Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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33

Die trauernde Mathilde bei Dominick

Dominick hatte einige Male versucht, Mathilde zu finden. Nun kam er eines Sonnabends, wie sie aus der Arbeit heim war, und fand sie endlich in dem Stübchen mit den Andern. Toni war ausgelassen. Sie stand im Hemde da und wusch sich, und es störte sie nicht, daß einer kam. Sie machte zum Schein nur einiges Geschrei und Gelächter und blieb hinter der Schranktür, die sie ein wenig gedreht hatte, ohne Gêne stehen, um ihre Toilette langsam zu vollenden. Am Tische saß, die Haare über Kopf und Gesicht hängend und sie trocknend, ein älteres Frauenzimmer, das zigeunerisch und dunkel aussah und sich gänzlich gleichgültig gebärdete, sich unter ihren Strähnen nur flüchtig den Studenten ansah, wie er eintrat.

»Ist Fräulein Mathilde zu Haus?« fragte er fast schüchtern.

»Mathilde«, rief Toni laut in die Nebenkammer.

»Was is denn los?« sagte eine gleichgültige Stimme.

»'S will dich eener sprechen.«

»Wer denn, ich ha' zu tun.«

»Dominick, der Student Dominick«, sagte Dominick fast leise, weil ihm die Umgebung unangenehm dünkte.

»Ach, Herr Dominick«, sagte nun Mathilde gütig, ohne hereinzukommen. »Nein, ach Gott, die Arbeit is eben erst zu Ende.«

»Komme ich ungelegen?« fragte Dominick noch immer leise, und ganz fein, daß sich die Schwarze unter ihren Haarsträhnen noch einmal nach ihm umblickte, und Toni laut lachte und frech sagte:

»Gihn Se ock zu ihr.« »Das is aber a Feiner, Mathilde«, schrie sie Mathilde zu.

»Halt doch dei' freches Maul«, sagte Mathilde ganz gelassen, was sich Toni auch ruhig gefallen ließ.

Dominick war unschlüssig.

»Ich komme gleich einen Augenblick hinüber,« sagte Mathilde, »wenn Sie nicht warten wollen.« Dominick ging zögernd zur Tür zurück.

»Werden Sie kommen? Mein Gott! Wo waren Sie denn immer?« sagte er, noch ganz von der Umgebung zaudernd und stumm gemacht.

»Wissen Sie das ni?« rief Toni, »se hot doch ihr Kind verloren.«

»Halt doch dei' Maul, du freches Tier«, sagte Mathilde, einen Augenblick aufgebracht.

»Nu is etwa ni wahr«, lachte Toni.

»O Gott! Gott!« seufzte Mathildes Stimme.

»Mein Gott«, sagte unversehens auch Dominick, indem er noch immer in der Türe stand und nach der Kammer horchte. Aber Mathilde kam nicht vor.

»Also Sie kommen«, sagte er rasch mit einem ganz seltsamen, fast erschrockenen Ton und verschwand.

Er war in ganz plötzlicher Aufregung. Ja – wenn man ein Gefühl so nennen will, was unerwartet seine augenblicklichen Wünsche ganz auslöschte und ihn mit einer Enttäuschung erfüllte, die ihn ruhelos und bitter machte.

»Also ein Kind hat sie begraben?« dachte er.

