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Wenn Mathilde früher in das Fabriktor einging, machte es einen Eindruck, als wenn eine käme, eilfertig und scheu, die sich danach sehnte, Arbeit zu tun, und die sich nicht umsah – wie eine Schwester, die zu einem Kranken eilt. Nicht nur rasch und achtlos auf Menschen, die sie sahen, und die Mannesblicke, die ihr folgten, wenn sie stark und frisch und in der vollen Jugend, die in ihr blühte, einherschritt, auch ein wenig bewegt im Grunde ihrer hellen Mädchenaugen, unsichtbar fast und doch fühlbar, daß jeder, den sie zufällig ansah, sich froh fühlte, wie wenn er in einen Bachgrund lange hineingesehen, in dem leuchtende Wassergräser und Sonnenstrahlen leise zittern. Sie war eine, die aus der Tiefe scheinlos lebte; lebte und arbeitete und nicht achtete, was man ihr darbot, so ohne Anspruch und ohne Schein und so ganz nur hingegeben, und jung und stark aus sich. Nun waren Jahre hin, Jahre in Güte und Jahre in Leidenschaft – Schmerzen und Verachtung. Alles hatte ihre lockende, frohe Jugend hingenommen. Kummer und nagendes Herzeleid hatten ihre einsame Seele ausgefüllt bis zum Rande, ehe die Flut sich gar langsam verlief.
Nun waren andere Zeiten. Und Mathilde kam wie immer. Das war nun ihre Lebensgewohnheit. Sie war eine treue Arbeiterin. Sie war eine, die man kannte, und die doch blieb, was sie war. Eine, die das Leben ergriffen, und die doch stand, aufrecht und sicher und die nicht elend und kümmerlich hinkroch. Und eine Junge noch immer. Ihr Aussehen war nicht groß verändert. Nur eine Klarheit lag über ihr. Die Jugend, die in ihr war, war kein Traum. Kraft und Gewißheit nur. Und sie fürchtete sich nicht, nirgends. Auch die Arbeitsmeister und der Portier wechselten mit ihr Worte, die wenig befehlend waren. Nicht viel davon. Eher ein Zug von Gemeinsamkeit des Schicksals lag in solchen Worten. Und es kam vor, daß Mathilde jetzt im Kreise anderer langsam und gelassen schreitend, das Tor verließ. Sie ging ernst und ruhig. Sie sprach wenig, aber ohne Scheu. Auch mit Simoneit kam sie, wenn es sich zufällig traf, und sie gingen ein Stück zusammen und plauderten. Es störte sie nicht. Ohne Anspruch verging ihr Leben in der stillen Arbeit, die sie jetzt gewohnt war seit fast neun Jahren, und die sie unterhielt. Und sie kam und ging fleißig und ohne Launen und lebte für sich. Nun ihr Kind tot war, das sie still für sich geliebt, ohne daß jemand es groß gesehen und erfahren, war sie ärmer und stiller nur erschienen, ohne ein Kennzeichen sonst, als daß in den hellen Augen Trauer lag und Härte neu emporwuchs, die grausam blicken konnte, wenn jemand ihrer Seele Ruhe trüben wollte. Nur der junge Mann, der ihr ganz unbegreiflich weich und schön erschien, machte sie im Grunde ganz kleinlaut. Er war gar nicht wie jemand, den sie kannte. Eine seltsame Tiefe trug er, ein Leiden, ohne daß er es erfahren – »wie von lange, wie aus einem anderen Leben«, meinte sie für sich. Sie war scheu, wenn sie an ihn dachte. Niemals hatte sie sich einen Menschen so vorgestellt. Im Wesen bestimmt und klar, im Grunde gütig, wie ein Sonnenstrahl, oder ein klarer Waldschatten – und manchmal plötzlich herauspolternd, wie wenn ein Bachwasser arg schäumend und quirlend in dem einsamen Walde hörbar wird, und dann unaufhaltsam in seiner Menschenverachtung und Gottesverachtung, wenn er sich gesehnt hatte nach dem Schönsten, und er in Staub sank. Die Bilder kamen ihr nun ein, weil es Sonnabend war, und es ihr wohl tat, mit Dominick an schönen Sonntagen hinauszuwandern und am Flusse unter Weiden oder in den feuchten Eichwäldern zuzubringen. Aber freilich, Mathilde erfüllte schon ein stummer Kummer. Dominick war jetzt seltener zu Haus, wenn sie einmal noch ein Wort hören wollte. Sie empfand es oft sehnsüchtig, an seiner Tür anzuklopfen. Sein Licht in der Nacht brannte selten. Er war die Nächte nicht daheim. Es kümmerte sie. Sie erfuhr, daß er in der kleinen Weiberschenke jetzt ein ständiger Gast war. Und Sonntags, wenn sie ihn am Morgen besuchen kam, war er oft fast unfreundlich und ganz unbeweglich und hart, wenn