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Der Kaiser Balduin übernahm die Aufgabe, erst Thrakien, dann auch das griechische Kleinasien zu erobern, wohin sich die lebensfähigen Reste des byzantinischen Staats unter Theodor Laskaris, dem Schwiegersohne Alexios' III., geflüchtet hatten. Das hellenische Festland vom Othrys bis zum Kap Tänaron sollte der Markgraf und König Bonifatius für das Pilgerheer erobern.
Altgriechenland war seit Jahrhunderten in seinem Zustande provinzieller Abgeschiedenheit festgebannt; erst die Lateiner gaben ihm eine neue Geschichte, und diese war fast so bunt wie im Altertum, aber von dessen Glanz und Geist so weit entfernt wie das Zeitalter der Assisen Jerusalems von jenem der demokratischen Verfassung Athens. Die beiden Themen Hellas und der Peloponnes befanden sich damals sowohl in gesetzloser Anarchie als in völliger Wehrlosigkeit. Der Umsturz der legitimen Reichsgewalt konnte am Ilissos und Alpheos nicht so sehr als ein nationales Unglück empfunden werden wie am Bosporos und Hellespont. Auch erkannte niemand die Tragweite und die Nachhaltigkeit der fränkischen Eroberung. Kein patriotisches Selbstgefühl bewaffnete und vereinigte die Griechen zum Widerstande gegen die Fremdlinge. Ihr Land, namentlich der Peloponnes, besaß noch manche volkreiche und wohlbefestigte Städte, aber der Fall der Zentralgewalt hatte ihren schon von jeher losen Zusammenhang aufgehoben, so daß jede Stadt wie in den ältesten Zeiten für sich selbst stand und für ihr Heil allein zu sorgen hatte. Außerdem trieben Primatengeschlechter, durch höfische Gunst und eigene Kraft groß geworden, ihr Wesen, ein Nachspiel der alten Tyrannis, auf antiken Akropolen und in den Landgebieten.κακοδαίμονας τυραννίδας περιεβάλοντο – Niketas, Urbs capta, p. 841.
Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts waren dem abendländischen Feudalismus ähnliche Zustände in das byzantinische Reich eingedrungen, wo die Kaiser ganze Landschaften an einflußreiche Große vergaben und ihre Statthalter nach der Unabhängigkeit strebten. So hatte sich in Trapezunt ein fast selbständiges Herzogtum gebildet, so sich der Komnene Isaak seit 1184 in Zypern zum Tyrannen aufgeworfen, bis ihm der englische König und Kreuzfahrer Richard Löwenherz im Jahre 1191 die Insel entriß und sie den Templern verkaufte. Ein wütender Aufstand des griechischen Volks zwang jedoch diese habsüchtigen Mönche in der Ritterrüstung, die Insel aufzugeben; sie verkauften dieselbe im Mai 1192 dem Prätendenten des Königreichs Jerusalem, Guy de Lusignan. Mit Hilfe der Wlachen hatte sich eben erst, im Jahre 1201, sogar ein rebellischer General Manuel Kamytzes zum Herrn Thessaliens zu machen gesucht.
Auf ihren Latifundien lagen die zu erblichen Provinzialdynasten gewordenen Archonten Griechenlands mit der Staatsgewalt und untereinander im Kriege. Die Branas, Kantakuzenoi und Melissenoi schalteten in Achaia und Messenien, die Chamareti in Lakonien; in Ätolien machte sich Michael selbständig, der mannhafte Bastard des Sebastokrators Johannes Komnenos von Epiros. Zu außerordentlicher Größe gelangte damals Leon Sguros, dessen Vater sich zum Archon der festen Stadt Nauplia emporgeschwungen hatte. Der noch kühnere Sohn trachtete danach, in Griechenland ein Reich zu erbeuten, was gerade in der Zeit möglich war, wo Byzanz zusammenbrach.