Er lachte heimlich, weil er sich so lächerlich vorkam. Er dachte nur an sich, nur daran, daß es ihn immer zu Mathilde hinzog, und Mathilde gleichgültig gütig zu ihm war und immer tat wie eine Unschuldige. Er dachte, wenn sie gar schon ein Kind gehabt hat, diese Trotzige, die auch so kindlich und unerfahren tat – , warum spielte sie mit mir? Er hatte es auch gelesen, als wenn so eine etwas ganz anderes dann wäre. Als wenn sie damit in einen Pfuhl einsinken müßte. Als wenn eine solche keine Mutter wäre, wie jede andere. Es war in ihm ein gewisser Aufruhr. Er lachte, wie er es manchmal tat, wenn er in der verachtenden Stimmung war, wenn er fand, daß man das Leben wegwerfen oder leben könnte, ganz gleichgültig. Außerdem war er nun auch gereifter. Die eine Nacht vor Wochen und dann manchmal noch. »Die Anregungen kommen innen und außen in der Gotteswelt,« wie er sagte; »man kann sich drehen und wenden, wohin man will. Der Weg ist immer gleich. Sie kommen – und greifen einen, ob man nun will, oder nicht. Und ist man jung und arm, so kann es nicht immer sauber sein.« So dachte er ungefähr, wie er jetzt in seine Stube zurückgegangen, und Mathilde zu ihm eintrat.

»Sie sollten nicht zu mir kommen,« sagte sie nur ernst, »es sind gemeine Mädchen.«

Dominick sah sie an. Es lag Kummer in ihrem Ausdruck.

»Wie sehen Sie aus, Mathilde«, sagte er beinahe erschrocken und sah in ihr kräftiges Gesicht, dessen Augenhöhlen tiefer geworden waren, und worin die Augensterne wie Tränen glänzten.

»Mein Gott, wie sehen Sie aus!«

»'S is wahr, was Toni sagte,« gab Mathilde hinzu, »mein Kind is tot.«

»Habe ich denn davon gewußt?« sagte er fast erzürnt. Aber sein Zorn schwand, weil sich die Trauer dieser Augen, die zu ihm flehten, auch um seine Seele legen wollte.

»Verflucht,« sagte er plötzlich, als wenn ihm eine Haßwelle aufstiege, die ihn leuchten machte vor Strenge und Verachtung – »wie Sie zugerichtet aussehen! Was so in einigen Tagen aus einem Menschen werden kann! Ein Kind – Sie hatten ein Kind – nun zum Beispiel sagen Sie mir, Sie hatten von wem ein Kind?« Aber er verbesserte sich sogleich – »i, es ist ja gänzlich gleichgültig von wem, überall geht die Welt neu auf. Dazu müssen wir herhalten ohne Unterschied und bekommen unsere Zeichen eingedrückt in unsere Mienen. Sagen Sie einmal, Mathilde, finden Sie mich verändert? Wie? Sehen Sie einmal mich an!« Er lachte plötzlich. – »Noch nicht, nicht wahr? Ich sehe noch immer aus, wie einer, der alles glaubt und alles liebt und ein gutes, friedsames Leben leben kann. Zum Teufel, so ein Leben auch, hahaha, das wäre nicht die Welt, in der ich lebe, wenn ich nicht einen Gang ginge mit Lust und Schmerzen, hahaha –! Sie sehen mich streng an – stimmen Sie nicht ein?«

»'S klingt hart,« sagte Mathilde – »ich mache mir keine Gedanken, Herr Dominick. Wenn Trauer kommt, trauere ich«, sagte sie vor sich hin. –

»Nein,« sagte er, »ein Vieh läßt sich treten. Aber nicht, wenn er ein Mensch ist. Wer hat Ihnen nun solche hohle Augen gemacht? Sie sehen aus wie eine Trauerfrau – es macht mich ganz elend und ist wie ein Vorwurf.«

»Sie sind ein komischer Mann«, sagte Mathilde ganz erstaunt, und lachte ein wenig.

»'S ist ja gänzlich lächerlich – trauern – trauern, um was denn? Es ist ja immer dasselbe? 's kommt ja alles immer wieder – hahaha!« Aber er wurde ernst und sah sie gleich danach verzweifelt und fragend an, daß sie niederblickte und lange nicht zu ihm aufsah. Er wußte selbst nicht. Er liebte sie und in seiner Verachtung sprach einer, der den Lebensmut wecken wollte, und der Lebensmut lag als Trauer verkleidet im Grunde ihrer Seele und spann dort um das einmal neue Lebendige, das ihr zur Hoffnung wachsen sollte und versunken war. Und sie sah aus, als wenn sie in die Ferne blickte, und fühlte scheu und jungfräulich den Grund seiner Seele leuchten in Glutfarben. Und war eine Mutter, ruhig und groß und streng, die nicht wagte, nach neuem Leben den Blick zu erheben. Dominick sah sie lange an, verstummt und grabend.

