sorgende Mütter. – Das sind meine Freuden.
Der Erste im Dorf? – Unsinn! – Peter Kölln hat viel mehr Ansehen als ich. Aber ein bißchen König bin ich doch, denn unsere Regierung regiert so wenig wie möglich, und mein Freund Christian Normann, Pastor von Siethfelde (ich sag noch immer Krischan), ist mein Schulinspektor und Vorgesetzter. Seine Aufsicht fühl ich kaum als Druck. Krischan und meine Kleinigkeit sind uns immer einig gewesen, sind es auch jetzt.
Der Erste im Dorf ist Peter Kölln, hat auch eine Figur, eine Würde, ein Gesicht danach. Den Kirchspielsbevollmächtigten sieht man ihm auf zwanzig Schritt an. Sein Haar tritt an den Schläfen zurück, um so unternehmender fällt ein Büschel über der breiten Stirn freie Mitte. Es ist noch dunkel, glänzend, er glättet es auch gern. Er weiß, daß er der Aristokrat von Handewitt ist, das den Ort mit der Welt da draußen verknüpfende Mittelglied. Das hieraus sich ergebende Pflichtbewußtsein liegt bequem und breit auf dem großen Charaktergesicht des Großbauern.
Er hatte mich eingeladen, an dem Flüttgutszug von Handewitt nach Fahrenkrug teilzunehmen. Der am Gehege belegene Hof Birkenrade war von einem neuen Besitzer, wie es scheint, mit dem Gelde eines Grafen Nesselkron angekauft worden; das Flüttgut soll in Fahrenkrug abgeholt werden.
Von meiner Flüttgutsreise will ich heut erzählen.
Lange vor Tagesanbruch fuhren wir auf Leiterwagen weg. Tag und Nacht lagen noch in voller Jungfräulichkeit auf Feld und Flur, das Meer schickte salzige Brisen hinter uns her. Ich dachte an den Dünengeist und immer glaubte ich seinen Schritt neben unserm Wagen zu vernehmen. Als die Sonne kam und die Felder dampften, da blieb mein Gnom zurück. Er ist ein bißchen lichtscheu, da lohnte es nicht mehr. Wir aber waren schon auf fremder Gemeinde Grund und Boden und verfolgten knatternd unseren Weg. Deichselschläge und Kettengeklirr gestatteten nur ein Gespräch mit den allernächsten Nachbarn über Acker und Anwesen, die am Wege lagen. Die Wagenlenker in ihrer gebogenen Stabgitterlehne des aufgeschnallten Wagenstuhls waren im wesentlichen auf vertrauliche Unterhaltungen mit ihren unverdrossenen Pferden beschränkt.
Peter Kölln und ich voran mit unseren Falben. Zehn Minuten saß ich hinten auf dem Sitzbrett und sah rückwärts. Was ich sah, paßte so gut zu meinen Gedanken. Die schüttelnden Köpfe und Körper verarbeitete meine Schulmeisterphilosophie zur unermüdlichen Ablehnung der Welt und ihrer Freuden.
Dicht hinter uns Martin Heesch mit einem Paar frischer Schimmel. Er ist eine große, knochige Gestalt, die nur aus Ecken und Kanten zu bestehen scheint. Gebeugt und zusammengeschüttelt saß er in seinem Stuhl, wie auf dem Schüttelsieb einer Staubmühle.
Hinrich Lucht hielt sich so scharf hinter Martin, daß seine Pferde über das Hinterheck prusteten. Hinrich ist ein kräftiger Mann, seine Hornhände sprechen von viel Arbeit, sein ungebeugter breiter Rücken von mancher Tonne Weizen, die er die Bodenleiter hinaufgetragen hat.
Da waren Jörn Lüders, Thoms Heeschen und andere. Franz und Fritz (Voß und Wulff heißen sie, es sind Vettern) waren hinten, ich sah ihre Formen nur verschwommen. Ich kann nicht sagen, daß sie mir die liebsten sind, aber ihre Art vertreten sie ganz tüchtig, haben weitabstehende Ohren, tragen ihre Schläue faustdick dahinter, sind auch nicht neumodisch. Sie behalten die gute alte Topffrisur bei. Ein Milchtopf wird auf den Kopf gestülpt, und abgeschnitten, was hervorlugt.
Um neun Uhr morgens brachte unser Wagenpark ein großes Dorf, das an unserem Wege lag, in Aufregung. Vor jedem Bauernhause riß ein zähnefletschender Hektor an der Kette, stattliche Hähne krähten auf Strohdiemen und Misthaufen. Die Straße eine lange Lästerallee heulender Hofhunde. Rechts und links stockte der Tanz der Dreschflegel, im Milchzuber ruhte der Schrubber rotwangiger Spülmädchen und:
Vör jede Fensterrut
Ene kleene Menschenschnut.
Dicht hinter dem Dorfe bog unsere Karawane in den großen Viert ein. Sie verkroch sich in hohes Gestrüpp, die Sonne hinter Wolken: es schlossen Nebel, Eichen- und Kiefergehölz uns von der Außenwelt ab, nach einer Stunde tauchten die in grauer Wetterstimmung auseinandergezerrten Formen der Häuser von Fahrenkrug vor uns auf. Ein feiner Regen sprühte uns ins Gesicht, wir Handewitter machen aber nicht viel Wesen aus Gegend und Regen.
Der Wirt hatte so viel Besuch nicht erwartet, er wurde lebhaft; seine Lebhaftigkeit wuchs, als auch Gespanne von der anderen Seite (es waren die erwarteten) in den Hof einbogen. Es kostete viel Zurückschieben und Vorwärtsleiten, bevor an ein Absträngen der Pferde zu denken war. Die neu hinzugekommenen Wagen hatten blau lackierte Bretter, worauf eine Grafenkrone gemalt war; die feurigen, glänzenden Rappen plagte der Übermut des herrschaftlichen Hafers. Unsere Handewitter Leiterwagen waren rot gestrichen, trugen keine Krone, sie waren mit wohlgenährten Ackergäulen bespannt, die, von Häcksel und Roggenmehl aufgeweitet, aus warmen Nüstern stoisch in die Morgenluft dampften.
