Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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3.

Nur wirkliche Anschauung konnte die hartnäckig fortdauernde Meinung, daß Athen zerstört sei, beseitigen, und dies war das Verdienst französischer Jesuiten und Kapuziner. Jene hatten im Jahre 1645 Aufnahme in Athen gefunden; als sie von hier nach Negroponte fortzogen, nahmen die andern ihre Stelle ein. Die Kapuziner kauften von den Türken im Jahre 1658 das Denkmal des Lysikrates, die sogenannte Laterne des Demosthenes, und bauten daneben ihr Kloster. Dies anmutige Monument des theatralischen Kultus der alten Athener wurde der Ausgangspunkt für die Wissenschaft von der Topographie und den Altertümern Athens. Die französischen Mönche entwarfen die ersten Pläne der Stadt. So leisteten jetzt Franzosen der Wissenschaft Dienste, welche ihre Stammgenossen zur Zeit der burgundischen Herzöge ihr schuldig geblieben waren. Sogar Gesandte Frankreichs besuchten Athen von Konstantinopel aus. Wenn der dortige Botschafter Ludwigs XIII., Louis de Hayes, bei seinem Besuche im Jahre 1630 nur einen flüchtigen Blick der Neugierde auf die wunderbare Stadt warf, so hatte der Aufenthalt des Marquis de Nointel im Winter von 1674 zu 1675 wichtige Folgen. Jacques Carrey zeichnete für ihn die Skulpturen des Parthenon, und der Italiener Cornelio Magni verfaßte einen Reisebericht. Noch vor dem Besuche Nointels veröffentlichte in demselben Jahre 1674 der gelehrte Arzt Spon zu Lyon eine Schilderung Athens, die vom Jesuiten Babin, der dort lange gelebt hatte, für Abbé Pécoil, den Hausgenossen des Marquis in Konstantinopel, aufgesetzt worden war. Sein aus Smyrna am 8. Oktober 1672 datierter Bericht gab den wesentlichen Anstoß zur genaueren Erforschung der Stadt. Im Jahre 1675 erschien Guillets Buch über das alte und neue Athen. Dieser Franzose war niemals dort gewesen, aber er hatte Babins Brief benutzt und andre Mitteilungen wie auch den Stadtplan von den Kapuzinern erhalten, was sein Werk höchst wertvoll machte.Athènes anciennes et nouvelles et l'état présent de l'empire des Turcs. Avec le plan de la ville d'Athènes, ed. 3, Paris 1676, in 12. Sodann trat Spon selbst auf. Von dem Engländer Sir Georg Wheler begleitet, kam er nach Athen im Januar 1676. Seine Forschungen begründeten die moderne Wissenschaft der athenischen Altertumskunde.

Es ist der Bemerkung wert, daß die Reisenden jener Zeit keine Franken mehr in Athen vorfanden. Cornelio Magni sah daselbst von solchen nur den französischen Konsul Chataignier und den englischen Konsul Giraud, gebildete Männer, die allen wißbegierigen Besuchern als Führer dienten. Unter den städtischen Familien ersten Ranges zeichnete er die Chalkokondyli, Palaiologen, Beninzeloi, Limbona, Preuloi und Cavalaroi aus, von denen einige lateinischen Klanges sind.Relaz. della città d'Athene colle provincie dell' Attica, Focia, Beozia e Negroponte von 1674. Parma 1688, p. 36. – Dazu Spon II, p. 130. Zur Zeit Nointels befand sich in Athen ein deutscher Abenteurer vielbewegten Lebens, Georg Transfeldt aus Strasburg in Westpreußen. Fragmente seiner latein. Selbstbiographie hat Adolf Michaelis veröffentlicht: Examen reliquarum antiquitatum Atheniensium (Mitteil. d. D. Arch. Inst. in Athen, 1876). Die Beninzeloi scheinen italienischer Abkunft gewesen zu sein. Aus ihrem Hause stammte Johannes, ein gelehrter Athener des 18. Jahrhunderts. Die Chalkokondyli gehörten der geschichtlich bekannten Familie an; ihr Name aber hatte sich in der Aussprache des Volks zu Charkondyli verändert. In der Stoa des Gymnasiums Hadrians, wo die Kirche der Taxiarchen stand, bezeichnen Graffitinschriften des 16. Jahrhunderts eine Louize und einen Michael Charkondyle. Aus der Frankenzeit erhielten sich überhaupt noch manche Taufnamen in Athen, wie Guliermos, Phinterikos, Benardes, Linardis, Nerutzos (Nerio).Zesios im Deltion der histor. Gesellschaft II, p. 26ff. Jene Kirche scheint von Michael Chalkokond. erbaut oder hergestellt gewesen zu sein. Auch während der Türkenzeit bauten fromme Athener noch Kirchen. Das Geschlecht der Chalkokondyloi dauert dort noch heute fort.

