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Weihnachten kam heran. Die Stadt belebte sich.
Leute aus der Provinz kamen ihre Einkäufe machen, und die Läden standen voll Menschen. In Theater und Zirkus strömten sie, und überall sah man die Heinke-Marta, die es sich nicht nehmen ließ, herumzubummeln, wenn der Feierabend heran war. An allen Schaufenstern stand sie; und wie nun gar am Markte die Buden sich aufscharten mit Leckereien und dampfenden Wurstkesseln, daß es nach Fett und Rauch roch, und wie sie die Fischbuden sah und Männer, die in lärmenden Zügen die Menge durchschreitend, im Takte Waldteufel lustig drehten und lachten – da war sie gar nicht zu halten. Alles lockte sie. An jedem Schaufenster, wo Kleiderstoffe lagen, wünschte sie für sich und spann ihre Gestalt in die schönen, bleichen oder bunten Gespinste hinein, bespiegelte sich am Tage in jeder Scheibe, freute sich am Wachsen ihrer zarten Formen, und daß sie so weich und lockend aussah, und malte sich ihre Augenwimpern mit dunklen Farben. So war sie fast immer auf ihren Gängen. Auch die Toni war dabei. Die mit ihren lustigen, frechen Mienen, die kannte nichts davon, erst groß tragisch zu tun – die nahm es, wie es kam und gab sich, wie sie war. Das gefiel manchem, der mit ihr am Arme dann abging, daß sie auch Sonntags in guten Kleidern laufen konnte, an den Wurstbuden stand und immer Geld hatte. Und die beiden trollten jetzt aus der Fabrik, Arm in Arm gefaßt, leichtfertig zu Abenteuern. Nun standen sie vor einem dampfenden Kessel am Markte, als eine Schar Studenten, alle in bunten Mützen und die Stöckchen hoch, den Takt schlagend, vorbeischritten, und Marta stellte sich ganz in den Weg wie zufällig, daß sie alle nach ihr griffen und sie aus einem Arm lachend in den andern ging – und Toni auch lachte, und der dicke Schlächter, der in der weißen Schürze dastand im Licht der Budenlaterne, auch lachte, während die Schlächtersfrau in der Bude gleichmütig nach den Semmeln griff, um sie den Käufern hinzureichen.
»Kommt mit, Mädels!« rief einer der Studenten.
Das gefiel Toni – und Marta war auch nicht blöde. Sie liefen hinterdrein. Sie lachten mit, wenn die jungen Leute ihre Witze machten, wenn sie die Ladeninhaber ärgerten, und wenn sie wie eine drängende Rotte manchen Käufer beiseiteschoben, der dann raisonnierte mit dem Budenwächter um die Wette. So liefen sie. Die Polizisten und Schutzleute, wo sie vorbeikamen, machten mahnende Gesichter und sagten wohl auch: »Etwas ruhiger, meine Herren!«
Es war Weihnachtsmarkt. Einige Lust mußten sie passieren lassen, wenn es nicht gar zu toll wurde.
Unten am Ausgang des Marktes hielt ein junger Schutzmann, der Toni und Marta schon kannte und sie längst beobachtete. Wie sie dort hineinbogen, von einigen Studenten gefolgt, die nun den Kreis der Kameraden verlassen hatten, sah er den Mädchen lange nach. Toni und Marta – denn Toni war schon eine Erfahrene, die sich zu hüten wußte – sagten gar nichts, wie sie an ihm vorbeikamen, weil Toni die andere am Arme zum Zeichen gezwickt hatte, bis sie vorbei wären. Sie blickten noch einmal scheu nach ihm, ehe sie wieder lustig und keck wurden.
»Oh – du – nimm dich vur a'm sulchen ei Obacht,« sagte Toni, »der brengt eenen ei's Luch!«
Dann trennten sie sich, und jede fand ihren Galan.
Marta war jetzt schüchtern. Es war in einer alten, einsamen Straße schon im Arbeiterviertel, das außer Maßen leer schien, und sie waren bald in Häusern verschwunden.
An diesem Abend kam Marta gar nicht heim.
Erst am andern Mittag erschien sie. Sie war elend und zerknirscht.
Mathilde weinte mit ihr, wie sie alles hörte.
Man hatte sie auf die Wache gebracht, wie sie sich später abends wieder auf dem Markte lustig gemacht, und angetrunken, wie sie gewesen, dem Schutzmann an der Ecke in die Arme lief. Mathilde wußte nicht, was sie tun sollte. Sie lief an dem Tage zu Simoneit und fragte ihn. Sie erzählte ihm, daß das Mädel unter Kontrolle gekommen – und in polizeilicher Aufsicht wäre. Simoneit sagte, sie müßte aufs Polizeibureau. Mathilde tat alles. Sie lief hin und saß in dem Vorraum vor dem großen Holzgitter. Sie saß und sah bittend zu den schreibenden Schutzleuten hinüber, die sich nach ihr kaum umsahen.