sie ihm Erspartes hinhielt. Und er nahm und nahm es doch. Und sie wußte nicht, was sie zu ihm zog. Es war in ihr ein Wunsch, als wenn sie ihn stützen müßte. Diesen jungen, innerlich reichen Mann, der aufleuchten konnte, wie ein ganzer Frühling, und singen und klingen, daß sie sich vergaß. Und der einsank ebenso schnell und so verbittert und unzugänglich, wie eine reiche Flamme in graue, ätzende Asche; daß sie dann lange sich mühen mußte, ihn endlich mit sich hinauszuführen in freie Luft, und hin, wo Drosseln helle Weisen aus Eichenkronen niederstreuen – wohin immer – über Steine oder über Blumen, oder über eine Menschenseele, die es wie eine ewige Verheißung hinnimmt und gar eine Weile froh emporblickt, woher es eigentlich komme. In Mathilde war nie soviel heimlicher Stolz, nie soviel heimlicher Kummer. Wenn sie so saßen, dachte sie fast, daß sie Dominicks Mutter wäre. Mein Gott: Diese Mathilde; ein so kindliches, loses Ding konnte sie noch sein. Sie waren fast gleich alt. Wenn sie am Flusse saßen, machte sie Blumenkränze und schmückte einen Menschen, der sie mit Augen und Liebe nicht wie ein Sohn ansah. Und es war ihr, als wenn sie ein Denkmal schmückte, so andächtig stand sie heimlich vor ihm, weil aus ihm Hohes ausging, was sie nie gekannt, und weil sie ihn nicht begriff und ihn liebte. Eine Ehrfurcht lag in ihr gegen ihn. Es ist in mancher Seele ein Leben wie im Himmel, und Wolken in der Höhe verdunkeln es und lassen es erscheinen nur wie ein steiniges Erdenfeld. Aus aller Höhe kam Mathilde Ehrfurcht; daß sie ihn liebte, wie eine Mutter ihn nicht geliebt hatte, und wie eine Schwester so weich und kindlich – und voll heimlicher Sorge ihn ansah und ihn schmückte – nur daß sie ihn nicht begriff, aus dem nun oft Hohn und Verachtung ärger und wilder hervorbrach, als je.
Leute, Sonntagsspaziergänger, kamen durch die Felder. Es war Sommer, Bienen summten, die Wiesen waren längst gemäht und niedrig. Die Weizenfelder reiften golden. In Rauch und Dämmer lag die Großstadt mit Türmen und Dächern schemenhaft versunken in der Ferne. Lerchen wogten empor. Am Flußufer saßen Mathilde und Dominick. Eine Schar Jungen, Schüler, kamen plaudernd. Noch manche. Eine Familie kam, der Mann schob einen Kinderwagen. Alle sahen zu ihnen hinüber. Allen schien ein seltsames Gefühl zu kommen, weil Dominick düster vor sich hinsah und Mathilde kindlich in Blumen watete. Sie schienen jedem seltsam. Sie war ein rechtes Landkind, hatte sich sozusagen fein gemacht, wie ein Bauernmädchen es liebt, kräftig und ein wenig frauenhaft. Außer dem Blick, der einem losen Ausbund immer wieder gleichen wollte. Und er sah aus, als wenn nicht viel von ihm zu hoffen wäre. Ein wenig schmächtig und dürftig, und wenn er in die Wellen des Flusses sah, in dem Dampfer hinzogen, lag kein Glück in ihm, nur ein Nagen und ein Gram, den auch sein Lachen nicht forttrieb. »Daß das die Welt ist«, sagte er einmal in einer solchen Stunde und starrte ewig hinein, daß kein Wort aus ihr Bewegung in ihn bringen konnte. »Diese Welt, Sie müssen sie einmal ganz lange anschauen, so ganz gedankenlos, nur immer ganz Auge, so eindringen ohne einen Sinn – bis sie Ihnen ganz unbekannt, ganz ungedeutet, ganz nur sie selbst erscheint – was ist sie?« sann er immer noch, und hielt seinen Kopf lange zur Seite. »Das verstehe ich nich«, sagte Mathilde und versuchte es, ihm nachzutun. Aber ihrem Auge kam keine Veränderung. Sie sah noch dieselbe Welt, die sie kannte und es wollte sich nichts Anderes enthüllen. »Was sehen Sie nur?« sagte sie kindlich. Und er beugte sich seitlich und sagte nichts. Die Wellen flinkerten. Drossellaute fielen aus der Höhe, ein paar Krähen flohen schwankend kühn im Luftkreis und senkten ihren Flug und streiften fast die Wellen.
»Ja – und diese Vögel! Das fliegt. Das hat eine Seele und fliegt mit den Wolken! Und lebt in reiner Luft«, sagte er.
»Das sind Krähen«, sagte sie harmlos.
»Ach, Mathilde,« sagte er, »es ist nicht zu begreifen! Oh – gar nicht, es ist hoffnungslos.« –
»Warum sind Sie so?« fragte sie erstaunt.
»Warum bin ich ein Elender?« sagte er traurig.
