Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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Mathilde geht nun offen mit ihm

»Nu gih ich mit dir«, hatte Mathilde gesagt, als sie am Abend jenes Tages am Hause stand und ihn ansah, wie er bleich und noch fast atemlos erschien, und wie sie ihm im Hausflur die Blutspuren am Halse wegrieb, daß er ungestört heim konnte. Und so war es. Jener Angriff Simoneits, dessen Namen sie jetzt kannte, hatte ihr aufgetan, was für Menschen sie umgaben, und in welchen ewigen Gefahren sie als ganz einsames, junges Frauenzimmer lebte. Und sie ging mit ihm. Wenn sie morgens in die Fabrik wollte, kam er pünktlich vors Haus, wenn sie die Treppen niederging, er mit dem Kopf ein wenig in den Schultern und sie groß und jung, er auch bleich und mit einem Angesicht, aus dem nur Sinnigkeit und Sanftheit Ausschau hielt – ob zwar jetzt in der Fabrik alle wußten und alle heimlich und laut sagten, daß er wie ein böses Raubtier einem an den Hals komme, wenn man seine Wut weckte und einem gar das Blut wie ein Vampir aus den Adern saugen könnte. Und man ließ sie unbehelligt. Sie gingen mitsammen, er ein Schutz für Mathilde, weil sie wußte, daß ihre Kraft, seit er an ihr mit ganzer Inbrunst hing, in ihn überging, wenn sie nur bei ihm stand – und er, gesonnt durch das schöne, kräftige, gesunde, unberührte Bauernkind, das kaum erwachsen einherschritt, sicher und hart und tüchtig. Niemand wagte sie nun zu stören. Auch die jungen Arbeiterinnen sahen sie mit heimlichem Respekt – und die jungen Arbeitsmänner, oder gar die alten, sagten höchstens: »Kannst lachen, Joseph«, wenn sie mit dem Krummen einmal beim Arbeiten, oder über den Fabrikhof schreitend, ein Wort wechselten. Jetzt kam Saleck auch und saß bei Mathilde. Mathilde litt es gern. Wenn am Sonntage die Wäscherinnen hinaus waren, durfte er zu ihr. In Mathilde hatte jener Abend einen Stolz erzeugt, der sich über alles heimliche und neckische Sorgen breitete, und sie litt gern, wenn er bei ihr saß. Auch war alles, was die Leute von Saleck sonst redeten, durchaus nur törichtes Geschwätz. Er war unbedingt der einzige unter allen, der ein stilles, in sich gesunkenes Leben führte, und der nicht nur immer in der Destille und beim Schankwirt seine Feierstunden zu verklären suchte. Er war ein stiller Mensch, auch gleich, nachdem sein Jähzorn sich gelegt und er seinen Atem wiedergewonnen hatte. Wieder wie immer war er still und sanft und mochte gar nicht an jenen Streit mehr erinnert sein. Er hockte jetzt oben am Fensterschlitze und plauderte oder las wohl auch manchmal Mathilde mit innerer Teilnahme, die er für alles Geschriebene empfand, etwas vor, wenn er dachte, daß sie es interessieren könnte. Mathilde hörte ihm gern zu. Sie mochte es gern, daß in seiner sanften Stimme etwas still, wie zitternd mitsprach, was nicht aus den Worten, was aus seiner Seele kam. Und wenn er ihr auch Geschichten vorplauderte – er war ganz sinnig von seiner alten Großmutter her, die ihm immer alles mögliche erzählt hatte –, da wunderte sie sich fast, daß alle die Geschichten von den schönen liebenden Frauen, von Melusine und von der Gänsehirtin am Brunnen in dem kleinen, krummen Kerle verborgen lagen, so fein und so zärtlich, und daß er liebe Worte fand, sie hinauszugeben. Und sie lachte, weil sie es gar nicht gewöhnt war, daß einer nun gar ihr, die groß und stark herangewachsen war, noch solche Lügen erzählen mochte, wie sie es nannte, und womit sie gar nichts Böses und Abfälliges, nur ihr ganzes Unvermögen bekunden wollte, daß sie in dieser ganzen weiten Welt seit ihrem eigenen Anbeginn, weder im Gemeindehaus, noch im Dorfe oder gar in der Fabrik und der Stadt solche Melusinen und Gänsehirtinnen und gar auch die Prinzen hätte finden können. Komisch kam sie sich immer vor. Sie machte sich über sich und über ihn lustig, wenn sie zugehört hatte, wie ein Kind neugierig, wenn sie sich schließlich ganz vergaß.