Aber sie saß ewig, und niemand rührte sich. Alle schienen zu tun zu haben. Endlich trat sie scheu näher.
»Was is denn los?« sagte einer barsch und unfreundlich.
»Ach Jeses, – ich kumme wegen 'ner Schwester.«
»Wir können doch Ihre Schwester nicht kennen, wenn wir Sie nicht kennen«, sagte einer grob und lachend.
»Ich bin die Mathilde Ferian, Fabrikarbeiterin.«
»Nu ja, na also, was denn noch – und wer ist denn nun die Schwester?«
»Die Schwester heißt Marta Heintke.«
»Heintke – Sie heißen doch Ferian.« Mathilde wurde verlegen, wie sie noch nie gewesen war.
»Die Mutter hatte zuerst mich –« sagte sie leise.
»Was is denn die Mutter?« schrie sie der Beamte an.
»Die hat 'n Heintke geheiratet«, sagte Mathilde still.
»Und wo denn, sind Sie von hier?«
»Nein, aus 'm Gebirge.«
»Was ist denn der Heintke?«
»Er ist tot«, sagte sie. Es war ihr wohl, daß das so abging.
»Was ist denn nun mit der Schwester?« schnauzte einer, der dabeistand.
»'S is de Nacht auf de Polizei gekommen.«
»Nun also – das wird wohl 'n Grund gehabt haben!«
»Mein Himmel – das Mädel is jung«, sagte Mathilde bittend.
»Und treibt's desto schlimmer«, lachte einer der hinteren Männer, ein junger Schutzmann. »Ich hab sie schon lange beobachtet.«
»Ich wohn mit ihr.«
»Ja, ja, das kennt man schon.«
»Ich hab sie immer in Obacht genommen«, klagte nun Mathilde und weinte.
»Mit Dreien geht se ab«, sagte der Junge.
»Da können wir auch nicht helfen«, sagte einer mitleidig, der sah, daß es Mathilde naheging, und sie traurig und anständig war.
»Ja nun – was denken Sie, was wir sollen?« sagte der Junge.
»Sie ist eine Arbeiterin und verdient sich ihr Unterkommen. Wenn sie noch einmal von der Liste gestrichen würde«, sagte Mathilde resolut.
»Ja, ja – was denken Sie denn? Das Gesetz geht seinen Gang. Wir hätten viel zu tun, wenn das immer so ginge – nun ist sie ertappt – und muß die Folgen tragen.«
»Sie ist erst Sechzehn«, sagte Mathilde demütig und stark.
»Wenn sie sich ein halbes Jahr hält und nichts weiter vorkäme – dann mögen Sie wieder herkommen –« sagte der Mitleidige. »Das ist ja traurig.«
Mathilde stand noch immer.
»Ich will mich ja verbürgen für sie«, sagte Mathilde ganz eindringlich und kindlich.
»Hahaha«, lachte einer. »Wenn das so ginge! Das geht nicht. Gehn Sie nur ruhig nach Hause. Wenn nichts wieder vorkommt, dann ist es ja gut. Dann –«
Mathilde zögerte, langsamen Schrittes zur Türe sich drückend und sinnend.
»Nun ja,« sagte sie, – »ach mein Gott! Wenn's eben so ist – da kann ich weiter nischt tun.«
»Nein, nein, Sie können nichts tun«, bestätigte eine harte, gleichgültige Stimme.
Und Mathilde war draußen, und es kamen immer noch Gedanken auf. Sie dachte, sie müßte es ihnen sagen – daß sie alleine gar nicht Schuld ist – die andern auch, die sie an sich reißen; und sie versuchte, stehen zu bleiben und ging die Treppe noch einmal, als einer der Schutzleute heraustrat.
»Haben Sie es nicht gehört? Es ist nichts weiter zu machen«, sagte er noch im barschen Tone. »Sie ist angemerkt, und Sie müssen nun auf der Hut sein. Hängen Sie denn so an ihr?« sagte er dann, wie sie allein durch den Korridor gingen, weil er jetzt Mathilde in ihrer Kraft und Reinlichkeit und mit dem Zuge der Trauer eines Weibes sah, und wurde trotz seiner harten Manier ganz freundlich.
»Ach Gott,« sagte sie plötzlich – »nu Jeses – se hat nich alleene Schuld – auch die andern –« daß der Polizeidiener noch vollends luftig und weich wurde, wie sie zur Treppe hinunterschritten.
»Nu freilich,« sagte er lachend, »das is ja natürlich. Sie hat sich halt mal 'ne Lust gemacht, 's is halt e lustiges Ding. Wer wär denn nicht mal leichtsinnig – nicht wahr, Fräulein?« – daß Mathilde ihn nicht ansah, und dann eilig am Hause sich verabschiedete, und ihr Shawltuch um die Schultern hüllend, heimeilte.