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Das Stübel, das sie gemietet hatte, lag ziemlich entfernt von der Fabrik. Sie mußte zwanzig Minuten laufen. Es lag in einem Neubau im Nachbardorfe, oben unter Dach. Das Haus war reinlich, und sie empfand ein Vergnügen, dort drin im schmalen Stübel ganz allein zu wohnen. Ein Schauer überlief sie, wenn sie dachte, daß sie nicht gemerkt hatte, mit wem sie es in ihrer alten Wohnung zu tun gehabt. Hier oben in der kleinen Dachwohnung, den Blick frei über die Felder, daß nur die Fabrik von der Ferne noch dämmerte, das gefiel ihr. Und Saleck gefiel es auch. Saleck hatte schon seit Frühling hier in dem kleinen Orte gewohnt. Er wußte, wie gut es tat, wenn man erst noch einsam durch die Felder gehen konnte, unbehelligt von seinesgleichen, sich umblicken konnte weit in der Runde. Nun gar Sommer gewesen, zwischen reifem Korn auf blumigem Raine hinschreiten, wenn die Lerche im Äther sich aufschwingt und ihr Lied jubelt. Er wußte, wie gut es tat, so hinschreiten, ehe man in das große Tor eintritt und das Ungeheuer Fabrik einen aufnimmt, mit all den schweißigen, geschäftigen und ganz nur von liebloser Aufmerksamkeit erfüllten Arbeitsgesichtern. Nun sah sie es und erlebte es an jedem Morgen neu, wenn sie beide hinüberzogen, während herbstliche Nebel in Wiesen, und Schemen um den Fluß spannen. Daß sie sich an jedem Spinnengewebe freuten, wie an einem diamantenbesäten Netze. Und in jedem Sonnenstrahl, der blitzend und zückend sich durch die dunklen Tannen stahl, die, ein kleiner Hain auf ihrem Wege, sie einige Minuten begleiteten. Oh – Mathilde hatte früher so etwas gar nicht gesehen. Sie hatte gar nicht gesehen, wie schön die Welt ist. Sie hatte niemals ein Spinnennetz angesehen. »Pfui – an Spinne!« schrieen die Leute im Armenhaus. Sie dachte gar nicht, was für ein Wunderwerk da bereitet war. Wie aus Silber lagen sie in den Tannenzweigen, eins neben dem andern, kleine und große – und in dem tauigen Grase glänzten sie. »Sieh ock«, sagte Saleck und wies auf diese Schleier aus Silberfäden, in denen die blinkenden, blau und rot funkelnden Tautropfen wie Diamanten hingen – daß Mathilde gar nicht übele Lust bekam, wie ein Kind zu spielen, sich selbst, was sie niemals im Leben gedacht hätte, zu schmücken. Aber die Tautropfen fielen nieder, und die feinen Silbernetze waren nicht für ihre derbe Arbeitshand, und sie war fast erschrocken, und dann wurde sie ausgelassen und sprengte das Nasse ihm in seine Augen, daß er auch lachte. So gingen sie.
In der Fabrik waren jetzt die Leute daran gewöhnt, daß sie miteinander kamen. Und wenn sich höhnische Worte und Blicke hervorwagten – es machte ihnen gar nichts, sie waren fleißig, und Werkmeister und Herren achteten sie, weil sie willig waren und still und nicht von der Arbeit aufblickten, um zu verdienen. Mathilde wie immer, denn es war ihre Art, daß sie versank in das, was sie tat, und Saleck, weil er Mathilde liebte und ans Sparen dachte. So war auch er nun ein ganz besonderer Arbeitsmann. Sie gingen und kamen, es war eine gute Zeit für sie, und wohnten drüben in dem kleinen Nachbardorf, sie oben in der Dachwohnung bei ein paar alten Leuten. Und wenn Feierabend kam, und Mathilde sich sauber gewaschen hatte, trat der kleine Huckige bei ihr ein, ohne ein Wort fast, sie wußte es schon. Er saß dann immer in ihrem Zimmerchen, und sie sorgte für ihn. Sie machte auf ihrem kleinen Eisenofen an der Tür die Abendsuppe, und er hatte aus den Läden etwas eingekauft und steckte ihr beim Eintreten unversehens eine Süßigkeit in ihren frischen Mund, während sie emsig ins Brodeln des Wassers oder ins Aufwallen der Suppe hineinstarrte. Es war still und traulich. Sie wehrte sich gleich, weil sie erschrocken war, sie dachte, er wolle sie necken oder sie küssen. Und das litt sie nur selten. Aber eine Süßigkeit, da lachte sie und verzehrte sie mit gutem Gesichte, wobei sie ihm einen Blick zuwandte und lange auf ihm ruhen ließ. Und wie Weihnachten näherkam, hörten sie oben in ihrer Dachstube manchmal Weihnachtsgesänge. Seltsame alte Stimmen kamen aus dem Nebenraum. Sie wohnte bei einem alten Paar, das sie beide kaum kannten. Es waren alte