»Mathilde«, sagte er hastig-gütig, wie er sich besann.

»O Gott«, sagte sie und richtete sich empor und sah, daß er die Bibel aufgeschlagen und Geschriebenes vor sich auf dem Tische hatte. »Was haben Sie da?« sagte sie leise und harmlos.

»Hahaha, wollen Sie es sehen? – Ich mache auch Verse – soll ich sie Ihnen lesen? Verfluchte Verse manchmal übers Leben – manchmal wird der Groll arg in mir – und manchmal, da lieb ich das Leben so außer Maßen und sehne mich nach allem.«

Mathilde sagte kein Wort.

»Daß in einem wie ich, solch ein Brunnen quillt«, sagte er eifrig. »Sie haben doch schon Verse gehört?« Es machte ihn frei, daß er davon reden konnte.

Mathilde mußte lachen. Verse so ohne weiteres – das wußte sie gar nicht. Sie wurde plötzlich ganz verlegen, daß sie vor einem saß, der Verse machte. Sie hatte niemals im Leben darüber nachgedacht, daß man solche Verse machen könnte. Sie dachte, sie stünden im Gesangbuch oder so. Nun kam es ihr wirklich komisch vor.

»Verse«, sagte sie und kam ganz aus der Trauer heraus.

»Nun stille mal, zum Beispiel sehen Sie – hören Sie – einen! da hab' ich an Ostern gedacht – eine ganze Reihe – es kam eine Hoffnung in mich. Ich dachte, daß wir immer leiden, elend, wie am Kreuze der – und da erfaßte es mich – und ich hab da Verse gemacht, die mich einen Augenblick trösteten.

»Lesen Sie es doch einmal«, sagte sie ganz schüchtern.

»Ostern ist doch jetzt bald – wissen Sie denn, was das ist? Ach – es ist ja im übrigen alles ganz gleich, was man so sagt und denkt darüber – hören Sie einmal, was ich sage! Ein Hymnus, eine Cantate! Ich habe einmal in der Schule eine Cantate mitsingen müssen – ja – bleiben Sie sitzen – nun hören Sie!«

Dominick las, leuchtenden Blickes, ganz hingenommen, ganz erfüllt, als wenn er sänge – ein Gesicht, jung und begeistert – als wenn er eben erwacht wäre. Mathilde sah ihn aus Dunkel heraus, wie sie stand und kannte ihn kaum – und er sah sie nicht, nur als wenn er Visionen hätte, in die Luft – es klang, daß sie ganz unbegreiflich erfüllt war und nicht recht wußte.

Atem aus Knospen, aus kaum geöffneten, zagen –
Reine Wunder bringen die Lüfte getragen
Durch die staunende Nacht.
Bäche murmeln in träumenden Ufern zu Tale,
Heimliche Stimmen schwellen mit einem Male:
»Ist der Erlöser erwacht?«
Engel tragen ihn auf durch die staunend« Nacht.

»Ein Hymnus, nicht?« schrie er leidenschaftlich. »Nun kommt eine Trauernde«; und er las:

Ratlos irrend und schauernd in bleichem Erregen,
Wo sie den lieben Herrn ins Grab gelegt,
Daß das Licht erlosch –
Wandelt Maria her auf nächtigen Wegen:
»Gärtner, wo habt Ihr ihn hingelegt?«
»Ach, das Grab ist leer und tot!
Und der Gärtner lächelt sanft und spricht:
»Weine nicht!
»Maria!«
Und der Liebereichen Wange färbt sich rot.