In demselben letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, wo gelehrte Reisende, Franzosen und Engländer, das Abendland über die noch vorhandenen antiken Reste Athens aufklärten, ereignete es sich auch, daß die ehrwürdige Stadt durch Kriegsgewalt den Türken plötzlich entrissen wurde. Das Reich der Sultane, so lange der Schrecken Europas, begann sich dem Verfalle zuzuneigen. Das Grundgesetz des Koran, wonach es nur zwei Menschenklassen gab, Mohammedaner und Ungläubige, wie es für die antiken Griechen nur Hellenen und Barbaren, für die Juden nur Anhänger Jehovas und Heiden gegeben hatte, dies mit den modernen Weltverhältnissen unvereinbare Dogma war das Todesurteil des osmanischen Sklavenstaats. Er verdammte sich dadurch zu ewiger Barbarei. Er vermochte nicht, über den Zustand roher Unterdrückung der unterjochten Völker hinauszukommen. Aus den herrlichsten Ländern der Erde, aus denen die türkische Herrschaft durch Eroberung zusammengesetzt war, konnte dieselbe kein Kulturreich gestalten, wie es ehemals jenes Alexanders und dann das byzantinische gewesen war. Der Staat der Asiaten blieb eine feindliche Anomalie in Europa, in dessen System er sich nicht einfügte, an dessen volkswirtschaftlicher und geistiger Entwicklung die Türkei aus Stumpfsinn und religiösem Fanatismus keinen Anteil nahm. Sie war nur furchtbar solange, als der stürmische Eroberungstrieb in den Osmanen vorhielt, durch die politische Beschaffenheit des Okzidents Nahrung fand und von den militärischen Einrichtungen Orchans, Mehmeds und Suleimans getragen wurde. Sie verdankte schließlich ihre Fortdauer nur dem Umstande, daß der Besitz Konstantinopels zu einer unlösbaren Frage wurde, die den unermeßlich wichtigen Gegenstand für die Furcht und die Eifersucht der christlichen Mächte abgab. Die Lösung zu vertagen blieb daher deren ängstliches Bemühen, und noch in unserer Zeit durfte ein Alexander dem Namen nach, dessen siegreiche Heere zu S. Stefano an den Toren von Byzanz lagerten, nicht den Mut fassen, diesen gordischen Knoten der modernen Politik mit dem Schwert zu durchhauen, wie das ehemals der kühne Doge Dandolo gewagt und getan hatte.

Durch den dreißigjährigen Krieg und seine Wirkungen waren den Sultanen die letzten Eroberungen möglich geworden. Wallensteins kühner Plan der Teilung der europäischen Türkei konnte nicht ausgeführt werden. Die christlichen Mächte ließen es zu, daß der Großwesir Ahmed Köprili im Jahre 1669 den Venezianern die Insel Kreta entriß. Erst das Jahr 1683 brachte mit dem Entsatze Wiens eine Wendung herbei: die Rückflut der Türkenmacht nach dem Süden. Nicht nur mußte der Sultan Ungarn aufgeben, er verlor auch Morea. Die vom Mittelmeer ausgeschlossene Republik Venedig machte, im Verein mit dem Mächtebunde, eine verzweifelte Anstrengung, ihre alte Stellung in der Levante wiederzugewinnen. Die Befreiung Griechenlands, der unablässige platonische Traum der Philhellenen Europas und die Sehnsucht der geknechteten Griechen war seit dem Falle Konstantinopels und Athens der Verwirklichung niemals so nahegekommen, als in dem Türkenkriege Venedigs seit 1685.

Nach dem Siege bei Patras riefen Abgesandte der Athener den Generalkapitän Francesco Morosini zur Befreiung ihrer Vaterstadt herbei. Die Flotte der Republik lief am 21. September 1687 in den Piräus ein. Zum dritten Male besetzten die Venezianer Athen. Königsmark belagerte die Akropolis. Am 26. zertrümmerte der unglückliche Wurf einer Bombe die Hälfte des Parthenon, der bisher die Stürme von mehr als zweitausend Jahren überdauert hatte. Die türkische Besatzung der Burg ergab sich und zog, nebst 2500 mohammedanischen Einwohnern der Stadt, nach Kleinasien ab. Allein der Freiheitsrausch der Athener währte nur bis zum 9. April 1688, wo Morosini, eben erst zum Dogen ernannt, das unhaltbare Athen wieder aufgab. Die Aushebung der Bildsäulen vom Westgiebel des Parthenon, die er als Trophäen mit sich nehmen wollte, mißlang; die Figur des Neptun, der Wagen der Siegesgöttin mit beiden Rossen und andere Gebilde von Marmor stürzten herab und zerstäubten. Morosini entführte nur unversehrt die athenischen Löwen, die noch heute vor dem Arsenal Venedigs stehen, Denkmäler der verunglückten Befreiung Griechenlands und der Plünderung der Kunstwerke Athens, Seitenstücke zu den bronzenen Rossen über dem Portal S. Marcos, den Denkmälern der Plünderung Konstantinopels im Jahre 1204. Die um ihre Hoffnungen betrogenen Athener retteten sich auf venezianischen Schiffen vor dem Grimm der wiederkehrenden Türken, indem sie in Salamis, Ägina und auf den Kykladen, welche die Republik erobert hatte, Zuflucht fanden. Drei Jahre lang blieb die Stadt verlassen, bis der Sultan infolge der Verwendung des byzantinischen Patriarchen im Jahre 1690 den Athenern Amnestie gab und ihnen die Rückkehr in ihre verbrannte und halbzerstörte Heimat gestattete.Flehentliches Bittgesuch der exilierten, vom Patriarchen aus unbekannten Gründen vorher exkommunizierten Athener an diesen: Surmelis, Katastasis, p. 71 ff. Aus dieser dreijährigen Verlassenheit Athens hat bekanntlich Fallmerayer, durch die sogenannten Fragmente aus dem Kloster der Anargyri verführt, eine vierhundertjährige gemacht und sie in die Zeit vom 6. bis 10. Jh. verlegt.

