Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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2.

Die nächst Kreta größte Insel im ägäischen Meer war während der byzantinischen Zeit kaum ein Gegenstand für die Aufmerksamkeit der Geschichtsschreiber gewesen. Sie hatte ihren antiken Namen mit dem vulgären Egripos vertauscht, der aus dem Wort Euripos entstanden war und dann im Munde der Italiener zu Negroponte wurde.Ed. A. Freeman, The historical geography of Europe, London 1881, I, p. 409. Es ist pars pro toto, wie auch ganz Kreta von einem Orte Candia genannt wurde. Schon Konstantin Porphyrogennetos, De Caerimoniis, II, p. 657, gebraucht Χρήπου (besser ’Εγρίπου), auch Mich. Akominatos nennt die Insel bisweilen Euripos. Innozenz III. sagt abwechselnd Ägripons und Negroponte. Benjamin von Tudela hat die Form Egripu. Die griech. Chronik von Morea gebraucht nur Εύριπος. Von den alten Städten Chalkis, Eretria und Hestiaia, von Ädepsos, Athenä-Diades, Karystos und anderen waren die meisten bis auf wenige Trümmer verschwunden, einige aber dauerten verwandelt fort. Chalkis, die ehemals mächtige Nebenbuhlerin Eretrias, die Gründerin vieler Kolonien in Thrakien und Süditalien, behauptete ihre Stätte am schmalen Sunde, dessen vulgären Namen sie selber annahm.

Wenn der Megaskyr die Geschichte des Altertums gekannt hätte, so würde er sich erinnert haben, daß zur Zeit des Perikles ganz Euböa den Athenern gehört hatte. Die Lage der fruchtbaren, an den Küsten Böotiens und Attikas hingestreckten Insel gab ihr für Athen eine besondere Wichtigkeit. Ihr Besitz würde den Herrn dieser Länder zu einem großen, auch im Archipel gebietenden Fürsten gemacht haben. Allein nur die Bistümer Euböas waren seit alters der athenischen Metropole zugewiesen, während das Inselland an fremde Eroberer gekommen war.

In der byzantinischen Teilungsurkunde hatte sich Venedig ausdrücklich Oreos im Norden und Karystos an der Südküste zusprechen lassen, die bedeutendsten Hafenplätze nächst Chalkis oder Negroponte. Karystos hatte seinen Namen niemals verändert. Seine Akropole dauerte fort, und selbst am heutigen Tage steht noch auf dem Ochaberge über der Stadt ein uralter Bau im Stile der Thesauren.Ulrichs, Reisen u. Forsch. in Griechenland, II, S. 152. In der römischen Kaiserzeit war Karystos durch seine Brüche grünen Marmors berühmt gewesen und ein lebhafter Handelsplatz.

Die Venezianer nun fanden sich, trotz ihrer verbrieften Ansprüche, nicht imstande, von Euböa Besitz zu nehmen. Sie hatten es dulden müssen, daß ihnen der König Bonifatius zuvorkam. Wahrscheinlich wollte sich dieser hier für das abgetretene Kreta schadlos machen. Gleich nach dem Falle Thebens und Athens eilten die dadurch erschreckten Griechen Euböas, den kriegerischen Mut jenes Eroberers zu besänftigen, indem sie ihm durch Abgesandte ihre Unterwerfung unter sein Gebot ankündigten.Niketas, Urbs capta, p. 805ff . Der König-Markgraf übertrug hierauf seinem Freunde, dem flandrischen Ritter Jacques d'Avesnes, die Besitznahme der Insel, und dieser führte dorthin, von seinen Neffen aus dem Hause St. Omer begleitet, eine lombardische Kriegerschar, worunter sich auch tapfre Männer vom Geschlecht dalle Carceri Veronas befanden, Ravano, Pecoraro und Giberto. Avesnes errichtete alsbald ein festes Kastell am Euripos, verließ jedoch bald Euböa, um den Fahnen seines Gebieters Montferrat zu folgen, und er starb schon im Jahre 1209. Die Carceri aber setzten sich dort bleibend fest. Der König von Thessalonike betrachtete demnach die Insel als durch das Recht der Eroberung ihm eigen. Er richtete darin Baronien ein, wie er das in Bodonitsa, Salona und Athen getan hatte. Der geographischen Beschaffenheit Euböas gemäß teilte er das Land in drei Lehen, Oreos, Chalkis und Karystos, woher die von ihm beliehenen Barone dieser Landschaften, Ravano, Pecoraro und Giberto, den Titel Terzieri oder Dreiherren erhielten.