Die altberühmte Stadt Argos fiel in seine Gewalt, und dann auch Korinth, dessen Erzbischof er verräterisch blenden und vom Burgfelsen herabstürzen ließ. Der unglückliche Metropolit scheint mit Hilfe byzantinischen Kriegsvolks eine Unternehmung gegen Sguros versucht zu haben. Wenn wir mehr von der Geschichte des merkwürdigen griechischen Tyrannen aus der Zeit der ersten Frankeninvasion wüßten, so würden wir vielleicht dartun können, daß er außer von Ehrgeiz und Herrschsucht auch von glühendem Haß gegen die byzantinische Despotie und das Priestertum erfüllt war. Das hinderte ihn freilich nicht, die Heiligen des Himmels zu seinem Schutze anzurufen, wie sein Siegel lehrt, welches sich erhalten hat.Es zeigt die Figur des hl. Theodor mit der metrischen Legende ΣΕΒΑΣΤΟΥΠΕΡΤΑΤΟΝ, ΜΑΡΤΥΣ, ΜΕ ΣΚΕΠΟΙΣ ΛΕΟΝΤΑ ΣΓΟΥΡΟΝ ΕΚ ΓΕΝΟΥΣ ΚΑΤΗΓΜΕΝΟΝ. Spir. Lambros, Athen am Ende, p. 99. Schlumberger, Sig. Byz., p. 698. Herr des Schlüssels Griechenlands geworden, bedrängte Leon Sguros im Jahre 1204 auch Athen mit Kriegsvolk von der Landseite und mit Schiffen vom Piräus her.Michael Akominatos bezieht sich auf die Athen durch Sguros drohenden Gefahren in einem Briefe an Konstantin Tornikis, den Logotheten des Dromos, II, p. 124. Die Unterstadt leistete ihm keinen Widerstand, weil ihre Mauern verfallen waren. Als unbewehrt hatte der Erzbischof Athens die Stadt wenige Jahre zuvor in seiner Anrede an Kamateros bezeichnet.αθλίας ’Αθη̃νας... απείργοντος ουδενὸς ερύματος, I, p. 316. Die komnenischen Kaiser, unter denen besonders Manuel manche Städte und Festungen im Reiche hergestellt hatte, mußten demnach Griechenland in dieser Hinsicht durchaus vernachlässigt haben.Eustathios, Lobrede auf Manuel, c. 53
Michael versuchte erst durch friedliche Überredung den Sinn des kühnen Mannes, den er persönlich kannte, umzustimmen, indem er ihm vorstellte, daß es gottlos sei, Landsleute zu überfallen, zumal solche, die nicht, wie der Erzbischof von Korinth, seinen Zorn gereizt hatten. Allein seinen Ermahnungen zum Abzuge entgegnete Sguros, daß jetzt jeder tatkräftige Mann unternehmen dürfe, wozu ihn sein Wille treibe, weil Konstantinopel das Schlimmste erfahren habe.Niketas, Urbs capta, p. 802: τὰ τω̃ν όλων πασχούσης χείριστα. Aus dieser Bemerkung darf ich schließen, daß Sguros Athen nach der letzten Eroberung der Hauptstadt durch die Franken angegriffen hat. Er verlangte die Auslieferung eines Atheners, der als Unruhestifter berüchtigt und dem Erzbischof selbst lästig geworden war, jedoch der edle Mann weigerte sich, einen athenischen Bürger zu verderben. Mutig beschloß er vielmehr, die Akropolis mit den Waffen zu verteidigen. Wohl weniger die geringen Milizen, die dort lagen, als die noch durch Vaterlandsliebe und Furcht vor den Folgen ihrer Unterwerfung unter den Tyrannen Nauplias ermutigten Bürger retteten die Burg. Sie muß fester gewesen sein, als Sguros geglaubt hatte. Da er keine Verräter fand, die ihm die Tore öffneten, stand er nach einigen fruchtlosen Versuchen vom Sturme ab. Er verbrannte und plünderte die Unterstadt Athen, nahm einen Neffen des Erzbischofs als Geisel mit sich und zog nach Böotien ab. So war der siegreiche Widerstand der Akropolis eine rühmliche Tat der Athener, und Akominatos hätte sich dem Dexippos vergleichen können. Er selbst hielt es für passend, in seinen Schriften von dem Anteil zu schweigen, den er dabei genommen hatte, nur Niketas hat den Ruhm seines Bruders der Nachwelt überliefert.
Theben, wohin sich Sguros zunächst wandte, war noch damals, wenigstens im Verhältnis zu Athen, eine durch Gewerbefleiß wohlhabende und volkreiche Stadt.τὸ πολυανδρούμενον τη̃ς Καδμείας, sagt Michael Akom. I, p. 315. Sie besaß eine gleich starke und noch größere Festung, die alte Kadmea, welche bisher der Sitz des Strategen des Thema Hellas gewesen war. Wenn sich ein solcher noch daselbst befand, was übrigens sehr zweifelhaft ist, so leistete er nur schwachen Widerstand, denn im ersten Sturm ergab sich die Burg. Von dort aber zog Sguros nordwärts, da er genötigt war, sich den Franken entgegenzuwerfen, welche unter den Fahnen Bonifatius' nach Griechenland herabzuziehen im Begriffe waren. Der Gebieter von Nauplia, Argos, Korinth und Theben hätte jetzt zum Freiheitshelden seines Vaterlandes werden können, wenn er seinen Landsleuten als ein Epaminondas würde erschienen sein und mehr gewesen wäre als ein ehrgeiziger und selbstsüchtiger Abenteurer.