Der Vollmacht und Vogt Peter Kölln maß mit bedächtigen Schritten noch immer die Pferdeställe, als seine Bauern schon in der Wirtsstube Grog und Kavelings (›Lütt un Lütt‹) tranken, in der Küche aber drei blonde Fahrenkruger Bauernmädel mit Todesverachtung Butterbrot strichen und Wurst und Käse schnitten.
»Das gefällt mir nicht«, redete der würdige Handewitter mehr in sich als in mich, seinen Begleiter, hinein. »Sein Flüttgut den Knechten anvertrauen und uns Handewittern nicht die Ehre antun! So was ist uns in Handewitt noch nicht passiert. Wundere dich, Peter, wundern, nur wundern und nicht ärgern!« Er tippte sich ernsthaft an die Stirn, um den Angesprochenen darüber, daß er gemeint sei, nicht im Zweifel zu lassen. »Man muß viel durchmachen, warum nicht das?«
Vollmacht war unwillig, aber mit Maß. Nichts war maßlos an Peter Kölln. Wir waren in den Ställen, Peter Köllns Auge konnte von den prächtigen Tieren der adeligen Gutsherrschaft nicht los. Einem glatten, schwarzbraunen Wallach sah er in die feurigen Augen, seine Hand strich über die weiche Wolle der vornehmen Decken, in deren Muster Wappen und Grafenkrone derer von Nesselkron den Grundbaß bildeten.
»Es wird wohl ein richtiger Junker sein«, faßte er seine Betrachtungen zusammen, »und bei dem Grafen scheint er lieb Kind. Nun, wir werden ja sehen.«
Peter Kölln fuhr mit der Hand über das Haar, als wir über die Schwelle des Gastzimmers schritten.
Über die Person des neuen Besitzers war in Handewitt bis dahin wenig mehr bekannt geworden, als daß er gräflicher Jäger gewesen. Der Handel war von einem alten silbergrauen Herrn abgeschlossen worden, der wegen seiner Schlichtheit einen überaus günstigen Eindruck in Handewitt gemacht hatte, zumal auf Peter Kölln, der aufgesucht und als Auskunftsperson zu Rate gezogen worden war. Er sollte ein Ohm der jungen Jägersfrau sein.
Drüben mußten wohl andere Gebräuche sein, sonst hätte es nicht geschehen können, daß der Neubauer, den die Handewitter Wirte persönlich empfangen wollten, gar nicht mitkam. Nun, das mochte hingehen, was aber mußten das für Haushalter sein, die nicht bei ihren Sachen blieben? Peter schüttelte noch sein Vollmachtsgesicht, als wir die Schwelle der Gaststube überschritten.
Im Wirtszimmer das adelige Gut rechts, das Dorf Handewitt links. Der ärgste Hunger der Bauern war gestillt, Teller mit Käserinde und Wursthaut schob man zurück, Martin stopfte sein Pfeifchen, schlug Feuer, öffnete den Deckel und verschloß den Zündschwamm, bestellte ein Glas Grog nach, schlug die Beine übereinander und begann eine Unterhaltung mit den Gutsknechten.
Sein Verhör betraf die persönlichen Verhältnisse des Neubauern und war so eingehend, als wäre er Untersuchungsrichter. Was auch tropfte, bei Franz Voß wuchsen die Ohrlöffel, so wichtig erschien ihm das Drum und Dran des sagenhaften Jägers. Viel war es nicht, der Gutsknecht war verstockt und einsilbig, es war eine Art Boxerkampf zwischen seiner Schweigsamkeit und Martins Fragelust. Er aß noch immer Speck und Brot. Fräulein Sophie war, das erfuhr man, junges Mädchen bei der Gräfin gewesen, der Graf nehme sich des jungen Paares an.
Das sei doch wunderlich, meinte Martin, daß der Graf so viel Geld für einen Jäger und seine junge Frau zahle.
Der Grauleinene schob ein paar Worte durch Lippen und Speck, lachte, zeigte ein weißes, schadenfrohes Gebiß und meinte, das gehe ihn und auch wohl die Gemeinde Handewitt nichts an.
Nun mischte sich Peter Kölln ein. Das sei doch eine merkwürdige Sache, daß der Jäger nicht einmal sein Flüttgut begleite.
Der Grauleinene wetzte sein Taschenmesser am Holzbricken, prüfte die Stahlfläche, ließ die Klinge einschnappen, steckte das Messer in die Tasche und erwiderte, der Graf lasse sie in seiner Kutsche hinfahren. Die Frau sei in andern Umständen.
Da lachten Fritz und Franz, da kamen ihre Löffel hoch, da stießen sie sich in die Seite und betrugen sich so unanständig, daß Peter Kölln seine Untertanen durch einen strengen Blick bestrafte.
Als der Wagenpark sich in Bewegung setzte, der Heimat entgegen, hatte jeder Handewitter sein Teil an Mobilien und Hausgerät. Franz Voß und Fritz Wulff führten außerdem als Schmuggelware eine kleine Geschichte in der Wagentruhe mit sich, eine Geschichte, so niedlich und interessant, daß sie jeden Handewitter fesseln mußte: die junge Frau und der Graf, der Jäger und klingende Taler; ein Trauschein macht alles wett.
Am andern Morgen kam Peter Kölln eifrig daher, er hatte von dem netten Ohm einen sehr ... sehr höflichen Brief erhalten, das Nichterscheinen war entschuldigt, Peter Kölln war gebeten, einstweilen Stelle zu vertreten und abladen zu lassen. Sonntag kämen sie selbst. Peter Kölln war Feuer und Flamme, seine Frau auch, sie meinten, wir müßten die Neuen ein bißchen nett empfangen.