Eine Zeit lang vereinigte Ravano diese Lehen, als Haupt jenes veronesischen Hauses, ein tapfrer Mann, vertrauter Freund Dandolos und der andern Helden des lateinischen Kreuzzuges, in deren Rate er eine einflußreiche Stimme besaß. So hatte der Doge ihn und den Venezianer Sanudo, welcher Naxos erwarb, als Unterhändler zu Bonifatius nach Adrianopel geschickt, um mit dem Markgrafen den wichtigen Vertrag zu vereinbaren, dessen Gegenstand die Abtretung Kretas an Venedig war.Sanudo, Vite dei Duchi di Venezia, ed. Muratori, XXII, p. 553. Da nun die Venezianer mit Euböa nicht mehr verfahren konnten wie mit jener Insel, so begnügten sie sich vorerst, eine Handelsfaktorei in der Stadt Negroponte einzurichten. Sie verpflanzten dorthin eine Kolonie wie in Konstantinopel und erlangten dann allmählich nicht durch Waffengewalt, sondern durch Verträge die Oberherrlichkeit über die schwachen Inselbarone. Schon Ravano, welcher sich der Empörung der Lombarden Thessalonikes gegen den Kaiser Heinrich angeschlossen hatte, mußte den Schutz der Republik anrufen. Er bekannte sich deshalb im Jahre 1209 zu ihrem Lehnsmanne. Dieser Vertrag war es, welcher die Herrschaft Venedigs über die Insel einleitete.Privilegium Ravani a. 1209 m. Martii Ind. XII, Rivoalte. Bei Tafel u. Thomas II, p. CCIV ff.

Nach einiger Zeit schickte die Republik einen ihrer Edlen als Regenten der Faktorei nach Negroponte. Der venezianische Bailo wurde bald genug der einflußreichste Mann auf der Insel, zumal dieselbe nach dem Tode Ravanos im Jahre 1216 wieder in Drittel- und auch Sechstellehen zerfiel, in welche sich die Verwandten desselben als Vasallen der Republik Venedig mit deren Genehmigung teilten.Concessio tercie partis Nigropontis facta Marino et Rizardo fratribus et filiis nob. viri Rodondelli de Carcere, 14. Nov. 1216, Nigropontis. Archiv Venedig, Lib. albus fol. 100; und Vertrag mit Guilelmus, dem Sohne des Giberto, fol. 102. Tafel u. Thomas II, p. 241ff.

Während so die venezianische Signorie die tatsächliche Herrlichkeit über die Terzieri Euböas erlangt hatte, beanspruchte auch der Fürst Achaias die Rechte (omaggi) des Lehnsherrn über sie, denn solche sollte schon dem ersten Villehardouin wenn nicht der Markgraf Bonifatius, so doch der Kaiser Heinrich zu Ravennika verliehen haben. Dem Fürsten Gottfried aber war zum Lohn für seine Befreiung Konstantinopels im Jahre 1236 die Oberhoheit über Naxos und Euböa zugeteilt worden. In Wirklichkeit wurden die Terzieri als Pairs des Fürstentums Achaia angesehen.

Wilhelm Villehardouin sah mit Unwillen die Venezianer in Negroponte wie in Kreta schalten. Um dort festen Fuß zu fassen, hatte er sich mit Carintana, der Erbtochter des Dreiherrn Rizzardo dalle Carceri von Oreos, vermählt. Als nun seine Gemahlin im Jahre 1255 gestorben war, verlangte er, obwohl kinderlos, jenes Drittel als ihr Erbe.Du Cange, Hist. de Cp., I, p. 275ff. In die verworrene Geschichte der Dynastien Euböas hat erst Hopf Licht gebracht durch seine Monographie über Karystos und dann durch sein großes Geschichtswerk. Eine auf ihn gestützte Übersicht dieser Verhältnisse machte John Bury, The Lombards and Venetians in Euboea, Bd. 7 u. 8 des Journal of Hellenic Studies (1880ff.). Damals waren die angesehensten Terzieri der Neffe Rizzardos, Narzotto, und Guglielmo I., der Sohn Gibertos, Dreiherr von Mittel-Euböa, ein hervorragender Mann, welcher sich sogar als Gemahl Helenas, einer Prinzessin von Thessalonike, den Königstitel dieses Landes beigelegt hatte. Da er diese große Würde anzunehmen wagte, muß Helena, deren Vater unbekannt ist, zum Hause des berühmten Bonifatius gehört haben, und vielleicht war sie eine Tochter von dessen Sohne Demetrios.C. Desimoni, Il Marchese di Monferrato Guglielmo il Vechio e la sua famiglia, Giornale Ligustico, 1886, p. 343.

Die Terzieri widerstrebten dem Plane Villehardouins; sie setzten daher, ohne auf ihn Rücksicht zu nehmen, Grappella dalle Carceri, einen ihrer Verwandten, in den Besitz von Oreos. Dies veranlaßte einen langen Krieg des Fürsten Achaias nicht nur mit den Dreiherren und den Venezianern, sondern auch mit dem Megaskyr und andern Dynasten in Hellas. Es war der erste Bürgerkrieg der Franken, und um so gefährlicher in einer Zeit, wo der Kaiser Johannes Batatzes, der Schwiegersohn des Hohenstaufen Friedrich II., zu großer Macht emporgestiegen war und sich rüsten konnte, solchen Zwiespalt auszubeuten. Deshalb ermahnte der Papst Alexander IV. den Fürsten Wilhelm zum Frieden und forderte außerdem den Bischof von Argos wie die gesamte Geistlichkeit Moreas auf, mit allen Mitteln für die gefährdete Erhaltung Achaias einzutreten.Buchon, Éclaircissements sur la Morée française, p. 167.

