Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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19

Saleck irrt umher

Saleck war gegen elf heimgekommen. Er hatte Mathilde nicht gefunden. Der Taumel in den Tanzlokalen und der Hohn einiger Kameraden brannten in ihm. Es war immer wiedergekommen, daß er dachte: Nun könnte sie zu Hause sein. Und obgleich ihm das Herz schlug, so schmerzhaft, und der Atem gar kein Ziel fand, sich auszuruhen, so hatte er sich immer vorgenommen, ihr alles zu vergeben, wenn sie nur einmal wieder zur Besinnung kommen könnte. Aber die Stube daheim, durch die er mußte, war leer. Die Leute waren alle auf den Tanzböden. Im eigenen Stübel gähnte ihn auch die Leere an. Sie war noch nicht heimgekehrt. Wie er sah, daß er Schub und Schrank offengelassen, schloß er bedächtig alles zu und sah ins Licht einen Augenblick hinaus. Es war eine Sternennacht, klar und eiskalt. Die Straßen unten lagen tief und in Totenruhe. Er hörte seine Taschenuhr durch die Weste ticken. Und wie er so zum ersten Male zum Besinnen kam, kroch etwas auf in ihm, was er gar nicht selbst wußte: Aus seiner kleinen Gestalt der Ingrimm und der gedrückte Teil seines Wesens, der krumm im Fleische saß, der schwach war, zu schwach, in klarer Lebensform auszublühen, und der nun angerührt war wie ein heimliches Tier, das er fühlte, wie es ihm die Kehle drückte, wenn er nur an Mathilde dachte. Er war wieder hinausgetastet, ohne Licht zu machen. Ohne die alte Wirtin zu stören, die allein zurückgeblieben, die jetzt im Nebenzimmer sich im Bette umzudrehen schien. Er kroch wieder die Treppe tastend nieder, jeden Krach beim Treten, so gut er konnte, vermeidend und dann ins Freie. Und die kalte Eisluft und das kalte Sternenlicht fiel jetzt sichtbar über ihn, daß er sich ein paarmal wie aus seinen Schultern herauszuheben wagte und länger sich machte, um seinen Aufruhr innen zu übermannen. Und er kam, von kühler Luft tief vollgesogen, wieder in Ruhe, wie er weiterging. Und er schritt hinaus aus dem Orte und umschlich die Fabrik. Er dachte, es könnte da draußen der Werkmeister sein, der immer Mathilde bevorzugte. Aber da draußen knackten nur einige Zweige in der kahlen, bereiften Buche an der Parkmauer, und es war keine Seele weit und breit. Alles lag stumm, nur die Fabrikscheiben und das Direktorenpalais blinkte in die Nacht aus schwarzen Fenstern. Und er zögerte und fror – und ging dann wieder in die Stadt zurück. Wut kam über ihn. Er dachte plötzlich an Simoneit, der ein kräftiger und tüchtiger Schlosser war, groß gewachsen und dunkel wie ein Zigeuner. Ein Mann, den er immer gehaßt hatte, und gegen den er wieder sich aufbäumte, wie eine böse Schlange. Und Saleck schlich ums Haus Simoneits. Er dachte nicht anders als, vielleicht treffe ich ihn. Ihn und sie, dachte er, daß er mit blitzenden Blicken das ganze dunkle, kleine Haus ansah, alle Fenster ansah, die blinkten, ohne daß irgend aus einem eine Lichtspur schien, und dann auf die Haustür spähte, ob jemand sich heimlich herausdrücken würde, ihn zu packen. Aber auch hier blieb alles in stummer Nacht – alles. Er schlich die Parterrefenster entlang. Er suchte zu erspähen, ob wohl nur die Vorhänge das Licht abdämpften und drinnen sich welche heimlich vergnügten, übrigens wohnte Simoneit oben. Und Saleck trat von neuem zurück, wie er ratlos einen Augenblick an die Straßenecke gekommen war und ausgeschaut hatte, ob jemand herankäme – und begann bald in seiner sinnlosen Trübe von neuem die Fenster an Simoneits Hause abzulaufen mit Auge und Sinn – begann die Fenster zu zählen und ging dann weiter, wie wenn er etwas suchen müßte, mit Blicken, die auf den Erdboden sich hefteten, und war wie einer, der sich eine beliebige Beschäftigung suchen mußte, um nicht seine ganze Seele zu zersprengen. So kam er tändelnd mit den Ritzen des Trottoirs, die er fast sorgfältig, eine um die andere betrat und zählte, wieder in die Nähe seines Hauses.