Das taten wir denn auch. Birkenrade liegt weit ab vom Dorfe, es ist der einsamste Hof im einsamen Dorf – abseits von dem Grundstock des Orts, allein im buschigen Versteck, unmittelbar an dem großen fiskalischen, weiße Birkenstämme bis dicht an das Gehöft herandrängenden Forst. Quer durch die vorbeiführende Dorfstraße schießt zwischen hohen und steilen Ufern ein Bach, in dessen raschem Strom die Forelle steht, und nicht weit vom Hoftor überspannt eine baufällige Brücke das Flüßchen. Sie wird die ›Hollbrügg‹ (hohle Brücke) genannt. Weshalb? Das gehört zu den Rätseln von Handewitt. Vielleicht trifft das dumpfe Rollen der vorsichtig über die morschen Bretter geleiteten Fuhrwerke das Ohr der Dorfbewohner in besonders hohler Klangfarbe. Übrigens sind Brücke und Bach ›Spökelort‹ denn auf dem Gewässer brennt ein ›Licht‹. Daneben begibt sich bei Haus und Stall allerlei Unheimliches. Eine weibliche, durchsichtige Riesengestalt spinnt zwischen zwölf und eins ein schemenhaftes Garn auf einem großen Gespensterspinnrad. Eine Schere trägt sie im Gürtel, und wie Totenhemde bleichts, wenn Mondschein ist, auf dem Rasen.
Dergleichen Nacht für Nacht mit anzusehen, macht nicht fett. So glauben denn auch die alten Giebel den Kummer kaum noch tragen zu können. Sie neigen sich bedenklich nach vorn, in angstvoller Annäherung, um ihre Not auszutauschen. Wenn sie Arme hätten, so würden sie sich gewiß umschlingen. Die Auffassung der Dorfsleute ist freilich eine dem Idealen abgewandte: sie sehen in den geknickten Gestalten Männer, die sich in geheimnisvollen Nöten befinden.
Wir hatten Birkenrade so gut eingerichtet, wie es ging. Wir warteten, und auf Steinwall und Brückengeländer wartete auch ein Häuflein junger Knechte.
Es konnte vier Uhr geworden sein, da rollte ein herrschaftlicher Wagen auf den Hof, im Anblick der Kutscherlivree nahmen die Mienen der Zaunkönige die Starrheit der Verzückung an, der kurze Pfeifenstummel blieb an den Vorderzähnen hängen.
Brr! ... Brr! ... Die Rosse dampften.
In der Kutsche zerrte jemand am Fenster, mit kurzem Schlag fiel es herab. Erst zeigte sich eine junge, beringte, dann eine ältere Hand. Inzwischen hatte Vollmacht den Griff erfaßt und die Tür geöffnet. Mit einer gewissen Genugtuung ließ er sich von den Gräflichen in aller Form städtischen Zeremoniells angesichts Handewitt begrüßen, und stellte seinerseits mich und meine Mutter vor. Den beabsichtigten Erfolg erreichte er aber nicht ungeteilt, denn mancher Handewitter Junge rümpfte die Nase. Als der Herr seiner Nichte beim Aussteigen half, gab es wieder Rippenstöße, die junge Frau war offensichtlich gesegneten Leibes. Endlich erschien auch der Junker Jäger.
Betreffs des alten Herrn lief es von links nach rechts fragend über den Steinwall: »Wokeen is dat?« von rechts nach links staute es zurück: »Dat is ehr Ohm; de will den Hof verwalten.«
Der alte Herr lüftete auch nach dem Steinwall hin den Hut. Das bereitete Verlegenheit, man wußte nicht recht, wie mans erwidern sollte. Hier und da nahm jemand die Mütze ab, verdeckte aber die Befangenheit durch raspelndes Kratzen der Kopfhaut – eine Bemühung, deren Ergebnis der alte Herr nicht abwartete, vielmehr der jungen Frau, die sich auch verneigt hatte, den Arm bot. Der Junker Jäger in grüngrauer Joppe salutierte mit militärischer Geste und zusammengeschlagenen Stiefelhacken in Handewitt hinein und schnarrte ein »Gehorsamer Diener!« durch den dichten, braunen Schnurrbart in die Menge, worüber die nicht übertünchte Jugend in Gelächter ausbrach.
Handewitts Jugend war nicht auf der Höhe, aber Peter Kölln war es. Die Stubentür war von Grün umrahmt, ein Gedicht darüber; die junge Frau las es, und las es lange. Es lautete:
Willkommen hier in Handewitt!
Bringt Ii man recht vel Freden mit.
Denn kommt dat anner all to Schick,
Un an Ju Disch sitt Dag und Nacht
Dat rode Glück un lacht un lacht.
Die Stube war wohnlich, der Tisch gedeckt, die Dienstmädchen der Frau Vollmacht trugen einen großen Braten daher; da half kein Sträuben: die Herrschaften von Birkenrade mußten sich die Bewirtung in ihrem Heim gefallen lassen. Erst bei dem Nachtisch stellte sich das richtige Verhältnis wieder her, als die junge Frau einen schwarzen Tee aufgoß, so prächtig, wie ihn Handewitt noch nicht geschmeckt hatte.
In Handewitt schätzt man die Schönheit der Frauen nach der Frische der Gesichtsfarbe: zum ersten mal kam die Formel ins Wanken. Die Frau Jägerin war blaß und zart und fein, und dabei anmutig und schöner als alle ihre Schwestern im Dorf. Und gar die zarte Schicklichkeit, womit sie ihre Hoffnung trug!
Der Vollmacht Kölln konnte den ganzen Abend, wenn er an ihre schwarzen Augen und an ihr dunkles Haar dachte, nicht zur Ruhe kommen. Als wir beim Nachhauseweg im Brammer Weg mit Martin Heesch zusammenstießen, lohte seine Begeisterung wieder auf. Wir Männer traten seitwärts zu einer verschwiegenen Gruppe zusammen und ließen die Weiber passieren. »Jung«, schlug Peter Kölln los, »wenn se dat Og gan lett, dat treckt dör. Man föhlt sik so minn und nix.«
Der schmucke Jäger hat ein etwas fettes, aber nettes Gesicht mit einem Anflug von Gedunsenheit. Es steckte in einem wohlgepflegten Bart und sagte allen Anwesenden, daß es sehr wohl wisse, auf stattlichem Rumpfe zu sitzen. Alles war Wohlgefälligkeit und Gutmütigkeit. Mit Befriedigung sog er den Klang seines Organs ein, wenn er uns Handewittern sein ›gehorsamst‹ und ›ergebenst‹ entgegenschnarrte. Aber der Erfolg, womit er sich an dem landwirtschaftlichen Gespräch zu beteiligen versuchte, war mäßig. Er genoß reichlich Rum zu seinem Tee. Seiner Frau gegenüber war er zärtlicher, als ihr in Gegenwart von Fremden nötig schien. Sie wehrte gelassen ab mit einem sanften: »Laß, Heinrich!«
Bei dem Tee kam Peter nicht auf seine Kosten. In Verkennung eines festen Handewitter Gebrauchs, den Gast bis zur siebenten Tasse zu nötigen, nahm die junge Frau schon nach der zweiten Tasse die Versicherung der Eheleute Kölln, daß sie genug hätten, für bare Münze. Frau Vollmacht mußte sich entschließen (der Vollmacht folgte dem Beispiel), nach Handewitter Sitte den Tassenkopf auf die Seite zu legen und den Löffel durchs Tassenohr zu ziehen, was von den Adeligen mit Verwunderung wahrgenommen wurde.