»Mein Gott«, sagte sie ganz erschrocken, weil er auch heute wieder gar nicht zu erwecken war. Aber Dominick sah vergrämt aus, wie sie ihn nie gesehen hatte.
»Ich bin ein Elender,« sagte er immer wieder, nur noch trauriger, »und habe meine Hoffnung vergebens gestellt. Es kann mir niemand in die Luft helfen«, lachte er. »Es ist alles dunkel. Es ist alles nur ein Gaukelspiel.«
»Daß Sie sich nie freuen können«, sagte sie vorwurfsvoll.
»s' ist ein verfluchtes Dasein, innen und außen,« sagte er, »und alles reißt uns nieder, wenn wir auch in die Sonne wollten. – Es ist ein Gaukelspiel – und wir würden auch verbrennen, dort wie hier.«
Mathilde überkam eine stille Sorge, wie sie ihn ansah, aber ihn kümmerte es nicht.
»Ein jämmerliches Leben, das mich jetzt festhält mit Geierkrallen«, sagt er, »daß man gar nicht rechts noch links blickt!«
»Warum sagen Sie nur das«, sagte Mathilde und suchte ihn an der Hand zu fassen.
»Nun, das könnten Sie doch wissen«, sagte er plötzlich. »Wissen Sie denn nicht, was ich mir einmal eingebildet hatte, was ich finden würde? Denken Sie – ich dachte – ich würde ein Bänkelsänger auf einem Jahrmarkt werden, oder ein armer Invalide, der mit der Leier geht? Zum Teufel, ein Sehender bin ich – ich sehe alles – ich habe Gefühl und Lebensdrang – und renne von allen Furien und Leidenschaften getrieben, einfach in den Untergang.«
»Um Gottes willen«, sagte Mathilde. »Nein, wie sehen Sie aus, was ist Ihnen?«
»Hahaha, Dummheiten – nichts – einfach herunter bin ich – müde bin ich, weil ich die ganze Woche lumpe und pumpe und überhaupt nicht mehr existieren könnte, wenn Sie mir nicht beistünden.«
»Gehen Sie doch nicht mehr in die Kneipe«, sagte Mathilde.
Dominick sah ihre gramvollen Augen und ermannte sich, daß es auf einmal ganz gütig aufleuchtete in ihm.
»Gut,« sagte er – »nein, ich gehe nicht – ich gehe nicht mehr. Es muß ein Ende haben. Ich könnte noch zurück. Ich könnte – wenn es sich lohnte«, und er sah sie lange rätselhaft an.
»Wie denn?« sagte sie.
»Wollen Sie es, Mathilde? – Sie sind wie eine Mutter zu mir,« sagte er zögernd – und dann verächtlich: »das ist eben auch nichts« – und er schwieg, und beide schwiegen.
»Gut, Mathilde,« sagte er wieder erwachend, »ich will mich raffen – ich will nicht mehr hin – ich will nur wieder meine Stunden geben. Und wenn ich noch einmal alles bezahle« – er blickte nieder.
»Sie wissen es, daß ich's Ihnen gerne gebe, weil wir Freunde sind«, sagte sie schüchtern, um ihn nicht zu treffen.
»Gut – also Freunde – hahaha – ja – Sie geben es mir. Ich habe Ihr sauer Verdientes vergeudet. Nun zahle ich. Und Sie retten mich, weil wir Freunde sind, hahaha –« aber er schwieg sogleich.
Und eine fremde Heiterkeit kam, daß es ganz still wurde, und sie neben einander saßen, sie so stumm wie er, und hörten, daß über ihnen ein Zug Stare den Eichenkronen zuflog, wo im Abendsonnenschein schon andere einen hellen Lärm machten.
»Ich werde nicht mehr hingehen,« sagte er, »verlassen Sie sich, Mathilde.«
»Max,« – sagte Mathilde – und sah ihn dankbar an.
Aber unterwegs auf dem Heimwege erfüllte ihn oft tiefes Sinnen, und er sprach Verse, die ihr unbegreiflich klangen:
Im Lebenskrise, heimlich im Licht,
Wehen Gestalten und hauchen Worte.
Du ahnst sie kaum. Du siehst sie nicht.
Sie wehen aus heimlichem Orte.
Dort sind sie begraben im steinernen Zwang
Und wollen vom Fluche sich ringen –:
Die Seele füllet aufjauchzender Klang,
Wenn die steinernen Grüfte springen.
Und Menschen fühlen gewaltiges Wehn
Und möchten sie bannen zum Glücke.
Doch wenn sie ihr eisstarres Angesicht sehn,
Da beben sie schauernt zurück«.
Denn losgebunden in Lebensglut
Wie Feuerflammen hinstieben,
So hauchen sie Feuer ins Menschenblut,
Verzehren im Hassen und Liebe».
»O mein Gott«, sagte sie seufzend, wie sie neben ihm schritt, sie dachte plötzlich an Hallmann und ihr Gesicht war nicht mehr heiter.