Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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Der erste Brief nach Haus

Mathilde war jetzt in der Stadt. Sie war mit einem jungen, verliebten Kerle, und einer anderen Fabrikarbeiterin, die im Tale wohnte, dahingekommen. Sie hatten nicht unbesonnen sich schon vorher eine Arbeitsstelle zu verschaffen gewußt und strömten nun morgens, ehe Sonne und Tag die Welt erhellt und rege macht, im Dämmergrau des Laternenscheins, oder auch in Regen und Dunkel, wenn kaum nur ein Bäckerjunge mit übergroßem Korbe am Arme, oder ein verspäteter Säufer durch die leeren, stillen Straßen fegte, ein in das große Tor, wo der alte bärbeißige Portier jedes einzelnen Meldung in Empfang nahm. Sie arbeitete jetzt mit Hunderten, die ihr Los teilten, und verdiente gut. Sie lief in die Arbeit noch immer, wie sie in den Bergen gelaufen und morgens in Hast zu Tale geeilt war, um nicht zum Arbeitsbeginn zu spät zu kommen. Noch immer eng und ärmlich die Jacke, in der Farbe verschlissen und unkenntlich, den Rock zu kurz, wie eine, die zur Schule geht. – Sie sah frisch aus und gesund – stark und rosig – und wenn sie mittags oder abends im Strome der jungen oder verwelkten, frechen und höhnischen Arbeiterinnen aus dem Tore der Fabrik – unter Hunderten eine allein, für sich herausschritt, während die andern drei und vier und mehr unterfaßten und lachend und schwatzend vorwärtsstürmten – da stand mancher Junge und sah ihr nach und dachte daran, den harten und sicheren Zug in diesen jungen Mienen zu gewinnen – und die Werkmeister und der Portier, alle sahen oft heimlich auf sie, die wortkarg und entschlossen und doch wie ein Kind ihre Arbeit tat, willig und stark und geschickt, pünktlich kam, kaum von der Arbeit aufsehend und jeder Annäherung abhold wie eine Seele aus Erz.

Und immer schritt sie heim in eines der alten Hinterhäuser, die in der Nähe der Fabrik in einer schiefen Gasse eng aufeinander lagen, wo kaum ein Fleischerwagen einer Karre ausweichen konnte, so eng und alt – und wo in den Häusern, die kaum zwei, drei Fenster breit, schmal und niedrig waren, die alten schiefen Treppen bei jedem Tritte krachten, und allerhand seltsame Ecken und Winkelstuben lagen, zu denen man durch kleine Treppchen extra aufstieg. Dort wohnten ein paar böhmische Wäscherinnen, alte Mädchen mit Narben, die erfahren waren, bei denen lebte Mathilde. Diese Narbigen mit eingesenkten Nasen und häßlichen, heiseren Stimmen hatten ihr gleich Unterkunft geboten. Sie war froh, aus dem Gemeindehaus fort zu sein. Das lange Zimmer mit dem einen Fensterschlitz gefiel ihr fast, weil Sand auf der weißen Brettdiele lag, auch die Treppen im Hause weiß und gereinigt aussahen, und anständige Arbeiter, ein junger Schlosser aus der Fabrik mit Frau und Kind und andere junge und alte Familien hier wohnen mochten. Zudem hatte Mathilde nie bisher erfahren, daß ein Mensch einen andern zwecklos lieben kann. Die Wäscherinnen hatten Gefallen an ihr wie an einem Kinde. Sie hatten Gefallen an dem jungen, blühenden Leibe, der früh aus den Lumpen und dem zerflatterten Arbeitshemd licht aufstieg und vor der angeschlagenen, braunen Waschschüssel stand, um sich zu erfrischen. Auch Mathilde gefiel das. Daheim hatte sie es nicht gekannt. Waschschüsseln gab es nicht. Wer sich waschen wollte, mußte an den Trog laufen, hinaus ins Freie, und davor hütete sich in Winter und Kälte jedes. Nun empfand sie es wie ein Wunder, wenn sie Hals und Brust kühlte und sie rosiger wurden und blendend. Und die beiden narbigen Mädchen, deren Leben sie gar nicht kannte, und wonach zu fragen ihr nie in den Sinn kam, lagen in ihren Betten und sahen sie heimlich stehen, ein Bild ihrer eigenen, verlorenen Jugend, schlank und stählern, und liebten sie aus heimlichem und ungedeutetem Grunde – schenkten ihr kleine, liebe Dinge, brachten ihr Süßigkeiten, sie schlief in ihrem Bett. Es kam, daß Mathildens Züge daheim alle Härte vergaßen, daß sie grundlos auflachen mußte bei dem Gedanken, daß diese alten Mädchen beide welterfahren, sie froh zu machen suchten. Ja, sie begann selbst, sie zu lieben, so daß sie eine Zeit zugänglicher wurde daheim und kindlich und freundlich. –

»Morgen, wir gehn hinunter – in die Hallen«, sagte die eine Alte zur andern.