Da waren Persetter und seine Mutter doch klügere Leute. Wir genossen den herrlichen Tee nach Schicklichkeit und Gefallen.
Als ich das letzte Blatt – Monate gingen inzwischen hin – in mein graues, ergebenes Heft legte, sagte ich zu mir: das nächste mal schreibst du was anderes hinein, von Birkenrade sei es bis weiter genug. Ich wartete und wartete und fand, da ich meinem Vorsatz treu bleiben wollte – nichts. Ich fand das Dorf arm an hervortretenden Erscheinungen und Ereignissen. Ich bemerkte nur: ganz Handewitt sah mit vorgebeugtem Halse nach Birkenrade hin. Da tat ich es und tu ich es auch und schreibe von Birkenrade.
Anfangs ereignete sich nicht viel ... Die junge Frau sah ihrer Stunde entgegen und hielt sich zu Hause; der Junker Jäger, so heißt er im Dorf, ging wie eine Saatkrähe durch seine Äcker, und auch der alte Ohm machte es sich mit seiner langen Pfeife nicht allzu unbequem. Die Fledermäuse der Gerüchte schwirrten um die Topfregale, worauf Handewitt in den Abendstunden eine Pfeife Tabak und einen Mundvoll Schnack in Zufriedenheit zu verzehren pflegt. Als der Prinz geboren und auf den feudalen Namen Kurt getauft worden war, behaupteten Handewitter, eine elegante Kutsche sei in der Abenddämmerung in Birkenrade eingetroffen und habe sich vor Tagesanbruch nach dem fabelhaften Osten zur Rückfahrt aufgemacht. Der Insasse sollte der Graf selbst gewesen sein, und die Neugier, ob der Prinz ihm etwa zufällig ähnele, ihn hergeführt haben. Während der kleine Kurt noch in der Wiege nach Fliegen griff, taufte ihn schon der Volksmund ›Graf von Birkenrade‹. Und diese Bezeichnung ist ein Teil seiner Person geworden, den er so wenig ablegen kann wie den schwarzen Augapfel seines feinen Gesichtchens, das er seiner Mama, der sagenhaften ›Gräfin von Birkenrade‹, aus dem Antlitz gestohlen hat.
Im Dorfmund heißt sie ›die Gräfin‹ – es mag anzüglich klingen, ist aber in der Hauptsache doch wohl nicht so gemeint. Es mögen unterschiedliche Beweggründe zusammenwirken, ursprünglich mag man sich dabei an die Gerüchte erinnert haben, die aus dem Osten kamen, dann aber verkehrte das seine, vornehme, von der heimischen Art so ganz abweichende Wesen dieser Frau das in eine Huldigung, was Herabsetzung sein könnte.
Der ›Fleck an der Ehre‹ ist in Vergessenheit geraten, die Handewitter müßten nicht Naturkinder sein, die sie sind, wenn sies behalten hätten. Christian Normann muß auch hier auf manches Unrechte das Siegel der Rechtmäßigkeit drücken. Geschieht es auch gebührendermaßen mit strafenden Worten – man nimmts mit Demut, man nimmts mit Gelassenheit hin.
Vor dem ›Jäger‹ (so nennen wir ihn, seinen Namen kennen wir kaum) macht unsere Ehrfurcht Halt, den Grafentitel legen wir ihm nicht zu. Die Frau ist viel zu gut für ihn – sagen wir.
Sollten die recht haben, die ihn nicht als einen Gelegenheitstrinker, sondern einen im Hause und außer dem Hause dem Trunk ergebenen Tagedieb nennen?
Die Gräfin verehrt man, und doch wäre ihr auf ein Haar ein großes Leid zugefügt worden. Die Unkenntnis der Handewitter Gebräuche war daran schuld.
Von jedem Zuzügler wird ein ›Nieburbeer‹, förmliches Gelage mit Bier und Branntwein, verlangt, ursprünglich wohl eine Erkenntlichkeit für das Holen des Flüttguts, dann zu einer Ehrenpflicht gegenüber der ganzen Dorfschaft verallgemeinert. Nachdem die Frau aus den Wochen gekommen war, erwartete man allgemein die übliche Festlichkeit.
Die Bewohner von Birkenrade hatten hiervon keine Ahnung. Der alte Ohm hatte jeden einzelnen Bauern, der ein Fuhrwerk gestellt hatte, aufgesucht, hatte ihm gedankt und die Bereitwilligkeit von Birkenrade zu Gegendiensten versichert; der Jäger hatte bei passender Gelegenheit im Kruge eine Bowle Punsch gestiftet – nun erachtete man die Rechnung für ausgeglichen.
Handewitt aber beanspruchte das übliche Gelage, worauf jeder Dienstjunge ein Recht hat. So beschritt man den vorgeschriebenen Weg des Zwanges.
