Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

30

Im Zirkus

Wie Mathilde einmal wieder aus der Fabrik kam, fand sie Dominick in der Nähe des Tores. Es war ihr fast unangenehm: »Kommen Sie nicht hierher«, sagte sie. »Die Männer hier hassen alle, die nicht hereingehören, und es könnte Ihnen einmal peinlich sein.« Aber sie ging ruhig mit ihm; und sie sahen zusammen auch einen Auflauf, an dem Dominick schnell vorbei wollte, der aber Mathildes Neugier erregte. Ein altes Pferd war auf der Straße gefallen. Man brachte einen Schinderkarren, um es aufzuladen und fortzuschaffen: »Eine Qual«, sagte Mathilde und ging an den Pferdekopf heran, der mit ganz gläsernen Augen sich emporrichtend am Trottoirstein sinnlos herumleckte, alle die neugierigen Menschen rings rätselhaft verworren anstarrte, und streichelte ihn.

»Oh, wie die Kreatur sich quält – pfui Teufel – das müßte Gott sehen«, lachte Dominick höhnisch, daß Mathilde plötzlich ihre Hand losließ, und ihn anstaunte einen Augenblick. Sie hatte ihn fragen wollen, was er meinte. Aber man hatte dem Pferde die Beine mit Stricken gebunden und zog nun mit Leibeskräften das arme Tier auf ein Brett, daß es ein paarmal stöhnte und mit dem Hals« schlug, und daß nahm so die Spannung aller in Anspruch, daß niemand ein Wort zu sagen wagte, und nur die Arbeitsrufe der acht Männer, die die schwere Arbeit taten, laut hörbar wurden.

Dann gingen sie weiter, weil der Karren sogleich mit dumpfem Gerumpel wegfuhr.

»Pfui Teufel,« sagte Dominick, »das ist ein Leben. Das müßte Gott sehen, solch' elendes Erdenvieh.«

Mathilde hatte fast Tränen in den Augen, so stand noch immer der nach Hilfe sich sprachlos umblickende Kopf des alten Braunen vor ihr, der wohl eben hatte merken müssen, daß mit zerbrochenen Gliedern kein Leben ist.

Wie sie heimkamen, wollte Mathilde in ihr Zimmer, aber Dominick bat sie, sie sollte zu ihm kommen. »Nee«, sagte sie, »es ist Arbeitstag, ich bin müde.« Dominick quälte.

»Nee,« sagte sie, »ich komme nich, vielleicht uf a Feiertag«, und sie reichte ihm nicht einmal die Hand, sondern ging und sagte nur noch einmal: »Am Feiertag eher – da könnt 's gehn.« – Dominick ging in seine Stube und zündete die Lampe. Er war enttäuscht und konnte sich nicht gleich beruhigen. Dann nahm er den Grafen de Monte Christo, denn statt der Theologie las er jetzt mit Leidenschaft Dumas. Er hatte schon viele Male den Gedanken gehabt, Mathilde könnte doch kommen. Er horchte und dachte mit Unmut an sie. Er war in einer ganz verachtenden Stimmung. Ihn reizte es auch, daß er das Pferd auf der Straße gesehen. »Das sollte ein guter Gott sehen – mein Himmel!« wiederholte er, wobei er an Mathildes mitleidige Augen dachte, und war zum Hohn aufgelegt und ließ das Buch im Lampenschimmer liegen und ging im Zimmer auf und ab und lachte. Und dann horchte er, weil er sich mehr als je nach Menschen sehnte. Er dachte quälend an Mathilde. »Sie liest gar nicht«, murrte er und sah auf sein Buch nieder. »Das würd ihr auch gefallen. Das ist die Welt, die man kennen muß. So passiert es, wenn man Mut hat und nicht immer nur Skrupel. Ein Vieh, was schließlich umkommt, ist man doch«, murmelte er noch einmal und sank dann ein und las bis zum grauen Morgen.

Dominick hatte sich seine Stundengelder zurückgelegt, so gut es ging. Er aß nicht viel. Er trank auch nicht. Nur das Rauchen, das er kaum kannte, begann ihm seit einigen Wochen Vergnügen zu machen. Es war gekommen, seit er plötzlich dumm fand, Bücher zu lesen, die von Kirche und Staat und Gesetzen, und nicht von Menschen handelten, seit er auf die Romane verfallen, wo immer Leute rauchten und fein ihren Tabaksqualm ausspannen und Gedanken hinein. Die Stunden am Tage gab er, aber er war dabei lustiger; ganz verwandelt; leuchtend feine braunen Augen und ausgelassen und leicht höhnisch. Und nachts saß er über dem Grafen de Monte Christo und las – und las ihn wieder, und fand Gefallen, daß es sich um Menschen drehte, die ein Leben führten.

