Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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15

Wie Mathilde zum zweiten Male dem aus der Heimat begegnet

Saleck hatte das Kind zu guten Leuten in Pflege gebracht, und Mathilde und er kamen immer nach ihm sehen, erst taglich, dann Mathilde seltener und auf kürzere und kürzere Zeit. Mathilde mußte sich die Minuten abstehlen. Sie ging wieder in die Fabrik, Saleck mit ihr, Seite an Seite. Aber sie mußte sich nun ganz vor ihm in acht nehmen, so in Unrast war er und so gespannt und eifersüchtig auf jeden Blick, den ihr die Männer zuwarfen, und den sie wohl gar achtlos erwidert hatte. Es gab manchmal Szenen. Wenn er damit anfing, lachte sie über ihn, und fand, daß es drückend war, wenn er sie immer wie ein Schutzmann bei jeder Miene, die ihm nicht paßte, malträtieren und auszanken wollte. Sie sagte, er wäre dumm und langweilig. Und zudem mochte sie gar nicht, daß sie Schritt um Schritt beobachtet war: »Das macht ma' mit a Sträflingen«, sagte sie. »A suweit bin ich noch nee.« Sie konnte grob und geradezu sein. Zudem, weil Saleck so gar keinen Grund hatte, ihr zu mißtrauen. Sie war auf alles eingegangen, was er gewollt hatte. Sie wohnten zusammen. Nun er eingewilligt hatte, daß sie in die Stadt zurückzögen, weil ihm der weite Weg über Land seit seiner Krankheit doch beschwerlicher wurde – hatte sie alles gut gefunden, das kleine Stübel in der Nähe der Fabrik, so daß er nur kurze Zeit hinzulaufen hatte, und auch daß sie gar durch eine fremde Stube unter Dach hindurch mußten, wo andere Fabrikleute wohnten. Aber schon, daß Mathilde jetzt die Fabrik besser zu gefallen schien, das ärgerte Saleck. Als wenn sie in der Einsamkeit schätzen gelernt hätte, wie es tut, wenn man Leben und Lärm und gesundes Handreichen und Bewegen um sich hat. Saleck war ungerecht gegen Mathilde. Es war gar nicht die Fabrik, die ihr jetzt Behagen machte. Aber das konnte der Krumme nicht begreifen. Er war immer zärtlich und ein wenig eng und kurz gewesen in dem, was er wünschen konnte. Er war auch schon ein Mann, der über Dreißig ging. Wenn er seinen Traum von Familienglück bedroht sah, hatte er wohl Recht, mißtrauisch zu werden, und ein Recht, nicht zu begreifen, was in Mathilde vorging. Mathilde wußte es übrigens durchaus auch nicht. Nur im Blute ging es um. Sie war neunzehn und groß und wie eine, die mit runden vollen Armen hinter einem Bauernhause in einen reich behangenen Apfelbaum hätte langen und reife Äpfel herausbrechen können in der Fülle – lachend und toll aufgelegt, und der es nichts gemacht hätte, wenn auch aus der Krone einer ihr auf den hudeligen Kopf herniedergesaust wäre, daß ihr die Ohren minutenlang geklungen, und sie eine Hand auf die getroffene Stelle hätte legen müssen, den Schmerz zu stillen, während der Mund behaglich in den roten Apfel einbiß und die frischen, hellen Zähne leuchten ließ. Mathilde war jauch ganz geordnet nun – ein ganz tüchtiger und lockender Mensch.

Keiner konnte ihr ansehen, daß sie ein Kind geboren, sie war jünger und rosiger, als je, wie eine Jungfrau, so unberührt, und so überaus lustig sah sie jetzt aus. Als wenn die einsamen Tage nichts in ihr zuwege gebracht, als die Linien des Mißtrauens und Menschenhasses, die sie so ablehnend und barsch gemacht, ganz auszulöschen und eine natürliche, freie Klarheit und etwas Lebensfrohes in ihr aufzuwecken. Wenn sie kam, sahen sie alle an. Sie waren alle wie im Banne. Sie erkannten gleich, auch die Männer, daß etwas in ihr war, woran sich niemand mehr recht wagen dürfte – jetzt erst recht nicht –, so reinlich und klar, und jungfräulich und heimlich luftig – und gar auch ein Zug wie frei und reif. Wer sie begehrte von allen, der ließ es sich doch nicht merken. Auch der Werkmeister nicht, der jung hereingekommen und dem sie unterstellt war. Auch Simoneit tat, als wenn es nie eine grobe Rüpelei zwischen ihr und ihm gegeben. Es war ihm unangenehm, daran zu denken, jedesmal, wenn er sie ansah. Es wäre ihm wer weiß was feilgewesen, wenn er sie hätte frei und offen und nicht mit jenem törichten Vorwurf betrachten dürfen.