Da waren zunächst Briefe ohne Unterschrift, die das Recht der Gemeinde versteckt andeuteten, zu senden. Sie hatten den gewünschten Erfolg nicht, weil sie nicht verstanden wurden. Also stärkere Beschwörungen: die große Dielentür von Birkenrade wurde nächtlicherweise geteert. Das wurde um so mehr mißverstanden, als das Teeren der Tür, der Wind und Wetter ohnehin jede Farbe genommen hatten, eine große Wohltat war und das von Rissen und Sprüngen bedeckte Holz den willkommenen Belag gierig aufsog. Im stillen freute sich Birkenrade über den diensteifrigen nächtlichen Kobold, und die Frau von Birkenrade scherzte: das sei am Ende der Dünengeist, von dem man in Handewitt so viel rede. Nun blieb noch ein Mittel: die Verbreitung von Spottgedichten. Bäurische Unerbittlichkeit und Rücksichtslosigkeit griff zu einem grausamen. Die Verse des Bürgerschen Gedichtes ›Des Pfarrers Tochter zu Taubenheim‹ waren in Handewitt heimisch; die Zeilen, die man auf rohem Zettel an das Geländer der Hollbrügg klebte, lauteten:
Der Graf:
Ich laß es mir kosten ein gutes Stück Geld,
Und wenn dir mein hübscher Jäger gefällt.
Dann können wirs weiter ja treiben.
Zum Glück fand Vollmacht das Blatt, bevor es in Birkenrade bemerkt worden war. Er vernichtete es und klärte die Bewohner von Birkenrade mit einfachen Worten darüber auf, was man von ihnen erwarte.
Nun wurde mit Vergnügen das gewährt, was Handewitt ertrotzt zu haben glaubte.
Der Herr Professor Friedrich Helm wird es vielleicht für das erste Zeichen der von ihm gefürchteten Verbauerung halten, daß der Schulmeister von Handewitt das Gelage mitfeierte. Aber ich kann nicht helfen – meine Mutter und ich waren dabei, Peter Kölln und Gattin selbstverständlich auch. Peter war gönnerhafte Höflichkeit, in der Hauptsache kam ich ihm aber zuvor. Die Gräfin sagte mir den ersten Tanz zu. Als die feine Frau ihr geschmackvolles Wollkleid unter die Beiderwandröcke mischte, begegnete man ihr von allen Seiten mit Achtung. Im übrigen nahm die Festlichkeit die herkömmlichen Züge einer ländlichen Lustbarkeit an.
Unter der großen Tür standen die Handewitter Bauern und neckten und hänselten sich gutmütig üblicherweise mit derbem Witz, was der Ohm mit heiterem Interesse, der Jäger mit blödem Lächeln anhörte. Nur wenn hier und da einmal eine derbe Faust in das Gebiet der platten Zote hinübergriff, blitzte in seinem Vollbart das frohe Verständnis auf, daß es ungemein spaßig zugehe.
Der Weise des Dorfes, Kätner Kaspar Schulz, beschäftigte sich auf solchen Gelagen mit der Zergliederung der Frauenseele. Er hatte in der ›Hörn‹ einen Kreis von Zuhörerinnen reiferen Alters, die nicht mehr den ersten Tanz beanspruchten, versammelt und hielt Vorträge über die Eigenheiten der Frau in kaustischen, mit Sinnsprüchen geschmückten Übertreibungen. Er wurde sowohl ihrer Schlauheit wie ihrer Verstandeseinfalt gerecht. Kaspars
Mannslist ist behend,
Frugenslist awer ohne End
rief in dem schäkernden und kreischenden Kreis Jubel und Beifall,
Frugens hebbt lange Hoor
und korten Verstand
lauten Widerspruch hervor. Und als der gottlose Kaspar sich gar zu dem
Frugensminsch mag
keen Frugensminsch lieden
hinreißen ließ, tobte alles, was einen Frauenrock und lange Haare trug, den unheimlichen, lachenden Weisen, der durch Herz und Nieren sah, in komischer Wut an.
Inzwischen wurde in der Wohnstube unaufhörlich Kaffee verschänkt, und im Nebenzimmer spielte man ›föftein Streeck‹. An einem Tischchen in der Ecke machten sich die größten Drückeberger vor den Steuern, Klaus Ohrt und Mars Ott, das Vergnügen, mit dem Gelde zu prahlen, indem sie mit straffen Geldbeuteln die polierte Platte mißhandelten. Auf der Diele übte Hans Heuk in den Pausen vor der weißgeschürzten weiblichen Jugend seine gewandten Pas, ließ seine Tanzkunst und seine blankgewichsten Stiefel loben, wie sichs gebührte, und zeigte sich als Allerweltsschmetterling. Seine Lorbeeren ließen Detlev Bock nicht ruhen; er wollte Hans im Bajazzokostüm übertreffen und trank daher vor den Schönen drei Schnäpse aus, die er mit seiner Rechten unter das Bein durchschob.
Der Hexenkessel summte und sang und war dem Sieden nahe. Wir hielten es für passend, Abschied zu nehmen. Vollmachts schlossen sich uns an, die meisten Handewitter empfahlen sich französisch. Die Frau von Birkenrade und der alte Herr drangen auf längeres Verweilen nicht. Es war hohe Zeit, daß wir gingen, denn schon begannen Übermut und Trunkenheit sich die Hemdärmel aufzukrämpen. Die Paare flogen juchzend und jauchzend über den Brettersaal der Lehmdiele, und draußen im Garten, an den Wänden von Haus und Scheuer, um Stroh- und Heudiemen huschten dunkle Gestalten und flatternde Gewänder. Ab und zu tauchten lang vermißte, sieghaft aussehende Paare aus verschwiegenen Ecken auf, um wild daher zu stürmen; der Stine Kelting zog man einen verräterischen Strohalm aus dem Haar.
Nach unserm Weggang und nachdem auch die Hausfrau und der Alte zu Bett gegangen sind, hat man die letzte Schranke abgebrochen. Der Jäger hat sich vollständig betrunken, die Flasche ist nicht aus seiner Hand gekommen, er hat nur noch Blödsinn gelallt und hat alle Handewitter und Handewitterinnen, namentlich die letzteren, umarmen wollen. Anfangs hat es zu Gelächter, dann zu heftigen Auseinandersetzungen Veranlassung gegeben. Hans Heuk hat mit ihm angestoßen: »Auf den kleinen Grafen von Birkenrade.« Da hat ihm der Jäger das Schnapsglas ins Gesicht geschlagen. Blut und Glassplitter sind umhergespritzt, der Jäger hat einen Faustschlag erhalten; wie an einen Magnetberg sind rechts und links Kämpfer in den brüllenden, blutenden Knäuel geflogen. Hocherhobene und dumpf niedersausende Arme haben, wie von einer Kurbel gedreht, mit einem gewissen Rhythmus in dem verflixten Rattenkönig gearbeitet.