»Und die himmlischen und ewigen Stimmen kommen von neuem – begreifen Sie?« rief er:

Atem aus Knospen, aus kaum geöffneten, zagen –
Reine Wunder bringen die Lüfte getragen
Durch die staunende Nacht.
Bäche murmeln in träumenden Ufern zu Tale,
Heimliche Stimmen schwellen mit einem Male:
»Ist der Erlöser erwacht?«
Engel tragen ihn auf durch die staunende Nacht.

»Dunkel, schwer, unbeholfen, dumm, o «

Jünger, stumm ergebne, in nagendem Grame
Gehen zum Grabe
Und suchen den gütigen Herrn –
Weinen – zagen –
Erde und Himmel schweigen
Nah und fern –
Und es funkelt kein Stern.
»Ach! das Grab ist leer und tot!«
Plötzlich, wie wenn heimliche Feuer lohten
Über'm Grabe Männer in glänzenden Kleidern –:
»Engel!« Einer lächelt und spricht:
»Weinet nicht!
»Suchet nimmer den Lebendigen
»Unter Toten!«

»Da – da – da! Nun wie es schon aufwacht und lebt!«

Atem aus Knospe», aus kaum geöffneten, zagen
Reine Wunder bringen die Lüfte getragen. –
Durch die staunende Nacht
Treiben sie nieder von hellen, funkelnden Sternen,
Heimliche Chöre klingen aus weitenden Fernen:
»Ja! der Lebendige wacht.«
Engel singen es still durch die staunende Nacht.

»Und der Frühling, die Jugend, die Reinheit – alles, alles, woran man manchmal glauben kann –.« Er sah aus, wie ein Verklärter selber.

»Ostern!« – schweigende, reine Jungfrauschreiten –
Ihrer Augen heimliche Feuer glühn.
»Noch ist Nacht.« –
»Doch die Sterne scheinen.«
Tragen schimmernde Krüge zum Flusse hin.
Und die Sterne spiegeln in reiner Flut;
Morgenahnen geht durch junge Seelen;
Und am Himmel wächst die Morgenglut.
»Ostern« glänzt's aus den strahlend erwachenden Wellen!

»Ostern« springt's aus den Knospen. Am Uferrand
Stehen die Jungfraun, tauchen die schimmernden, hellen
Krüge bis zum Rand,
Wandeln ungesehen,
Sprengen selig – heilig
Aus den Osterkrügen
Mit der jungen Hand.

Dann las er und las zu Ende in hohen, verheißenden Lauten.

Blüten! – Blüten! die kaum geöffneten, zagen –
Ewige Wunder blühen und klingen und sagen:
Ja, der Lebendige wacht.« Bäche tosen in schäumenden Ufern zu Tale.
Tausend Stimmen jauchzen:
»Mit einem Male
»Schwanden Tod und Nacht!«
Wieder, wie wenn heilige Feuer lohten
Über Gräbern Männer in glänzenden Kleidern –:
»Engel!« Und ein Ewiger spricht:
»Weinet nicht!
»Suchet nimmer den Lebendigen
»Unter Toten!«

Mathilde hatte die Augen geschlossen und sah und hörte nichts als Gesang – aus Wölbungen – aus Himmelsräumen – sie war entzückt – sie war gehoben und saß lange.

Dominick lachte vor sich hin und sah in die Ferne.

»Und man ist doch ein elendes Vieh!« sagte er nach einer Weile.

Mathilde hörte nicht, sie sah ihn groß und erstaunt an, ganz feierlich und sann neu:

»Oh,« sagte sie, »man möchte nicht erwachen.« Es war totenstumm – lange. Mathilde erhob sich leise.

»Bleiben Sie doch«, sagte er dumpf.

»Es ist besser, wenn ich gehe«, sagte sie, als sie seinen Blick fühlte. Denn Dominick sah sie erstaunt und scheu an, weil sie wie eine Mutter aussah, die trauerte und in der eine Verheißung wach war. – Er sah ihr nach mit brennenden Augen – er liebte sie.


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