Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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17

Salecks Nöte

Es war Fastnacht in der Stadt, wo jeder eine Laune auslassen und sich aus einem bestimmten oder unbestimmten Grunde irgend eine Lust machen wollte. Es war noch Winter, die Straßen waren schneefrei – aber es war kalt, und man sah, wenn man die Augen aus den engen Straßenschlünden emporhob, blinkende, winterklare Sterne. Einigen Gestalten in Kostümen begegnete man unter geschäftigen Leuten, die vorbeieilten, und die Schaufenster waren noch erleuchtet. Es ging gegen acht. Saleck war in großer Unrast heimgekommen, ohne Mathilde zu treffen. Er hatte es schon eine Stunde vor Ausgang aus dem Fabriktor zufällig erfahren, daß sie die Fabrik zur Vesper verlassen und nicht zurückgelehrt war. Und er hatte gleich eine unbestimmte Sorge nicht los werden können. Er sah entsetzlich aus, der Krumme. Wenn man ihn fast wie ein Irrer vor sich hinmurmeln, bleich im Straßengewirr, im Scheine einer Laterne vorbeihasten sah, merkte man es ihm an, daß sein ganzer Traum von Familienglück, sein ganzer Stolz längst gewichen war. Er war heimgekommen und hatte Mathilde nicht gefunden. Er fragte seine Wirtsleute eigens, die nichts weiter zu sagen wußten, als daß Mathilde gegen fünf heimgekommen, sich in ein besseres Kleid geworfen, gewaschen und gekämmt hätte, und dann schon gegen sechs Uhr wieder ausgegangen wäre. Saleck zitterte vor Aufregung, wie er es hörte, er war kreidebleich und hatte die Leute kaum angesehen, nur in sich hinein erwogen und gegraben, als wenn er nicht recht bei sich wäre, sich auf die zitternden Lippen gebissen und war auch sogleich wieder hinausgeeilt. Der erste Gedanke war, sie könnte doch zum Kinde gelaufen sein. Und er sah auf seine Uhr und warf die Tür hinter sich zu, alles offen zurücklassend in seiner Stube, was er sonst sorgfältig und ängstlich verschloß. Und nun hastete er durch die Straßen. Ein Gram erfüllte ihn. Er dachte, wenn ich sie nicht finde. Was ist zu tun? Und er sah Masken an sich vorübereilen. Und lief atemlos, der kleine Huckige, den nun Kummer und Demütigung noch huckiger und demütiger zu machen anfing, solange er mit sich allein war. Er lief eilig, wie einer, der mit einem Schritte zu langsam etwas verpassen könnte. Er machte sich Vorwürfe. »Mein Gott, warum lief ich nicht nach, wie sie es mir sagten, daß sie heimgelaufen!« Mathilde kam ihm in den Sinn, er sah sie vor sich. Er fühlte ihre zerrissene Seele, deren Gründe er nicht mehr durchschauen konnte. Es war alles anders geworden. Noch am Abend vorher war Mathilde außer Maßen drollig und heiter gewesen, mit einer Heiterkeit, die er nie gekannt hatte, die ganz abstach von dem Ernst und der Härte, die sonst zu jedermann zunächst aus ihren steinigen Augen heraussah. Oh, eine ganz unheimliche Heiterkeit hatte es ihm geschienen, die