Der Verlauf dieses unliebsamen Vorganges entsprach dem herkömmlichen. Mehrere Tage taten die mit blauen, zerschundenen Gesichtern umherlaufenden Schläger sehr aufgeregt und drohten mit gerichtlichen Klagen, die aber, wohlerwogen, unterblieben. Im Grunde waren ja alle beteiligten Handewitter – von dem Neubauern vorläufig abgesehen – nüchterne, arbeitsame Menschen, die sich ihrer Überrumpelung durch den Alkohol schämten, jedoch nicht allzusehr, denn Ähnliches hatte sich schon in den besten Familien ereignet. Also:»Lat scheeten!«
Es fand eine Aussöhnung unter den Beteiligten statt, als man das sogenannte ›Nachbeer‹ in der Dorfschenke, zwei Wochen später, feierte. Der Jäger betrank sich wieder und kam auf seine Liebkosungen zurück. Das verbaten sich die Handewitter, da schloß das Versöhnungsfest mit einer kleinen Nachfeier der Schlägerei, wobei der ›hergelaufene Adelige‹ von den Eingeborenen weidlich durchgewalkt wurde.
Handewitt wendet sich dem persönlichen Verhältnisse der Ehegatten mit schmerzlichem Interesse für die Gräfin zu.
Man hört, daß es in Birkenrade nicht gut bestellt ist. Das rote Glück, das nach dem Wunsche von Peter Kölln Tag für Tag mit am Tische sitzen und zu jedem Löffel Suppe lachen soll, ist dort wohl nicht Gast.
Jedenfalls sieht die junge Frau nicht darnach aus, als ob sie Mühe habe, den Glanz ihres Glücks zu tragen. Es erhellt immer mehr, daß der Junker im Begriff ist, ein Trinker zu werden, wenn er es nicht schon geworden ist.
An sein nächtliches Ausbleiben gewöhnt man sich allmählich in Birkenrade, wie die Dienstboten jedem erzählen. Der alte Herr ist noch da, er wohnt aber in der Gartenstube im Kreuzbau. Die Knechte schlafen in der Dielenkammer, die Mädchen in der Stube über dem Keller. Nur die junge Frau hält mit ihrem Knaben Nachtruhe in der neben der Wohnstube befindlichen Schlafstube, wo auch das Bett ihres Mannes ist. Wenn er durch das angelehnte Fenster den Schlüssel von der Fensterbank nimmt, das Schloß aufdreht, die Tür in den schreienden Angeln bewegt und nach dem Schlafzimmer tappt, so mag sein Weibchen sich des Augenblicks getrösten, wo die Bettstelle unter dem Trunkenen erkracht und der rasselnde Schlaf ihn aus dem zweifelhaften Glück ihrer jungen Ehe hinwegführt.
Ich liebe Handewitt, weil ich die Einsamkeit liebe, aber ich liebe auch die Welt und ihre Freuden. Sie hat noch immer Anrecht auf mein Herz, wenn ich sie auch zu fliehen scheine. Was ist der Mensch doch für ein rätselhaftes Ding!
Ich fliehe, was ich liebe. Habe ichs mit andern gemein oder ist bei mir allein den großen Wünschen eine noch größere Zaghaftigkeit beigesellt?
Ich habe immer geflohen, was ich liebe. Mit meiner Jugendliebe war es ebenso. Ihren Spuren folgte ich als treuer Toggenburger, wenn mich niemand, wenn – vor allen Dingen – sie selbst mich nicht sah. Sobald mir aber ihr Kattunkleid entgegenwehte, brach ich wie ein gescholtener Hund, durch den Wegknick.
Warum ist alles, was ich wünsche, was ich denke, mit so schwerer Fracht von Wies und Warums und Fragen nach dem Grund beschwert?
Ich gehe zur Düne und suche die Einsamkeit, die Freiheit. Denn die Natur allein erscheint mir ehrlich in ihrem großen Schweigen, bei ihr füllt sich meine Seele mit Bildern ohne die Schwere von Warum und Wie. – Ruhig und erhaben ist sie im tobenden Sturm, erhaben auch, wenn die Sonne lacht – Natur, der große Himmel darüber hergespannt, sie sind, wie du, mein armes Herz: die Ketten fallen ab das Irdische entweicht, die Ewigkeit tut ihre Tore auf.
Ihr Gesicht ist von der ausgesuchten Art, woraus Verwunderung mit Kinderblick hinausfragt in die Welt. Heut schienen ihre Lippen zu der Frage geschürzt, wie es doch komme, daß die große Welt nichts von dem Frieden des Handewitter Paradieses wisse, in Kinderjahren mag das feine Gesichtchen nach dem lieben Gott gefragt haben, der die Welt so schön und gut eingerichtet habe, aber um ihre Mundwinkel liegen die Schatten der späteren Frage, weshalb die Welt so gar abscheulich sei, und jetzt buchstabiere ich in den feinen Zügen: mein Herz wundert sich über meine Miene, es laßt sich nichts vormachen, glaubt meinem Gesicht nicht, es weiß, daß meine Seele traurig ist.
Wir waren bei Normanns zusammen und sprachen über unsere Landschaft.
»Die Jugend«, sagte Normann, »interessiert mehr das Was als das Wie; auf sie macht Gottnatur nur durch gewisse sinnfällige Kraftleistungen wie Hochgebirge, Niagara und Meeressturm Eindruck. Die Poesie der Sandwege dagegen, der grünen, von Haseln und Erlen eingefaßten, irgend wohin in lauschige Einsamkeit sich verlierenden Redder, der Reiz eines am Rande gelber Kiesgruben wachsenden Grasbüschels, die Erhabenheit des weiten Blachfeldes brauner Heide, schwarzer Sümpfe und Moore – diese Sorte Poesie geht uns erst später auf. Da arbeitet die Natur für die reifere, den Indianergeschichten entwachsene Jugend.«
»Ist die Handewitter Düne schön?« fragte man. Da sagte sie, von der ich rede:
»Ob ich aus dem Eindruck, den die Dünen auf mich machen, schließen darf, daß ich sie schön finde, weiß ich nicht. Aber die Sandgebilde wirken stark auf mein Gemüt. Mich beherrscht bei ihrem Anblick zwar das Gefühl der Einsamkeit, der Traurigkeit, aber der Natur fühle ich mich doch näher. Ich verstehe sie, und das erfüllt mich mit einer Empfindung, die ich, es mag nun richtig sein oder nicht, erhaben nennen möchte.«
Erhabene Traurigkeit – das ists!