Und die Wäscherinnen waren unterdessen ganz abgekühlt. Was zuerst ganz Güte und Liebe gewesen war, war längst ins Gleichgültige und Gehässige umgeschlagen. Sie fingen an, Mathilde zu plagen, fanden es gemein, ein Mannsbild mit in die Stube zu bringen, und waren gar nicht scheu, es offen zu sagen, noch gar was für eins. Grade weil Mathilde streng und grob alles gemeine Leben haßte, als wäre es für sie eine Hölle auf Erden, grade, weil sie sich zuerst ahnungslos nur für sich gehalten und in ihrer stillen Gemeinschaft mit dem kränklichen Saleck ihre wenigen Feierstunden hinbrachte, hielten die Alten nicht zurück mit ihrem Hohne. Saleck hatte es sogar schon mehrmals selbst zu hören bekommen, und immer merkte er Mathilde an, wie ihr das Blut in die Wangen brannte und daß sie sich stolz aufrichtete, wie eine, die man unschuldig geißelt.

Aber sie hielt still. Noch dazu, daß ihr das ganze Haus in jener Lage, die mit dem Streit und Auflauf gekommen war, ganz gleichgültig schien. Die stummen Sorgen hin und her, die heimlichen Bedenken waren ausgelöscht seitdem. Ihre Gemeinschaft mit Saleck stand jetzt fest. Es hätte gar keinen Sinn gehabt, noch darüber hin und her zu grübeln. So war es: er war kränklich und zart und war ein wenig verwachsen. Sie sah es kaum noch. Es war so. Was ging es die andern an. Sie war abgefunden. So schwieg sie, wenn die Wäscherinnen sie höhnten und verlachten. »Du wärst fir Feine gut genug«, sagte einmal eine zu ihr. » Ich gleeb's, ju, ju, wenn ich mich wegschmiß«, sagte Mathilde noch höhnischer. Es war zwischen ihnen zu Ende. Die Böhmischen fragten im Grunde gar nicht mehr nach ihr. Sie sahen sie nur dann und wann noch heimlich an, daß sie frisch und stark und rosig erschien, daß ihr das goldene Gesträhne, wenn sie aus ihrem Bett fuhr, hudelig um die freie Stirn hing, daß sie Augen hatte, hell wie blinkende Steine, daß sie sicher war, wie eine, der man nicht nahen durfte, wenn man im Moder lebte; daß sie unbefleckt geblieben, so sehr sie im dumpfen Moder aufgewachsen und von Gemeinheit und wilder, verzehrender Sinnesart und obhutlosem Sichhinwerfen in alle Pfützen und Lüste noch jetzt umgeben war. Denn grade das war es, was Mathilde immer wieder stark machte, daß sie stark war aus dem rauchigen Vaterhause her, wo sie sich zu wappnen hatte lernen müssen. Und daß sie auch längst erkannt hatte, daß es die reinen Dielen mit Sand und die rein gewaschenen Treppen im Hause allein noch nicht machen – daß man mit reinlichen und sauberen Menschen leben muß, die immer nur schwer zu finden sind.