Es war gegen vier und die Nacht stumm und kalt. Da hörte er ganz fern Tritte schallen. Tritte! Es mußte eine eilige Person sein. Eine Frauensperson. Wie er es erkannte, wußte man nicht. Es war noch ewig weit. Aber der kleine Huckige richtete sich auf, wie wenn er's am Hauche spürte wie ein Jagdhund – und dann duckte er sich wieder, als wenn er es an der Erschütterung des Bodens fühlen könnte. Er war sofort in sinnloser Erregung. Er lauerte, als wenn es Tod und Leben gälte, zu erkennen, wer es wäre? Es kam näher. Er duckte sich noch einmal und sprang ins Haus. Er wollte zuerst auf den Treppen bleiben und sie erwürgen. »Nein, nein.«

Denn das Fieber war so stark, daß er sich nicht in der Ecke drin halten konnte. Er hastete mit Schritten wie eine Spinne empor, mit seinen langen Beinen zwei Stufen nehmend, und so leise, daß man fast nichts davon hören konnte. Und er stand oben. Obgleich ihm auch in dem Vorzimmer, wo alles so dunkel war, der Gedanke kam: »Hier bleiben – erwürgen – zerbrechen – erdrosseln«, so hielt es ihn auch hier nicht. Die Herzschläge schienen ihn fast zu treffen wie Rutenhiebe, daß er weiter in sein Zimmer schlich – auch diesmal war alles still – und ohne rechten Grund sich zu entkleiden anfing. Es war stumme Nacht. Seine Taschenuhr tickte laut auf dem Tische – er lauschte nach der Straße nieder, wo nun die Tritte Mathildes deutlich klangen, die die Tür öffnete und die Treppen lässig und laut emporkam. Er schlüpfte ins Bett, er tat, als schliefe er, als sie eintrat. Er wagte nun nichts. Er sah sie nur heimlich an – durch geschlossene Lider. Wie sie arglos das Licht zu entzünden begann und sich wie im Traume noch auskleidete. Das Kränzel war ihr vom Kopfe gefallen. Das Haar war zerwühlt. Sie sah aus hohlen Augen und warf einen Haßblick ihm zu. Sonst hatte sie kaum gesehen, ob er daheim war. Als wenn sie noch immer ganz allein wäre mit sich. Und sie legte ihr Mieder ab, daß sie bloß dastand und die Schultern und die Gestalt weiß leuchteten, und Saleck sie heimlich sah mit zerrissener Sucht im Blute und nichts wagte, wie sie von neuem ihn anstarrte, vor sich hinschaute, die Röcke fallen ließ und unter die Kissen sich barg – nein – noch einmal wieder aufsprang und im Hemde ans Fenster trat und hinausblickte und schauerte. Und Saleck nahm sich wieder vor, daß er ihr alles vergeben wollte – daß er nicht reden wollte –, daß er alles vergessen wollte, nur wenn sie jetzt zur Besinnung käme; während er sie noch immer heimlich wie ein Schlafender ansah, lange starrte, bis sie stumm und starr und zerrissen selbst im Blick, und doch kühn und unbarmherzig zum Lichte an den Tisch kam, völlig versunken daran putzte, vor sich in die Flamme sah, sie versunken löschte, auch wieder ganz erstarrt im Dunkel der Nacht dastand und nicht wußte, was in ihr vorging, lässig und zögernd ins Bett kroch – und endlich schwer in Schlaf und unruhiges, tolles, ratloses Träumen einsank.


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