Ich wandele zuweilen mit ihr die Schlangenlinien der sandigen Wege durch das merkwürdige Gebirge. Dann lese ich mehr von ihren Mienen den Eindruck ab, als daß ich sie zum Reden veranlasse. Noch öfter gehe ich als einsamer Spaziergänger über Berg und Tal und denke über sie und ihre Schicksale nach. Dann bitte ich auch meinen Bergen die Verkennung ab. Sie ist nicht unversöhnlich, die stets reisefertige Gesellschaft aus fliegendem Sand. Die weißen Spitzen und Wände erzählen mir von Jahrtausenden. Sie tragen Heiligenschein um ihre sonderbar gestalteten Gipfel und rufen zu frommen und zu unfrommen, aber immer zu Gedanken auf. Wo war der Mensch, als die grollende Meerflut sich von dein Fuß dieser Düne zurückzog und den ersten Schlick und Schlamm vorlagerte?
Immer bin ich ein andächtiger Zuhörer. Es ist mir eine Kleinigkeit, über einige Jahrmillionen hinwegzusteigen, ich höre im weichen, warmen Sand dahingestreckt die brausenden Meereswogen an den Dünenstrand klatschen, sehe sie die mitgeführte nasse Erde von Muscheln, Gestein und Seetang sieben, sichten, säubern, bis die Ebbe sie trocknet, die Sonne sie zu weißem Mehl zerstäubt und der erste West sie über die Düne bläst.
Die Bergkette läuft meilenweit an der Küste hin und schließt sich dann dem natürlichen Höhenzuge an, der an der großen Strommündung steil zum Meere abfällt.
Die zusammengerollten Ketten frappieren im Hügellande als schaumspritzende Brandung, aber von Handewitt aus gesehen verläuft der weiße Kamm rein und schön, wie die Linie eines südlichen Gebirgszugs. Und wenn der Sturm die schweren, blaßgrünen Halme des Sandhafers schüttelt, so rieselt das Rauschen wie rinnender Sand.
»Ist es eine Tugend, ist es eine Untugend, daß ich mich um die Nichtigkeiten der Welt wenig kümmere, daß ich meine Befriedigung nicht in der Zerstreuung, sondern in der Sammlung suche? Bin ich ein Selbstsüchtiger, weil ich nicht müde werde, in mir selbst den besten Gegenstand meines Nachdenkens zu erkennen? Ist es Jagdfrevel, wenn ich das gehetzte Wild meiner Gedanken aus den geheimsten Schlupfwinkeln aufstöre? Bin ich hochmütig, weil ich die große Welt für entbehrlich halte und den Schulmeister von Handewitt für befugt, sich aus ihr so wenig zu machen, wie die Welt aus dem Lehrer Rudolf Schmidt?«
So sprach meine Hauptseele. Ich habe nämlich zwei: des Leibes Wirtin, die Hauptseele, und eine andere, die bei ihr als Stütze oder Gesellschafterin in Stellung ist.
»Lassen wir unseren Rudolf Schmidt außen vor«, äußerte die Stütze. »Geben Sie zu, daß es verdienstvoller ist, sich mit anderen als mit sich selber zu beschäftigen?«
Die Wirtin gab es nicht zu, die Stütze ärgerte sich und wurde verdrießlich; die Wirtin fing an zu schulmeistern; die Seelen stritten sich. Meine Hauptseele machte Anleihen bei den Pessimisten und meinte, eigentlich sei jedes Dasein Schmerz.
»Schmerz?« kreischte die in ihren heiligsten Gefühlen gekränkte Stütze. »Jawohl: Schmerz«, wiederholte die Hauptseele, »Beweis die Langeweile. Langeweile ist die durch keine positive Daseinsfreude neutralisierte Normaldosis des Daseinsschmerzes. Und der langweilt sich am wenigsten, der sich selbst nicht herumklügelt.«
»Sie sprechen, als wenn Sie Philosophie und nicht Gottesgelahrtheit studiert hätten, aber Ihr System klappert an allen Enden. Das Verdienstvolle einer Handlung besteht ja eben darin, dem eigenen Glück zu entsagen, das Glück anderer herbeizuführen. Sie aber kennen keinen Gott und keinen Nächsten, Sie kennen nur sich selbst.«
Die Hauptseele wollte wieder lachen, tat es aber nicht, um die Freundin nicht noch mehr zu erbittern. Die Kindlichkeit der ihr vorgetragenen Ansichten erregte ihr Mitleid, und das machte sie menschlich mild. Sie trat mit großer Geduld Gemeinplätze breit und faltete mit kühlem Ernst Begriffe und Beweise auseinander, die ihr geläufig waren, daher trivial erschienen. Wollen und das eigene Bedürfnis befriedigen, sei eines und dasselbe. Nur durch das Mittel des eigenen Glücks und der eigenen Befriedigung könne der Mensch das Wohlergehen anderer auch nur wollen.
»Mit Ihnen ist nicht zu streiten«, knurrte die Oppositionsseele. »Sie hantieren mit Worten, wie Herkules in der Posse mit Gewichten. Es sieht aus wie Kraftleistung, aber jeder weiß, daß es papierne Zentner sind. Aber, weshalb soll ich Ihnen den Spaß der Athletenwürde verderben?«
An dem kleinen Streit erfreute ich mich, als die erste Morgenröte des schönsten Tages, den Handewitt je sah, über die Baumwipfel des Handewitter Forstes in mein Schlafzimmer lachte. Ich stand auf, fing mit Waschen und Ankleiden an, alles still für mich überdenkend.