»Wenn Kind mitkummt«, gab die andere dawider.

Mathilde stand am Fensterschlitz und nähte an einem grünen Rocke, den ihr die Böhmische geschenkt hatte.

»Wie, Mädele? – Nun? – Wie ist?« – denn Mathilde hatte nicht von der Nähterei aufgeblickt und hörte kaum.

»Willst du nicht sagen, Kind?« tastete die Sprechende weiter.

»Oh, ich wiß nee!« Mathilde war es peinlich, daß man von den Hallen sprach. Einer der jungen Menschen, die in der Fabrik arbeiteten, ein kleiner, schmächtiger, dessen Kopf etwas in den Schultern steckte, aber der eine feine Haut und einen weichen Bartflaum besaß, hatte sie auch heimlich gebeten, hinzukommen, und sie hatte ihn verdrossen, fast feindselig angesehen. Sie wollte von so etwas nichts wissen. Wie sie von daheim fortzog, noch in der letzten Nacht, hatte sie dagelegen und Entschlüsse gefaßt – Oh – sie hatte genug; darüber war sie sich klar geworden. Der Mutter Leben sollte nicht das ihre werden. Lieber wollte sie tot sein. Und sie war auf der Hut – wie vor Gift und Feuer. Wenn sie nicht davon sprach, daß nun tausendmal Junge und Alte sie heimlich locken und zu allerhand Abwegen führen wollten, so war es nur, weil sie zu niemand von all ihren stillen Wünschen und ihren Rückblicken sagen mochte. Und außerdem wollte sie nicht beredet sein. Sie litt das Geschwätz nicht, das so leichtsinnig in allerhand Lüsternem hintändelt, deshalb auch mochte sie sich keiner ihrer Mitarbeiterinnen anschließen. Sie schreckte zurück. Sie schreckte im Grunde vor jedermann zurück und war mißtrauisch auf alle. Und blind feindselig gegen jede Annäherung, hart und ablehnend, wer es auch versuchen mochte. Deshalb sagte sie noch einmal ganz bestimmt und mit Härte, wie sie ihr daheim jetzt ungewohnt war: »Nee, ich will nee.«

Aber die Alte, fast erschrocken über die Zornblicke, die Mathilde dabei annahm, nahm sie in ihre Kniee, wie man ein liebes Kind zu sich nimmt und strich ihr die Härte aus dem noch schweißigen Gesicht, daß sie kindlich lachen mußte. – Es war Sonnabend Abend – der Tag noch hell – wie Mathilde eben aus der Arbeit heimgekommen war und es nicht erwarten konnte, sich hinzusetzen für ihren Sonntagsstaat.

»Warum, Liebe,« sagte die Dunkle zu ihr, »is sich Theater durt – man kann schauen – Suldaten sind sich durt – viel Vulk is sich durt – singen wirst du hören – komm mit, Kind! Bist du jung, wirst dich tanzen lernen – auch durt.«

»Nee, nee – das alles will ich ni lernen«, sagte sie, unwillig sich lösend, und so blieb es auch. Der Sonntag kam, sie saß am Morgen und wusch und nähte. Sie schrieb den Nachmittag an einem Briefe mit Zeichen hin und her, lang und groß – und es hieß darin: »Geliebte Mutter, Du wirst wohl denken, ich bin ganz nicht mehr wie Deine Tochter. Hier ist alles schön und man vergißt alles – auch, weil ich in tüchtiger Arbeit bin, wovon Du ein Zeichen hierbei findest, indem ich Euch schon zehn Mark schicken und noch mehr verdienen will – und immer schicken« – usw. Ein guter Brief, ein freundlicher Brief. »Geliebte Eltern.« – Sie war fast in einiger Sehnsucht. Sie saß reinlich gekleidet am Fensterschlitz auf dem Schube, und es mochte eine lange Zeit, Stunden des Sonntagnachmittags vergangen sein, so sank sie ein in das Bild ihrer Heimatwege – und nichts fiel ihr ein, als nur das Gute, daß da eine geliebte Mutter war, und Elend und Groll waren ausgewischt. Sie dachte auch an die kleinen Mädchen mit den Strickstrümpfen vor der Rauchlampe, und wie sie den Brief mit bedächtigen Zeichen adressiert und sorgfältig besiegelt hatte, mußte sie wohl ein über das andere Mal die Nase wischen und mit den Fingern die Augenlider ausdrücken.


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