Und in dieser Zeit war in Mathilde ein seltsames, unbarmherziges Gefühl, wenn sie allein war außer der Arbeit. Sie dachte an daheim mit Groll. Sie schrieb nicht mehr. Sie dachte, daheim ging es auch zu, wie im Saufhaus, es kamen ihr Szenen in den Sinn, und sie schrieb nicht. Sie war lebendig im Haß, und haßte den Mann, der mit der Mutter lebte, und schrieb nicht. Sie konnte sich nicht mehr entschließen monatelang. Es war auch gekommen nach dem Angriff Simoneits, und nachdem Saleck ihm am Boden fast die Gurgel zugedrückt. Wie einer Schlange, dachte sie, und ihr Blut ging in Haß, und viele Male, wenn sie sich so ihren Träumen überlassen, war es ihr dann eine Weile gewesen, als ob der Heintke unten gelegen und zum Erdrosseln reif gewesen wäre. Und Szenen im Gemeindehause kamen ihr wieder in den Sinn, aufdringlich und quälerisch und verschwammen mit ihren eigenen Erlebnissen, die sie schreckten. Und in den Stunden dachte sie an Saleck, wie an einen Retter. Sie floh zu seinem sanften Gesicht, das sie sich dann vorstellte, still und unbegehrlich, und ließ zutrauliche Worte aufmarschieren, um sich alles böse Schauen auszulöschen: Worte aus seinen Geschichten – und sein hohes Lachen, das ganz kraftlos klang, aber doch sanft und unbegehrlich und aller Rohheit fern, kindlich und herzlich.

Und immer ging es so aus, wenn sie einmal wieder den Versuch machte, einen Brief heimzusenden. Es fiel ihr dabei einmal ein, wie der Vater die Mutter in einer Nacht, wo sie längst als Kind geschlafen, plötzlich wütend aus dem Bett gerissen, geschlagen und gebalgt hatte, und dazu die beiden so wütend sich angeschrien und angeheult, daß die Gemeindestube bald voll Menschen gestanden, die auch zuerst mehr Neugier und Freude am Ereignis, als der Wunsch nach Ruhe und Ordnung hereingetrieben, bis endlich der Hallmannbauer, ein Riese, der benachbart wohnte, mit einem Strick gekommen war, beiden, Vater und Mutter, mit dem Strick tüchtig zugesetzt und sie aus der sinnlosen und gemeinen Wut zur Besinnung gebracht hatte. Sie, die Älteste, hatte am Boden gelegen und gezittert – sie zitterte und bebte noch jetzt in Gedanken und haßte ihre Jugend und dachte und fühlte noch, wie die Kinder im Bett und die Großmutter jämmerlich weinten, und sie wußte sich nicht zu lassen, daß sie den Briefbogen in die Ecke warf, das »Geliebte Eltern« wieder zornig zerriß, und nur das Geld zusammennahm – ihren Namen auf die Postanweisung schreibend, groß und leserlich: Mathilde – das war sie, das wollte sie bleiben – unbescholten – das wollte sie bleiben, auch wenn ihre Mutter war wie die Böhmischen, und die jungen Kerle in der Fabrik wie Heintke, Tiere, die auf nichts ausgingen, als ihr die Kleider vom Leibe zu reißen und sie sich dienstbar zu machen. Sie dachte wieder an Saleck, und fand Kraft und Ruhe wieder. Sie dachte an dem Abend sogar: »Er ist schwach, aber ich bin kräftig und gesund. Auch ich kann ihm ein Schutz sein.« Das gab ihr Sicherheit und Ruhe wieder und ein Gefühl, als wäre sie froh, nichts anderes zu sein, als sie selber – so wenig – ein armes, einsames Fabrikmädel – aber sie selber – stark und gesund – und da für einen Schwachen und für einen, der gut und sauber und kindlich ist – und stolz auf sie und ihre Kraft – und ihre unbeugsame Härte – und sie nahm sich alle ihre Wünsche neu zu Herzen, daß sie gern mit ihm leben wollte – gern – und für ihn sorgen, wenn er auch kein Held wäre im Äußeren, und daß sie arbeiten wollte, ihr eigen Leben verdienen, daß sie für alle sorgen wollte, selbst für die, die daheim im Rauche und in Haß und Flüchen lebten.


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