Wie der Sonnabend heran war, lief er wieder Mathilde abholen.

»Ich bringe Ihnen etwas«, sagte er. Die Männer, die an ihnen vorbeischritten, sahen ihn groß an, und Mathilde war es aufrichtig unangenehm. Aber sie sagte nichts. Sie hastete nur und war froh, wie sie allein waren.

»Sie sollten nich kommen, wenn Sie mich nur ein wenig bedächten«, sagte sie ganz spröde.

»Sehen Sie einmal«, sagte er ganz strahlend. »Hier!«

»Was denn? nee, ach Gott, was soll denn das?«

»Wissen Sie es nicht? Wollen Sie nicht mit?« fragte er. »Oh, ein ganz unglaubliches Vergnügen. Was man nie sieht, sieht man da. Eine ganz andere Welt wie eine Fabrik, wissen Sie. Ich habe ja gar nicht so etwas gekannt. Nun kam ich vorüber, wie alles hineinströmte und ging auch hinein. Hihi, das ist was! Da reißt man die Augen auf – o nein – ich gehe nun schon das dritte Mal hinein.«

»Daß Sie aber das Geld nicht reut«, sagte Mathilde fast schüchtern, weil es ihr jetzt auch verlockend dünkte.

»Was sagen Sie?«

»Ach nee, nee,« sagte Mathilde, »'s es besser, man bleibt daheeme und denkt an sowas nich.«

»I! wenn Sie es nur einmal gesehen haben, können Sie sich gar nicht mehr trennen – so ist es Licht überall – und Frauen – ich sage Ihnen, in Gewändern aus Gold kommen Hunderte auf einmal. Alles in Glanz und Pracht und keine Arbeit, kein Zwang. Wissen Sie, ich kenne schon einige bei Namen und freue mich schon immer einen ganzen Tag, wenn die Briske – Briske heißt eine – eine, die immer ihren braunen, lachenden Mädchenkopf an den Pferdehals preßt und dann in die Tiefe sprengt, als flöge sie, jauchzend – lachend – nein – es ist zum Rasendwerden.«

Und Mathilde war schon ganz warm geworden beim Zuhören.

»Soll ich wirklich mit?« sagte sie nur.

»Nun also, doch das Billett hier, ich habe es doch für Sie gekauft«, sagte Dominick ganz stolz.

»Ja, müssen Sie denn nicht Ihr Geld auch sauer verdienen?« sagte sie ohne rechte Freude.

»Gewiß – nun freilich – aber, wozu soll ich es denn auch aufheben – jetzt lebe ich einmal davon, damit ich es endlich fühle, und wenn Sie gar neben mir sitzen – wissen Sie, es ist mir ein Geheimnis. Es kommt mir ganz so vor, als ob ich dann sogar mit Ihrer Seele auch fühlte, wenn ich weiß, daß Sie neben mir sitzen und es auch sehen werden. Und es war in beide plötzlich eine Aufregung hineingekommen, daß sie gar nicht mehr langsam gehen konnten. Als wenn sie zu einem Feste liefen, das sie nicht verpassen dürften. Und sie vergaßen auch alles. Mathilde vergaß ihren Jungen, ob es gleich Sonnabend war – und lief – und gab auch Dominick zutraulich die Hand, ehe sie schnell noch in ihre Stube lief, um sich ein wenig rein zu machen und herzurichten. Und dann eilten sie zusammen durch die Straßen, ganz erfüllt von dem, was sie sehen sollten; und was Dominick noch immer lebhaft und rege zu erzählen und zu schildern suchte, so seltsam kindlich und begeistert, als wenn er Feenwunder und Götterspiele gesehen, daß Mathilde ganz nur wieder Auge und Erwarten und Ersehnen war – was nun käme. Wie sie eintraten, sah sich Mathilde scheu um, hielt Dominick am Arm, der schon bekannt war. Er war auch ein wenig feierlich. Er sprach leise, trotzdem um sie ein tolles Getümmel von Menschen war. Leute drängten sich. Am Eingange standen Männer in feinen Livreen, die Mathilde anstaunte. Sie dachte an den Portier und wollte fast ehrerbietig grüßen. Nach Pferden roch es und Sägespähne lagen auf den Treppen. Und unten im Umgang, in den man sie wies, lag Stroh herum und bretterne Triumphwagen standen mit großen Planen bedeckt in Nischen. Mathilde ging an alledem nur langsam vorbei und ängstlich, daß Dominick sie zur Eile antrieb und am Arme ein wenig vorwärts riß. Oh, solch eine Erwartung!