Und sie ging und kam mit dem Krummen, und jeder sah es und dachte, »wie klein und dürftig der neben ihr aussieht!« mit seinen kurzen Schritten, daß er ihr nur folgen konnte. Und sie mußte sich eine Minute abstehlen, um einmal wirklich allein zu sein.

Aber Saleck war auch nicht froh, obgleich er sich die Sorge gar nicht merken ließ und nichts Rechtes sagen konnte, wenn sich Mathilde daheim, oder während sie dahinschritten, jedes Mißtrauen einfach verbat.

So war es gegangen bis in den Winter.

Es war dunkel, die Laternen um die Fabrik warfen einen trüben Schein im Wirbel, der um die Parkmauer jagte. Mathilde war hinausgegangen aus dem Arbeitssaal, in dem die Webstühle heftig hin- und herschnappten und klappten, und hatte eine Stunde vor Schluß sich aufgemacht, um zum Kinde zu gehen, weil es wegen der Zähne kränkelte. Saleck, der in einem anderen Saale zu tun hatte, wußte es nicht. Sie war nur schnell zum Portier gelaufen und hatte sich beurlaubt. Dunkel trieben die Flocken, und Mathilde war wirklich aufgeregt. Sie wußte, daß es unweigerlich einen Zank geben müßte, wenn Saleck es sich auch nur vorstellte, daß sie allein und heimlich – so würde er es nennen – zum Kinde gelaufen und sich um ihn gar nicht bekümmert hätte. Für den Krummen war es eine schwere Zeit. Mathilde hastete an der Mauer entlang, um schnell um das ganze Fabrikgelände herum in die Straße einzubiegen. Der Laternenschein war spärlich und der Schnee kam in dicken Flocken. Sie war bald ganz weiß und unkenntlich. Sie dachte an Saleck und ans Kind – obgleich ihr auch der Werkmeister einfiel, der sie mit ausgesuchter Freundlichkeit behandelte, und zärtliche Blicke in ihre Augen zu senken mehrmals schon gewagt hatte. Es war ihr ganz recht so. Sie brauchte sich dabei nichts vorzuwerfen. Mag er blicken, wie er will, was geht's mich an, dachte sie und bog in die Straße ein, worauf die kleinen Schaufenster auch ein wenig Licht mehr ausbreiteten. Da kam ihr ein beschneiter Soldat entgegen. Ein erster Blick genügte, um ihn kenntlich zu machen. Sie zögerte. Es waren Augenblicke nur. Als er wieder mit der gutmütigen Verwunderung im Blicke die Worte sagte, die er ihr damals aus dem Zuge zugerufen: »Ne Jeses, Mathilde, bist du's?« Mathilde war ganz ohnmächtig –es kam ihr vor, als wenn sie noch in den sonnigen Wiesen draußen stund', als wenn sich eine Sehnsucht plötzlich erfüllte, als wenn sie Trommeln und Pfeifen hörte, die da hinzogen ganz ins Ungewisse, weil sie nie gedacht hätte, er könnte zurückkehren und vor ihr stehen. »Mein Gott, Ernst!« – sie blieb stehen und mußte ihn ansehen. Es war ja Winter und einige Laternen warfen Strahlen in Dunkel und Schneetreiben. Sie waren bis an den Hals beide vollgeschüttet. Nur die Augen konnten sich ansehen. Und das innere Leuchten drang durch die Vermummung und die Schneehütte. »Nee Jeses, Ernst«, hatte Mathilde noch einmal wie erschrocken und gelähmt ausgestossen; daß sie lange voreinander standen, Ernst eine gar freundliche Miene annahm, ihre Hand längst warm in der seinen hielt, sie auch gar nicht los ließ, bis sie ihm alles erzählt hatte, wie es ihr ginge, und er sie mit ausgelassenem Blick, wie der eines frischen Bauernjungen in der Schule, der immer einen Streich im Augenlicht blinken läßt, ein über das andere Mal hatte hören lassen: »Bist du aber a hibsch Mädel worn.«

»Kannst's ju ni sahn,« lachte Mathilde nun ganz toll, »ich sah doch heute aus wie a Popelmann.«