Der Friede von Karlowitz am 26. Januar 1699 sicherte der Republik Venedig den Besitz Moreas, doch nur kurze Zeit konnte sie die Halbinsel behaupten. Das zwar innerlich zerrüttete, aber noch immer kriegstüchtige Türkenreich zog aus den Umwälzungen Europas im Beginne des 18. Jahrhunderts neue Frist und sogar neuen Gewinn. Ahmed III., der Überwinder Peters des Großen, entriß den Venezianern Morea wieder im Jahre 1715, und obwohl durch die Siege des Prinzen Eugen zu großen Verlusten an Österreich genötigt, behielt er doch im Frieden zu Passarowitz am 21. Juli 1718 den Peloponnes. Die Artikel dieses Friedens gewährten den Griechen die persönliche Freiheit.

Die flüchtige Besitznahme Athens durch die Venezianer hatte den Altertümern der Stadt unersetzliche Beschädigung zugefügt und dem Volke neues Elend gebracht. Nur die Wissenschaft verdankte dem Kriegszuge Morosinis manchen Vorteil. Die venezianischen Ingenieure Verneda und San Felice entwarfen damals einen genaueren Plan der Akropolis und der Stadt; Fanelli veröffentlichte ihn in seinem Buche ›Das attische Athen‹. In diesem behandelte er auch mit einigen Zügen die Zeit der fränkischen Herzöge.Atene Attica descritta da suoi principii sino all' acquisto fatto dall' armi venete nel 1687 con varietà di medaglie, ritratti et disegni, Venezia 1707, 4.

Die Schicksale Griechenlands während der Frankenherrschaft hatte schon im Jahre 1657 Du Cange, der unsterbliche Begründer unserer Kenntnis vom byzantinischen Mittelalter, durch seine ›Geschichte des Reichs von Konstantinopel unter den französischen Kaisern‹ aufgeklärt. Es ist merkwürdig, daß die Franzosen hierauf das Feld dieser Studien, und besonders die Erforschung Athens, für geraume Zeit andern Nationen, zunächst den Engländern, überließen. Seit den Tagen Buckinghams und Arundels war in England der Enthusiasmus für Sammlungen hellenischer Kunstwerke lebhaft geworden; eine Leidenschaft, die noch in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts die Plünderungen Elgins verschuldete. Reiche Lords schickten ihre Agenten nach Griechenland und dem Orient, oder sie unternahmen selbst dorthin Reisen, wie Lord Claremont, für den Richard Dalton im Jahre 1749 Zeichnungen von athenischen Monumenten und Bildwerken machte.

Die Frucht der Mühen ausgezeichneter Künstler, Stuarts und Revetts, die seit 1751 die Stadt durchforschten, war ihr großartiges Werk ›Die Altertümer Athens‹. Es schlossen sich daran andre durch die seit 1734 zu London gegründete Gesellschaft der Dilettanten veranlaßte Untersuchungen, die im Jahre 1776 in Chandlers Reisen in Griechenland, niedergelegt wurden. Die Forschungen der Engländer setzten sich dann bis ins 19. Jahrhundert eifrig fort. Griechenland, welches dem Genius Lord Byrons einen dankbaren Kultus widmet, wird auch die Verdienste von Männern wie Martin Leake und Georg Finlay nicht so bald vergessen.

So erwachte die Liebe des Menschengeschlechts zu Athen wieder durch die zur Macht gewordene Wissenschaft. Diese enthüllte vor den Blicken aller für das Ideale Empfänglichen das Gemälde der ehemaligen Herrlichkeit der Stadt, welcher die Welt ihre feinste Bildung zu verdanken hatte; und sie verbreitete in allen gesitteten Ländern eine zweite Renaissance des Hellenismus, die der wirklichen Befreiung Griechenlands wie eine Morgenröte voraufging.


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