Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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Mathildes Abschied von den Böhmischen

»Gib mich die Kette noch, die ich dich gegeben, wie du kamst, Kind«, sagte die dunkle Narbige.

Und Mathilde öffnete noch einmal ihren Schub, ehe ihn der Dienstmann holen sollte. Sie kniete davor, sie weinte. Es hatte ein Zusetzen gegeben im ganzen Hause. Denn alle empfanden es fast wie eine Beleidigung: alle empfanden, als wenn die stolze, harte Miene, die immer mehr in Mathilde in jenem Hause aufgewachsen war, ihnen und dem Leben im Schnapsgeruch und unter lotterigen Mannsleuten, die nachts betrunken heimkamen und mit ihren Weibern stritten, gegolten hätte. Als wenn Mathilde mit ihrem Hinausausdemhaus offen und unverschleiert sagen wollte: »Ich bin nur froh, daß ich fortkomme, ich verachte euch.« Und alle hatten sich zusammen getan, da es Sonntag ganz früh im Herbst war. Die Weiber standen auf den Treppen und raunten und sagten untereinander: »So ein Luder – die kann's ni aushalen.« Und die Böhmischen traten hinzu, entrüstet und sagten: »Diese undankbare Kröte, was hab ich nicht gegeben alles diesem Kinde. Nun hat sie eingeheimst – nun ist sie grob und will allein sein.« Und sie waren hineingerannt, und es hatte einen Streit gegeben, denn die Böhmischen sagten auch Gemeines, sie verdächtigten sie. »Willst wohl allein sein – wie die Bezahlten –«, sagte die Dunkle, und der Schlosser sah in die offene Tür und schrie lachend: »Ju, ju, die is ei a besten Juhren, mit der gefällt's jedem, hahaha.« Sie war in einer unsinnigen Aufregung, Mathilde und weinte; und es waren wieder die Tränen, die heiß und unbändig und unbegreiflich rannen, als wenn sie plötzlich über alles weinte, was sie umgab, und was sie zu leben bestimmt war. Sie hatte ihre Sachen sorgfältig eingepackt, ohne groß darauf zu sehen. Sie kniete am Schube und auch an ihrem Korbe, denn sie hatte schon manches gute Stück. Aber alles schwamm in Tränen, wie unsicher, und sie hatte kein Stück mehr recht angesehen. Es war ihr alles gleichgültig, und wie wenn eine Folterstunde vorüber müßte, so hielt sie sich, ohne ein Wort hinzuzutun, und hastete. Im Grunde hätte sie allen an die Gurgel springen mögen, aber was um Himmels willen wäre es gewesen. Und man hörte den Schlosser noch einmal auf der Treppe lachen: »Wenn se alleene wohnt, verdient se au' mehr«, so daß es bis in die Stube klang, und sie an diesem Tage sich gar nicht mehr raffen konnte. »Nur hinaus – nur hinaus.« Es kam ihr die Nacht im Gemeindehause ein, wo sie auch gedacht hatte: »Nur hinaus! hinaus! aus der Schande und dem Unleben.« Und sie weinte und hastete, wobei die Narbigen zornig im Zimmer umhergingen und die eigenen Sachen kontrollierten und zählten, wie um ihr zu zeigen, daß sie ja nichts etwa ihnen noch entwenden sollte.

»Was haben wir dem Dinge alles in'n Rachen gestoppt«, sagte die eine und sah verächtlich wieder auf die Kniende. Der Herbst war schön und im Hofe der Kirschbaum sah aus wie ein Bukett aus Karmoisin.

»Alles! – Was sind wir dumm«, gab die andere zurück.

»Hier habt'r euern Dreck«, sagte Mathilde, und jetzt waren ihre Mienen auch trocken. Und sie begann einige Sachen wieder aus dem Koffer hervorzuwühlen und sie ihnen verächtlich aufs Bett zu werfen.

»Das Kleid, was soll uns das,« sagte die Dunkle, »ich brauche nichts von dich!«

»Ich au ni – ich verdien mir genung – ich brauch au nischt.«

Aber die andere Narbige ging, und sah und befühlte es.

»Du läßt's liegen«, sagte die Dunkle und die Böhmischen schwiegen eine Weile, obgleich Verachtung aus ihren Leibern ausging und innere Wut, daß sie die Junge im Stolze so übertraf. »Du läßt es liegen«, sagte dann die Dunkle noch einmal, als es die andere doch noch besehen und befühlen wollte.

»Lußt's liegen oder nee, mir gehiert's ni mehr«, sagte Mathilde und kramte und wühlte weiter. Sie brachte auch zwei Hemden heraus.

»Das ha ich au vo euch, hie!« und sie warf es auf den Tisch – »und hie – die Strimpe, die ha ich au vo euch – und das Büchel – nee – das kann ich euch ni gähn – ich war euch ees keefen. Ich hab was nei geschrieben.«

»Ich brauche nichts von dich!« sagte noch einmal die Dunkle.