ihm im Gemüte wie eine Last immer wieder aufkeimte, als wenn sie jetzt gar mit ihrem heutigen Gange Zusammenhang haben müßte. Er warf es sich vor, daß er aus kleinlichem Geiz nur nicht sogleich ihr nachgegangen, weil es ihm die Stunde Arbeitslohn gekostet haben würde. Und es fiel ihm von neuem ein, wie der Abend vorher gewesen, welches dunkle Reden aus Mathilde gekommen war: »Ich war noch a Kind, wie du mich nahmst. Ach Jusephla, wenn ich dich nu verlassen müßte –«; und ihre Worte und dann ihr Lachen und auch, wie er sie in der Nacht, ohne daß sie es gemerkt hatte, angesehen, wie sie ihre Augen offen, emporstarrend, in Unruhe bis in den letzten Blutstropfen, dagelegen hatte, ausgenagt den Blick, daß er vor leerem Gram nicht mehr sich schließen brauchte – so innerlich ermüdet lebte und grämte er fort. Es war Saleck alles jetzt, wie um den Hals zu kommen. Mathilde war verschlossen wie immer. Sie sagte nichts klar. Er hatte versucht, dahinter zu kommen. Aber auch in der Fabrik die Männer lachten nur, über Salecks gramvolles Aussehen. Sie höhnten nur. »Nu, ju, ju, Joseph, so a Mädel wie Mathilde muß an andern han!« sagten sie, daß es Saleck ins Blut ging, als wenn man ihm Gift einträufelte. Wenn er nur dahinter käme, dachte er immer wieder. So kam er bis zum Hause, wo oben der Kleine bei guten Leuten in Pflege war, die er kannte; die ihm sogar ein bißchen verwandt waren. Er hastete die Stiege empor. Es brannte nur ein kleines Lämpchen im Treppenfenster, und das Haus war altertümlich und ein wenig baufällig. Die Treppen machten Lärm, noch mehr, wie er auch noch die Dachstiege emporklomm, die ziemlich steil war. Saleck mußte, weil er immer noch hoffte Mathilde beim Kinde zu finden, ein wenig anhalten und Atem schöpfen, weil es ihm wie ein Schreck durch die Glieder fuhr, daß er jetzt vor ihr stehen und ihr ihr Leben vorhalten müßte. Und er blieb oben am Treppenpfeiler stehen, den Hut in der Hand und sich die Stirne wischend, weil er ganz über die Maßen geeilt war und nicht hätte ein einziges Wort ausstoßen können. Ja –und Saleck stand und atmete tief und horchte hinein. Drinnen war es ganz still. Im Vorzimmer, das sonst immer lustig erfüllt war, schien niemand. Auch hier war alles ausgeflogen, und aus der Tiefe kam ebenfalls kein Ton. Er wurde ruhiger und erbitterter zugleich; obwohl das nur ganz im Ungedachten geschah, und er sich selbst keine Rechenschaft gab. Auch war im übrigen seine Hoffnung durchaus nicht ganz erstorben. Er konnte es sich wohl denken, daß dahinten Mathilde saß, in sich gesunken, still und stumm und zerknirscht weinend am Bette des Kindes, das sie bisher mit der gleichen Liebe, wie er ansah, und das sie wohl gar zur Besinnung bringen konnte. So etwas wenigstens redete sich nun Saleck vor, um ruhig eintreten zu können – ruhig und gefaßt und freundlich, sogar ein bißchen überlegen wie ein guter Vater.