»Oben,« sagte er ihr über einige Menschenköpfe hinweg, »wir müssen nach oben.« Mathilde stieg in Zagen an Dominicks Hand die Treppen empor. Dann traten sie ein. Es kam wie eine Weihe – nein – ich glaube – man hörte aus Mathildes Munde einen kleinen Schrei. »Nee aber«, sagte sie geblendet.

Dominick sah sie an und sagte gar nichts. Er empfand mit ihr und war ganz stolz. Er führte sie ja ein. Ganz überlegen gab er ihr den Platz an, während sie ihren Blick nicht von dem unermeßlich dünkenden Raume und der Menschenmenge wandte, die von unten nach oben emporgebaut, zu Tausenden drängte und wirbelte. Und die Musik machte einen Lärm in den Lärm und das Rauschen und Wirbeln hinein. Es schien Mathilde das Bild ganz zauberhaft, daß sie einige Male Dominick ansah, nur kindlich lächelnd, ohne ein Wort zu finden. Dann begann es auch gleich. Dominick lachte die ganze Zeit übers ganze Gesicht. Seine Augen verschlangen die springende Balletteuse, die auf dem gleichmäßig wie ein Wiegenpferd galoppierenden Schimmel durch Reifen hoppte und nach allen Seiten mit gesuchter Anmut Geschrei und Klatschen erwiderte, wenn die Musik eine kleine Pause machte. Mathilde war ordentlich ängstlich. »O Jesses nee, a su zu springen«, sagte sie nur, und verfolgte fast mit offenem Munde jede Bewegung, und sogar die feinen Verbeugungen machte sie ein wenig mit und lachte fast verlegen. Es ging wie im Rausch, eines nach dem andern. Daß Mathilde Dominick am Arm riß, wie der Jockey auf dem ungesattelten Pferde in die Luft sprang und gar auch einmal daneben. Sie riß Dominick am Arme und dann, wie ihm nichts passiert war, lachte sie hell auf und fing auch an, mitzuklatschen, so war sie in Aufregung.

»Potzwetter, nee! – der kanns«, sagte sie hastig. Und sie waren ein Sehen, wie nun gar die Jagd kam, wo Wild und unheimliche Tiere über ein ganz plötzlich inmitten des Raumes erbautes Gebirge heranflohen und hetzten, – und gar hinterdrein die Jäger zu Pferde hinauf- und hinabrasend und stürzend und schreiend: »hei, hei!« die Männer – junge, sichere, strahlende – und auch junge Mädchen fliegend wie Amazonen und schreiend: »Hei, hei, hei!«

»Hei«, sagte unterdrückt auch Mathilde, die schon ganz ihre Stirn zusammenzog, um sicher zu sein, ob es auch wahr wäre alles – und wie im Schmerz fast aufmerkte und hinstarrte, daß sie ganz bleich war, nichts sah und hörte sonst, und endlich ganz den Atem verlor, wie die Tollste emporkam. – »Fräulein Helene Briske« – sagte Dominick strahlend, »Donnerhagel!« Sie stürzte sich auf einem Springpferde, fast plötzlich in der Luft erscheinend, mit kosigem Neigen des lustigen Köpfchens bis an den Pferdehals, in die Arena und war immer wieder da und fort wie ein Vogel. –

Mathilde schöpfte endlich Atem, als sie hinaustraten, – spät abends, als sie noch wirbelig in die Stille der Nacht sahen, und kein Wort sprachen; sie kaum wußte, wo sie war, nur ganz betrunken und erfüllt, und kaum wußte, was sie tat, wie sie sich an Dominick fest anschmiegte, ohne ein Wort, nur dann und wann noch einmal leis auflachend. Im Hause erst machte sich Mathilde plötzlich entschlossen von Dominick los, kam zu sich, sagte, daß sie sehr müde wäre. Und auch, wie er noch dastand, unschlüssig und nicht ganz erweckt aus dem Taumel, wohl gar unzufrieden – sah es Mathilde kaum, nahm, innerlich neu versunken in allerlei Bilder, fast scheu Abschied, und Dominick lief wieder auf die Straße.


 << zurück weiter >>