Im allgemeinen war ich mit der Wirtin meines Leibes einverstanden und lobte sie. Und als ich mit grobem Tuch Hals und Nacken frottierte, unterlag es für mich keinem Zweifel: die Lust und Freude des Wohltuns entzünde sich freilich an dem im Auge des Nächsten aufleuchtenden Glück, vermittelt jedoch durch die Erkenntnis, daß das die reinste und schönste Freude sei, die man sich selbst bereiten könne.
Mit dieser Erkenntnis kam ich in die Kleider, beim letzten Kämmen und Bürsten hielt sie noch vor, und tiefsinnig blickte ich in meine Stiefelschäfte – des Geistes voll. Ich konnte nichts Verwerfliches an meiner Liebe zur Einsamkeit, an meinem Selbstgenugsein finden. Ich sah nicht ein, daß ich verpflichtet sein solle, mich in das Weltgewühl zu stürzen, mich den Qualen eines ohnmächtigen Mitleids auszusetzen.
Was konnte die Welt mir bieten? Der Frieden eines ruhigen Zimmers war immer meine Wonne gewesen.
Wird jemals der Gedanke deiner Herr werden, aus dem Edenfrieden des Dorfs zurückzukehren in die sogenannte Welt, um den dir zukommenden Anteil an des Lebens angeblicher Freude zu fordern? So fragte ich mich. »Nimmermehr!« erklärte die Hauptseele. »Abwarten!« sagte die andere.
In guter Stimmung fand mich die vierte Morgenstunde schon als Spaziergänger auf den Sandwegen von Handewitt. Ich horchte auf den Schritt meiner intelligiblen Persönlichkeit, die ich neben mir verspürte. Lange, lange Zeit überhörte ich die lieben Sänger: Drossel, Finken und die mir so werten Gassenbuben, die Spatzen, obgleich sie ihr Bestes vor den Ohren des Schulmeisters von Handewitt taten.
Aber als ichs schließlich wahrnahm, da freute ich mich der Welt mit einem so offensichtlichen Überschuß des Vergnügens über die Daseinskrankheit, daß ich (man stelle sich vor, ein Schulmeister!) einen Gassenhauer anstimmte, den mein Gedächtnis aus einer längst verflossenen Knabenzeit heraufwarf: »Ach, das Leben ist doch schön, man muß es nur verstehn!« Keine Ahnungssonde wird die Tiefe meines Gemüts, die Stärke des Gedankensturms ausmessen, der mich bei diesem Kantus durchtobte.
Die weißen Birkenstämme des Birkenrader Forstes tauchten vor dem Sänger auf und hörten in gemessener Haltung zu. »Er ist etwas verschnupft, singt aber gar nicht übel«, wisperte ein schlankes Stämmchen seiner Mama zu, die mit gesenktem Kopf sich zu ihm hinabneigte. Den reichen Haarschmuck hatte die junge Birkenfrau über das Gesicht geschlagen, den Nachttau schüttelte sie aus den langen Strähnen; es schien, als wollte sie mit dem Kämmen beginnen. »Na, na, Kind!« antwortete die Mutter.
So kam ich nach Birkenrade.
Bei Birkenrade fielen Humor und Stimmung jäh zu Boden, da wurde ich grausam ernüchtert.
Aus dem Fenster drang roher Lärm, die Dielenfenster waren unverhängt, es war taghell. Der Jäger war auf der Diele, Hans Gliß und Mars Gramm, bekannte Liederliche eines Nachbardorfes, sangen: »Lustig sind die Hardebüller«. Hans Gliß tanzte mit der Butterkanne, der Jäger machte dazu auf einem Kamm Musik. Als ich das sah, da arbeitete ich mit einem Fehlbetrag im Konto.
Ich ging rasch vorüber, und das war gut: es kam eine Flasche durchs Fenster geflogen und zerplatzte am ›Sodschlengel‹.
Der Jäger ist auch diesmal von seinen Gästen gehauen worden. So vergalt man ihm die Gastfreiheit mit Hieben, die vor dem allgemeinen Sittenkodex nicht bestehen können. In das Handewitter Gesetz bin ich nicht genügend eingeweiht, um zu wissen, ob das seinen Vorschriften entsprach.
Im Traum aber sah ich den Alten vom Berge. Er war sehr aufgeräumt und trug die von ihm belauschte Prügelei mit grotesken Einzelheiten vor, wobei er sich die Seiten vor Vergnügen hielt und bis zum Prusten lachte. Er denke, erklärte er, milde über die Ausschreitungen, wisse er doch, daß alle Hiebe gut und ehrlich gemeint seien. Auch gönne er dem Jäger eine eindringliche Lehre. Könne er ihn schon als Tagedieb nicht leiden, so sei er ihm als Trunkenbold vollends verhaßt.
Ich kann ihm nur recht geben im Traum und im Wachen, der Jäger treibt es zu arg. Es ist klar, daß Handewitt jetzt mit einem richtigen Säufer versehen ist, der nicht nur bei Gelagen, sondern auch sonst in der Gosse liegt.
Der Graf von Nesselkron wohnt ja nicht am Ende der Welt; die Erde steckt voll von Helfershelfern, wenn es sich darum handelt, den blanken Ehrenschild des Nächsten zu trüben. So wäre das Geheimnis der Gräfin gewiß leicht zu entschleiern. Aber ich werde mich hüten, es zu tun. Was wird das Ergebnis sein? Irgend eine Sünde wider den heiligen Geist der Gesellschaft, viel Liebe, Glauben, viel Niedertracht, und, im landläufigen Sinn, eine Schuld der Gräfin.
Freche Gleichgültigkeit gegen Zucht und Sitte einerseits, Steinigen einer Gefallenen andrerseits, pharisäische Tugend – alles kleidet gleich schlecht.
Ich weiß nichts und will nichts wissen. Ich pfeife auf das Gefasel, es soll ihr keinen Gran meiner Hochachtung entziehen. Und schrie ihr Vergehen gen Himmel, wie der Brudermord am Plankenzaun des Paradieses: in meinen Augen hat sie Engelsfittiche, so rauschend, schön und lang, daß sie einen Pfuhl von Sünde überdachen.