Fast das gesamte Geschlecht der Carceri verbündete sich mit dem Bailo Euböas, indem es den Schutz Venedigs nachsuchte. Auch Wilhelm la Roche trat nicht nur diesem Bunde bei, sondern er bewog sogar seinen Bruder, den Megaskyr, sich ihm anzuschließen.Verträge des Guillelmus de Verona, »dominus tercie partis...«, und des Narzotto mit dem Bailo, Negroponte 7. Jan. 1256; bestätigt daselbst 6. Aug. 1258. Unter den Zeugen Guillelmus de Rocha, dns. Villegordi. Tafel und Thomas III, am Anfange. Diese Verhältnisse erzählt Marin Sanudo, Hist. del R. di R., p. 103. Navagero, Stor. Ven. (Muratori XXIII, p. 997). Wilhelm war Vasall des Villehardouin für die Baronie Veligosti in Lakonien, welche er vom Hause Valaincourt erworben hatte. Trotzdem machte er mit dem Bailo einen Vertrag; er verpflichtete sich, der Republik Venedig im Kriege gegen den Fürsten zu dienen, wofür diese ihn mit Gütern in ihrem Gebiete auszustatten versprach.Der Doge Rainerio Zeno ratifizierte den Vertrag am 1. Sept. 1259. Tafel u. Thomas III, p. 342. Nach Marin Sanudo, p. 104, sollte Wilhelm eine Rente von 11 000 Solidi erhalten, falls er seine Besitzungen in Morea verlor.

Das Bestreben Villehardouins war nach dem großen Ziele gerichtet, alle jene Baronien, die der erste König von Thessalonike in Hellas gestiftet hatte, seiner Oberhoheit zu unterwerfen und die fränkische Macht in ein starkes Reich zu vereinigen. Da die Schwäche aller Frankenstaaten, wie es die Geschichte der Kreuzfahrer in Jerusalem und der Lateiner in Byzanz dargetan hatte, durch das Lehnssystem selbst verschuldet war, so machte er den Versuch, den losen Zusammenhang der Vasallen mit dem Staat monarchisch zu befestigen. Als er nun Hoheitsrechte auch über Theben und Athen beanspruchte, wollten das die La Roche nicht dulden. Der Megaskyr erklärte, daß er so gut wie Gottfried Villehardouin sein Land mit dem Schwert gewonnen habe, zwar Argos und Nauplia von ihm zu Lehen trage, aber ihm Malvasia zu erobern behilflich gewesen sei. Unklare Verhältnisse bei der ersten Besitznahme Griechenlands durch die Franken wurden von dem Fürsten zur Begründung seiner Ansprüche benutzt, indem er behauptete, daß schon der Markgraf Bonifatius dem Champlitte das Homagium Athens, Bodonitsas und der Dreiherren von Negroponte verliehen hatte.Griech. Chron. Moreas, v. 221ff., v. 1851ff. Daraus schöpfte Dorotheos von Monembasia, p. 461. Gleicher Ansicht ist Sathas (Chron. Galaxidi, p. 65). Buchon (Rech. hist. I, p. LXX) begreift Athen als erste der 12 Baronien Achaias, er stützt sich dabei nur auf einen Akt von 1301 bei Guichenon, Preuves, p. 127. Das ist richtig, aber nur für jene Zeit. Aus einem Briefe Innoz. III. (Baluze II, ep. 557) folgert Buchon, daß Otto la Roche Vasall Achaias war; weil darin von geistlichen Renten Thebens geredet wird, die dem Gaufridus »princeps Ach.« gehörten, »ratione feudi«. Aber auch der Megaskyr bezog Renten aus Korinth; obwohl Marin Sanudo behauptet, daß der Kaiser Robert Gottfried II. Rechte auf die Länder der La Roche und auf Bodonitsa verlieh, so beschränkt er doch jene selbst auf Argos und Nauplia und auf Zölle in Korinth (p. 100).

Es war ein kühner und keineswegs verwerflicher Plan des Fürsten Achaias, ganz Griechenland unter seinem Zepter zu vereinigen; seine Ausführung würde vielleicht dieses Land mächtig und gegen seine Feinde für lange Zeit widerstandsfähig gemacht haben. Allein Venedig, die Dreiherren Euböas, die La Roche und andere fränkische Barone setzten sich ihm entgegen. Seit dem Untergange des Königreichs Thessalonike waren die beiden Lehnsherren in Salona und Bodonitsa genötigt worden, sich an den Megaskyr Athens anzulehnen, woraus sich allmählich ein Verhältnis von Oberhoheit desselben über sie ergab. Alle diese Dynasten stellten, vereint mit den Euböoten und dem Herzog von Naxos, über welchen Villehardouin die Lehnshoheit erhalten hatte, eine Konföderation des Landes Hellas von den Thermopylen bis zum Isthmos dar mit dem Vorort Athen. Der Zweck dieses hellenischen Bundes war, sich die Unabhängigkeit vom Fürsten des Peloponnes zu sichern. So brach ein unheilvoller Bürgerkrieg unter den Franken Griechenlands aus.


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