Tischlersleute. Fromme Leute mußten es sein. Mathilde machte sich eine ganz steife, fast unheimliche Vorstellung, wie es Saleck sagte. Sie dachte fast, als wenn sie Scheu haben müßte vor ihnen. »Fromme« – nun ja, fromm war ihr im Leben nicht groß vorgekommen. Der Heintke im Gemeindehause und die Mutter, die sich mit der alten Schwiegermutter ewig zankte, die wußten nichts davon. Auch in der Fabrik kam nichts Frommes weiter vor. Weder unter den Jungen noch Alten, weder unter den Werkmeistern noch unter denen, die als Herren oder als Portier hindurchgingen. Alle dachten nur, wie sorge ich am besten, daß viel gearbeitet und noch mehr verdient wird. Von Frommheit war da gar nicht die Rede. Mathilde hatte eine ganz drückende Vorstellung. Sie dachte schließlich, daß fromm die Leute wären, die wie der Pastor gegen Unsitte und Rohheit sprächen, oder die wie der Kantor mit ernstem Gesicht und vorwurfsvollen Worten schalten, wenn man ein paar Sprüche aus der Bibel nicht wörtlich herbeten, oder gar den Anfang eines Gesangbuchverses nicht finden konnte. So ungefähr fiel es Mathilde ein, wie Saleck sagte, daß die Leute fromm wären, bei denen sie Quartier hatte. Die beiden Alten aber waren wirklich fromm, das konnte man an der stillen Feier hören, die in das Stübel aus der benachbarten Dachwohnung herüberklang, wie Weihnachten sich nahte. Man mußte an ganz versunkene selige Mienen denken. Und wenn der dunkle, zitternde Baß verklang und sich die sanfte Stimme der Frau hinzudrängte, da wurden Mathilde fast die Augen naß, so war sie im Augenblick überrascht und hingenommen. Und fast verlegen, wenn es Saleck zufällig gesehen hatte. Fromme Leute. Es war ihr plötzlich ein reines Staunen. –
Und die alte Frau, die klein und behaglich und gütig war, war auch einmal zu ihr hereingekommen, einmal und noch einmal und hatte mit Mathilde freundliche Worte gemacht. Sie hatte sie gelobt, daß es immer ordentlich und still in ihrem Stübel wäre: »Wir sind Alte und haben die Jugend gern,« hatte sie gesagt, »und es freut uns, daß Sie arbeitsam und fleißig sind, und Friede und Stille bei Ihnen wohnt.« Mathilde war ganz verlegen geworden, wie es die Alte sagte, daß sie erst nachträglich sich erinnerte, wie die ergraute Frau im reinlichen Häubchen hinzugesetzt: »Mein Mann kann nur noch auf dem Sofa sitzen, er ist schon fünfundachtzig Jahre alt.« Das hatte Mathilde nie erfahren, daß man sie um der Arbeitsamkeit willen lobte. Sie war ganz verlegen. Sie stand ganz andächtig vor der alten Tischlersfrau, vor der alten Frau Weber, und dachte im stillen auch daran, daß es dieselbe Alte wäre, die immer in den Baß einfiel mit so lauter, zarter, hoher Stimme, daß sie Tränen bekam und konnte gar nicht recht denken, daß solche Andacht und solche Freude unter den grauen Scheiteln und unter den tiefen Runzeln wohnen könnte. Dann war ihr den ganzen Abend weihevoll. Und wie Saleck kam, erzählte sie es ihm fast aufgeregt, und sagte jetzt auch, es sind fromme Leute, wobei sie schon viel mehr begriff, ganz nur voll Liebe es sagte, mit einer sanften Entzückung, die sie gar nicht vorher gekannt hatte, auch alles erzählte und wiederholte, was Frau Weber ihr flüchtig angedeutet: Daß Webers Kinder alle in der Ferne wären, daß der Mann nur noch auf dem Sofa sitzen könnte, aber im Leben fleißig und sparsam gelebt und gesund geblieben wäre, bis zum fast fünfundachtzigsten Jahre, wobei sie vor allem nicht vergaß, zu sagen, daß die Alte ihr den hellen Scheitel gestreichelt, gesagt hätte, daß sie die Jugend liebte, und daß sie sich gar freuten, beide – auch der Alte –, wie stille, arbeitssame Leute sie, Mathilde und der Krumme wären. Ein seltsames Bewegen und Erregen war plötzlich in Mathilde gekommen, als wenn sie auf einmal wie einen Vater und eine Mutter fühlte, die sie gar nicht gekannt, und die sie heimlich liebevoll, fast durch die Wände sähen und ihr zuhorchten. Und sie begriff nun noch mehr, wenn sie fromm sagte, wenn sie von frommen Leuten sprach und hatte ihren Pastor, der immer Worte und Regeln gab, die man lernen mußte, und gar ihren Lehrer, der mit dem Rohrstock in der Hand erwartete, daß man sie hersagen und nicht stottern oder stammeln müßte, ganz vergessen.