Und in der Eile und Hast der Minuten, die sie beide hatten, war ein Reden und Widerreden, daß sie beide gar nicht aus dem Lachen kamen, und beide noch immer die Hände verbunden hatten, ganz als könnten sie sich nicht loslassen. Sie versuchte es endlich ein paarmal. Ihr war es plötzlich unangenehm. Es kam ihr auch das Kind in den Sinn. Und sie machte ein Gesicht wie im Gram. Aber Hallmanns Sohn sah das nicht, es schien ihm licht und gesund. Die Lampenhelle lag darin. Und die steinigen Augen waren kühn und weiter sah er nichts, wie er sagte: »Wißte – ich ha' mir immer gewünscht, dich zu finden, seit ich dich beim Marsche draußen auf a Feldern sah.« Nun zögerte sie, wie er wünschte, daß er sie besuchen dürfe. »O Jeses, nee, Ernst, das werd wul nee gihn«, sagte sie und verzog ihre vollen Lippen und sah zu Boden, weil ihr jetzt Saleck und das Kind deutlich in Gedanken kam. Und sie sagte ganz bestimmt: »Nee, Ernst, 's giht nee.« »'s muß gihn,« sagte er, »warum sollt das nee gihn?« – »Ich ha ju a suviel Arbeit! Wenn sollt denn das gihn?« fragte sie zögernd. »Nee, nee, kannst's gleeben, 's giht nee«, sagte sie wieder. »Ich besich dich doch a mol«, lachte Ernst. »Um Gottes willen,« entfuhr es ihr, »nu das uf keenen Fall!« »Nu sag mir ock, Mädel,« sagte er ganz phlegmatisch, »hast du eenen, gihst du mit eenem?« »Ju, ju, ich gih mit eenem,« sann sie ganz verlegen, »und 's is au ni zu ändern.« Und er war kleinlaut geworden, daß es Mathilde leid tat. Er hatte ihre Hand in dem Augenblick ganz fallen gelassen und überlegte mit versonnener Bauernmiene, freundlich, aber grabend: »Du gihst mit eenem?« Aber Mathilde erschien plötzlich die Lage wie eine Pein. Sie fühlte, daß er daran war, zu sagen: »Mit was denn für eenen?« und sie schnitt alle Überlegungen ab.

Sie sagte: »Verheirat' bin ich nee mit'n.« Das war ihr in der Angst und Verlegenheit so herausgeglitten, daß sie gleich danach eine Reue empfand. Aber trotzdem es sie fast schmerzte, was sie gesagt, konnte sie sich nicht zurückhalten. Sie war in einer ganz unbegreiflichen Aufregung. Sie sah die großen, frischen Augen Hallmanns, eines Soldaten, der im Mantel vor ihr stand, sie hörte die forsche Rede, und die feste Hand hatte er wieder um die ihre gelegt. Er lachte über ihr Wort und war von neuem so voll Leben zu ihr, wollte jetzt erst recht wissen, ob sie nicht kommen würde, irgendwohin. »O Jeses! Ich ha ock keene Zeit«, hatte sie ihm zögernd zugegeben. »Mittwuchs kann ich schun nachmittigs manche mal ei de Stadt«, sagte er, und sie fing stockend an, während sie die großen Flocken umtanzten, einen Tag und eine Stunde zu bereden, wo sie sich einmal wieder sehen und sprechen wollten.

Mathilde war ganz bleich und hatte auf nichts acht, als sie zum Kinde kam. Die alte Schneiderin und ihre junge Tochter merkten es, daß in ihr was vorging. Sie lachte nur, wie sie hörte, daß es gut ging mit dem Jungen, herzte und küßte es innig, aber ganz, als wenn alles nicht ihm und nicht ihnen gälte, was sie sagte und tat; und bekam danach auch gleich einen Zug voll Gram in ihre Miene, den sie heimtrug. Wie Saleck ihr Vorwürfe zu machen anfing, daß sie ohne ihn fortgelaufen und unbegreiflich lange fortgeblieben wäre – es wäre halb acht – da sah sie ganz demütig zu ihm hin und umarmte ihn und küßte ihn – und war still – daß er zufrieden wurde – daß er großmütig auch schwieg, wie ein guter Hausvater, wenn eines seiner Leute zur Besinnung gekommen. »Sei ock ni mißtrauisch, Juseph«, hatte Mathilde gesagt, wie sie sich wieder in ihre Rolle hineinfand. Aber wie sie sagen wollte: »Du hust ju keenen Grund«, blieb ihr das Wort im Halse stecken, daß sie schließlich über sich und die ganze Situation wie ausgelassen lachte.


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