Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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Die alte Heintke starb

Es war Frühling in den Bergen. Der Winter war hart gewesen, schneereich und kalt und mit Kristalllüften, die auch die Gemeindestube kalt gemacht, daß die Bettbretter in der Nacht knallten und knackten, so krochs von den Wänden herein. In der rauchigen Gemeindehausstube war die junge Heintken, die nun längst über Fünfzig war, in Stroh vergraben gestorben, während die kleinen Kinder am Bettrand standen und das harte mechanische Röcheln hörten, bis es still wurde – und die alte, fast achtzigjährige Mutter Heintken immer noch wie eine erschreckende Mumie herumlief, die Augen vom ewigen Weinen verquollen, zerfurcht und verhungert und gebeugt. Nun kam Mathilde und Marta heim. Nun standen sie beide im verräucherten Raume – elend verwahrlost wie alles war – Marta hochgemut und in guten Kleidern – nein, fein sogar – in Wollstoffen, die schwer hingen, in einem Jacket wie eine Stadtdame, in einem Hut, der hoch ragte und mit feinen Blumen, und einem Blick, der jeden kindlich fragte: »Nun – bin ich nicht auch eine Dame?« Als wenn jetzt jeder Mensch nur ein Spiegel wäre, der ihr wiedergeben müßte, was sie für einen Schein warf. Der sie sonst gar nichts anginge, als daß er nur aus seinen Augen ihr so etwas sagte, wie: »Ja, du bist jetzt wirklich eine feine Frau!« Oh – mein Gott – sie war nicht mehr von der Liste gekommen. Sie ging schon längst nicht mehr in die Fabrik. Sie lief schon längst nur wie eine feine Dame in den Straßen herum – und lockte mit Blicken und Gebärden. Sie wußte schon längst nicht mehr, was ein gesunder Nachtschlaf ist, wenn man am Tage seine Arbeit tat. Sie tat keine mehr. Sie lag in ihrem Himmelbett hinter ihrem schweren, grünen Vorhang und schlief bis in den Tag hinein, und wenn die Dämmerung kam, ging sie auf Raub aus. Sie war jung und kindlich – und nur ein Leben ohne alle Frage – wild oder sanft und lieb und zärtlich – nur ohne alle Frage und ohne weite Wünsche groß – kurz von heute auf morgen – in Luft und Rausch und damit gut. Nun wie Mathilde sie traf vor dem Totenbette, wo die junge Heintke in wunderbarer Ruhe lag – wie unbemerkt war Mathilde, eine ernst Trauernde, nach der Schwester eingetreten – da sah Mathilde auf die Schwester und sah noch gramvoller aus.

»Guten Tag, Mathilde«, sagte die.

Aber beide sahen nieder auf die Tote, und Marta sah das ruhige, glatt gewordene, fast schön gewordene Muttergesicht und weinte. Und Mathilde weinte schier aus unbegreiflichen Gründen um die Mutter, und daß eine Junge neben ihr stand, die das Leben besudelte, wie einst den eigenen Muttersinn. Daß sie dastand, wie eine feine Dame, frech und traurig, wie sie die Tote sah, und nicht sah, daß aus der Mutter Mienen die Unschuld neu aufstiegen und die reine Gottesfreude der Stillung und Erlösung aus dem Tal der Mühen und der Irrungen. Mathilde konnte sich nicht trösten.

»Daß mir uns ni getroffen haben«, sagte die Junge.

Sie wohnten schon ein Jahr nicht zusammen. Sie sahen sich nie.

»O Gott – Gott –« sagte Mathilde.

»Die Kinder kummen ei's Rettungshaus«, sagte die Großmutter und weinte.

Mathilde legte dann ihr schwarzes, böhmisches Tüchel ab, das sie wie eine Bäuerin um den Kopf trug und legte den dunklen Wollrock ab, um ihn in der schmutzigen Rauchstube nicht zu verderben. Aber Marta ging das Dorf entlang und begrüßte einige Freundinnen und Männer, die sie alle erstaunt ansahen, wie fein sie war, und was aus ihr für eine Sichere geworden. Auch Hallmann begegnete ihr und rief sie an:

»Was macht denn Mathilde?«

»'s is au' hier«, sagte sie lachend.

»Nu, Euch giht's gutt«, lachte er grob. Er dachte nun daran, wie der Vater ihn gewarnt hatte.

»Komm ock amol nieber«, sagte sie, ihn frech duzend.

»O Jeses – nee – was werd ock da Meine sa'n«, lachte er.

»Kimmer dich ni drum«, sagte sie höhnisch.

Während Mathilde daheim saß und alles noch in Ordnung brachte.

Die Gemeinde mußte sorgen.

Mathilde säuberte alles und schmückte die Tote, so gut sie konnte. Sie riß Zweige von Weiden am Abhange neben dem Gemeindehaus und gab der Toten einen in die starren Hände. Es war die junge Heintken. Mathilde sah die tote Mutter oft an, wie sie dalag, zum Einsinken bereit, den Zweig Palmen wie einen Frühlingsgruß in den Händen, und fast schön und unschuldig aussah.

Dann am andern Tage schaffte man sie auf den Kirchhof, der ganz in der Nähe lag. Man merkte es nicht im Orte. Die Glocken hatten nicht geläutet. Hinter dem Sarge trippelten einige Kinder in ärmlichen Kleidern –und die alte, elende Mutter, gebeugt, das Schnupftüchel vor dem Munde und nicht umblickend. Und eine Dame, wie in der Stadt schritt dahinter, die sich oft umsah und wie aufgelöst tat im Schmerz. Und eine ernste, stumme Trauerfrau, die in dunklen Kleidern reinlich ging und ein schwarzes böhmisches Tuch um die blonden, vollen Haare trug, die weinte nicht. Aber sie war, als wenn es der Totenengel selber wäre unter den Armen und Frechen, so still und tief und in Gram.


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