Aber wie er eintrat, war es auch im Stübel ganz still. Eine kleine Petroleumlampe brannte im engen Raume, in dem in einem Kinderbett neben zwei großen, die mit roten Laken bedeckt waren, das Kleine rosig atmete, ein Fäustchen vor dem Munde geballt – und in dem eine ältere Frau am Tische saß, das Stück Zeug, das sie nähte, trotz ihrer Brille sich ganz nah unter den Schirm haltend und fast über den Eintretenden erschreckend wie über ein Gespenst, das in ihre stillen Träume sich zu drängen versuchte. »Jeses,« sagte sie, »kommst du au' noch, Joseph?« und bemerkte auch gleich, daß es mit Saleck heute nicht ganz richtig war. »Is Mathilde ni hie bei Euch?« sagte er hastig. »Nee,« sagte Frau Olbers, »die is längst wieder naus. Is sie ni daheeme?« Saleck überlegte. Er antwortete nicht. Er sah das Kind in der Wiege und sah es auch nicht, so stand er und sann und starrte ins Leere. – »Se war aber hier?« sagte er, ohne sie anzusehen, »wann?«

»Nu, um halb sieben kann's gewesen sein.«

»Hast du was gemerkt oder gehiert von ihr?«

»Nee«, sagte die Frau zögernd, obgleich es ihr jetzt plötzlich ganz klar war, daß auch in Mathilde wie in Saleck heute etwas umgegangen, das sie so innerlich bewegt und außer Maßen weich gemacht haben mußte. »Nee, Joseph,« sagte sie, »nu Jeses – gewundert ha' ich mich woll au, daß se a su zeitig kam – wo kann se denn hie sein?«

»Gewundert – du hust dich gewundert – über was denn? Hat se was gesagt?«

»Nee, nee,« sagte wieder Frau Olbers bedächtig, »se hatte sich a su fein gemacht, man konnte seine stille Freude ha'n.« Das war nun grade nicht, was für Salecks Stimmung paßte. »Fein gemacht.« Es ging ihm wie ein Blitz durch alle Glieder. »Aha,« sagte er, »fein gemacht –und heute is Fastnacht.« »Ach-nee«, sagte Frau Olbers, wie sie die Wirkung ihrer unbedachten Worte auf Saleck gesehen hatte, und wie sie sah, daß jetzt noch vollends alles verdorben war: »Joseph, nee-ach, hör mich amol an, – ich muß dir's uffen sagen.«

»Was?« sagte er zornig sprühend und hart:

»Du kannst's nich schlimmer machen, als es is. Sag's!«

Und Frau Olbers begann zu erzählen, daß Mathilde zuerst im Zimmer gewesen sei, ehe sie hereintrat. Da hätte sie ein kindliches Geschrei gehört und wohl gemerkt, schon draußen, was es gäbe. Und wie sie hereingekommen, hätte Mathilde vor dem Bette ihres Kindes halb gekniet, das Kind in ihren Armen haltend und drückend, daß sie – Frau Olbers – nicht gewußt hätte, wollte sie es herzen oder erwürgen. – »Was?« sagte Saleck und stand ganz erstarrt. Aber Frau Olbers waren Salecks innere Aufregungen im Grunde so unverständlich wie die Mathildes. Und weil es ihr nach ihren Worten sofort klar war, daß sie auch damit ein falsches Licht auf Mathildes Zustand warf, versuchte sie Saleck aufzutauen mit guten Worten und sagte dann, daß Mathilde dagesessen, das Kindel geküßt und gestreichelt hätte, immer noch einmal, ordentlich sichtlich gekämpft hätte, ohne groß Worte zu machen, was ja nie ihre Art wäre – dann weggeeilt und wiedergekommen wäre, immer wieder zögernd, auf der Treppe, daß die drin es wohl hätte hören können, wie sie bei jedem Schritte zurück nicht gewußt hätte, ob sie noch einmal hereinkommen oder einem andern Schicksal, das sie zog, sich und das Kind vergessend, zustürmen sollte. Und Saleck war so innerlich erschüttert, und still – er empfand alles, was in Mathilde längst genugsam heimlich sein Wesen getrieben, und setzte sich erschöpft in die Sofaecke und ließ es sich gefallen, daß Frau Olbers wiederum ihre stille Abendarbeit in aller Ruhe und beim Ticken des

Seegers fortsetzte, die Näherei vor sich, ihre Brille zurechtzog, und dabei sagte: »Jeses, die gute Mathilde, wie die heute war! Wie die um das Kind war! Und sich gar ni trennen konnte. Au' wie sie 's drittemal zurückkam, 's hat mir reen 's Herz zerrissen.«

»Das Aas!« schrie Saleck plötzlich auf, und schlug dabei wie ein Unsinniger sprühend auf den Tisch, daß es Frau Olbers ganz kalt in den Gliedern wurde, wie sie ihn ansah, seine kränklichen Züge sich leise, aber wild verzerrten, und er auch schon aufsprang und dabei stöhnend hervorstieß: »Die hat 'n andern! Die hat 'n andern!« Und ehe sie ihn auch nur halten konnte, war er auch schon auf die Straße hinausgeeilt, hin, wo die Tanzlokale lagen, wo sich heute die Welt ihre Fastnacht machte.


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