Aber Mathilde ließ sich nicht stören. Sie hatte in der Tat vieles von den Böhmischen. Und sie kramte und sie wühlte alles herbei, kleine, liebe Dinge aus dem Schube, einen kleinen Spiegel, den ihr die Dunkle mit lustigen Worten und in Liebe geschenkt, daß sich die Alte plötzlich an alles erinnerte, wie es gewesen war, und wie sie an dem kräftigen, kernigen Mädel wirklich gehangen – und sie begann auf einmal in Wut zu weinen und zu schreien, daß Mathilde eine Undankbare wäre, daß sie sie gehalten hätte wie ein Kind, daß sie ihr alles gern gegeben hätte und mit Liebe, und daß es gar nicht hübsch wäre – wenn sie sie nun plötzlich um eines solchen krummen Kerles willen mißachtete; und sie fing an, in sie auch sogleich fast hündisch hineinzubitten: »überleg' dir doch, Kind – der Kerl wird dich nicht erhalten!«

»Mich braucht kees erhalten«, sagte Mathilde. »Was ich brauch, verdien ich.«

Und die Dunkle bat und fragte wieder: »Warum willst du denn fürt?«

»Mach dich nicht lächerlich,« sagte die andere steif, die nicht so weich und zerrissen war, »das Mädel wird dich zu Gefallen hierbleiben! Die – die müßte nicht Hochmut haben bis hierher.«

»Nee, ich bleibe au ni – und wenn ihr tut, wie die Verwirrten«, sagte Mathilde ganz rücksichtslos und sie warf noch eine kleine Schachtel auf den Tisch, in der eine niedliche Brosche lag.

»So,« sagte jetzt sofort die dunkle Narbige, die eben noch geweint hatte – »so? – also, du bleibst nicht, und wenn ich auch noch so verwirrt tu – du« – und sie war ganz nahe an sie herangetreten und ihre Augen fingen an, Haß zu sprühen.

»Kumm mir ni nahnde«, sagte Mathilde gelassen.

»Kumm mir ni nahnde«, fieberte die Dunkle.

»Luß sie – gutt, wenn sie furt ist«, sagte nun die andere.

»Gib unsre Sachen heraus!« schrie jetzt auf einmal die Dunkle, »gib unsre Sachen heraus!« – schrie sie noch einmal und war in sinnloser Erregung zur Tür gerannt, als wenn sie plötzlich noch Hilfe brauchte – und es guckten auch gleich einige Frauen herein, die im Hause gelauscht hatten. Und sie schrie noch einmal, wie Mathilde über dem Korbe gebückt gesessen und überlegt hatte – »gib alles, es ist noch nicht alles! – Hier seht einmal – das – das« – und sie hob Stück für Stück, um es denen draußen zu zeigen und schrie dazu – »seht das – das – das – das alles hat dieses Luder von uns und verachtet uns, dieses Weibsstück.« Und sie nahm das Kleid, das sie den Frauen draußen an der Tür hinhielt, daß sie es befühlen konnten, und daß sie gewichtige Gesichter machten, erstaunt und zustimmend, was der Narbigen noch mehr Mut gab. »Gib die Sachen heraus – alles!« – schrie sie noch einmal wütend Mathilde an, die immer noch sann: »Ich wiß nee.«

»Du weißt nicht. Sie weiß nicht – die Tück'sche weiß nicht, was sie sich nehmen will. Gib auch die Kette!« schrie sie.

»Jeses, die Kette – richtig – hie –« Mathilde wühlte.

»Und den Ring!« schrie die Dunkle.

Mathilde war fast verlegen, so tat es ihr leid, daß sie sich nicht gleich erinnert hatte, und es mischte sich auch ein Gefühl der Verwunderung hinzu, wieviel ihr die Narbigen zuerst gegeben und liebevoll beigestanden, und es war ihr, als wenn etwas Freundliches in ihr aufleuchte, daß sie jetzt von neuem bitterlich zu weinen anfing und ihren Ring abstreifte und hinlegte. Und wie Mathilde noch einmal weinte, wurde es stille. Denn auch den andern war es peinlich, daß die Weiber noch immer hereinsahen, neugierig und dreist, und die Dunkle sagte:

»Es ist alles, – lußt sie in Ruh.«

»Ich will nischt mitnahma vo euch« – weinte Mathilde und sah ihre Sachen an.

»Es ist alles, – lußt sie in Ruh.«

Und die Dunkle begann ruhig zu werden, und die Böhmischen sahen einander an, die eine mit Zorn fast, daß die Dunkle ganz schwieg, und daß die Weiber in der Tür auch sofort sich langsam zu rühren und zu verschwinden begannen. Es war eine Stille eingetreten. Mathilde weinte – der Dienstmann polterte die Treppe empor, und Mathilde sagte noch einmal, indem sie sich die Nase putzte und erschrocken umsah:

»Sagt, ob ich noch was ha'!«

»Es ist alles –« sagte die Dunkle wütend, aber verhalten.

Und Mathilde schloß den Korb und den Schub und blickte sich noch einmal um und sah nur noch, daß die Dunkle sich vor der andern fürchtete und nichts zu sagen, auch keinen verächtlichen Blick mehr nach ihr zu werfen wagte. Und sie half dem Packträger den Korb auf die Schulter heben und griff selbst am Schube an, um ihn die Treppe mit hinunter zu tragen. So zog sie, verfolgt von manchem Auge, um unklarer Gefühle willen, die ihr Hinausfliehen erregte, um Neid, weil sie frei und hart lebte, um Eifersucht, weil sie reinlich und jung und voll Kraft war. Es war Sonntag Morgen, es trieben sich Hemdärmlige lässig auf den Treppen herum, standen im Hausflur und sahen nach ihr, die hinaustrat, von Saleck erwartet.


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