Als er Larissa in Thessalien erreichte, traf er daselbst Alexios III. an. Dieser flüchtige Kaiser, auf dessen Haupt die Schuld des Verderbens seines Reiches lastete, hatte noch einen Anhang von ihm treugebliebenen Griechen um sich; er vereinigte sich mit Sguros, gab ihm seine Tochter Eudokia zum Weibe und hoffte, ihn zum Werkzeuge seiner Wiederherstellung zu machen.Wahrscheinlich war es Alexios III., der seinem Schwiegersohn den Titel Sebastohypertatos beilegte, eine ungewöhnliche Form für Panhypersebastos, welche sich bei Kodinos, De Officiis, nicht findet. Nun aber rückte der König von Thessalonike mit seinem Heer von Lombarden, Franzosen und Deutschen heran. Edle Herren, Guillaume von Champlitte, Otto de la Roche, der Markgraf Guido Pallavicini, Jacques d'Avesnes nebst zwei Brüdern vom Hause St. Omer, ferner die dalle Carceri von Verona, begleiteten ihn, alle begierig, reiche Lehen zu erbeuten, während sich ihnen auch griechische Primaten angeschlossen hatten, Verräter des Vaterlandes, wie sie Niketas mit Recht genannt hat.
Am Ende des September 1204 zog Bonifatius durch das Tal Tempe und besetzte hierauf die Stadt Larissa, welche Sguros und Alexios III. in Eile verlassen hatten. Jener beschloß zwar, den Franken in den Thermopylen standzuhalten, allein der bloße Anblick der geharnischten Ritterscharen trieb die erschreckten Griechen in die Flucht. Rambaud de Vaqueiras aus Orange, ein berühmter Troubadour und tapfrer Waffengefährte Bonifatius', spottete, daß sie ihr Herz in den Fersen hatten, um die Pferde schneller anzutreiben.Buchon, Hist. des conquêtes et de l'établiss. des Français..., I, p. 32. Sguros entrann in seine Felsenburg Hohenkorinth. Bonifatius aber ließ durch Guido Pallavicini Bodonitsa besetzen und gab ihm diesen durch seine Lage am Paß der Thermopylen wichtigen Ort zum Lehen. So entstand die später berühmt gewordene fränkische Markgrafschaft dieses Namens, welche die Gebiete der epiknemidischen und opuntischen Lokris umfaßte und an Böotien grenzte. Andre Städte, wie Platamona, Larissa, Pydna, Pherä, wurden an begünstigte Ritter zu Lehen gegeben.
Ohne Hindernisse drang Bonifatius in die Landschaften südlich vom Ota ein. Die dortigen Griechen, welche von den Erpressungen des Sguros schwer gelitten hatten, empfingen ihn sogar mit Freuden als ihren Befreier. Damals errichtete der König Thessalonikes aus dem seit den Bulgarenstürmen verlassenen Amphissa der ozolischen Lokrer oberhalb des Golfs von Krisa ein Lehen, welches er dem Ritter Thomas von Stromoncourt gab. Die Franken nannten den Ort Salona oder Sula.Die Chron. v. Galaxidi, ed. Sathas, Athen 1865, p. 201, behauptet, daß Salona den Namen vom Könige von Thessalonike erhielt, was indes wenig wahrscheinlich ist. Dieses Gebiet war ein echt griechisches Land geblieben, und noch heute redet alles Volk um den Parnaß her nur griechisch.Ulrichs, Reisen u. Forsch. in Griechenland I, S. 123 Auf der Akropolis Amphissas von gewaltigen polygonalen Steinmauern erbauten die Franken ihre Feudalburg, deren zersplitterte Türme noch heute ihr Denkmal sind.Roß, Königsreisen I, S. 70. Zu Salona gehörten Lidoriki, der Hafen Galaxidi (das alte Oianthea) und auch das weltberühmte Delphi, dessen Trümmer südöstlich unter dem Parnaß liegen und heute Kastri genannt werden.Daß Salona nicht Delphi ist, zeigt Spon, Voyage de Grèce II, p. 48ff. Cyriacus verzeichnete eine Inschrift: »in Achaja apud Saloneum Phocidis oppidum, prope Delphos« (Comm. Nova Fragm., n. 65).
Der Eroberungszug wurde weiter nach Böotien fortgesetzt. Hier nahm Theben den Markgrafen, wie Niketas versichert, so willig auf, als wäre er nach langer Abwesenheit in sein eigenes Haus zurückgekehrt. Gleichwohl behauptet dieser Geschichtsschreiber, daß die Stadt geplündert wurde.Urbs capta, p. 805, 806. Mit Theben und seiner böotischen Landmark belieh Bonifatius einen ihm befreundeten französischen Ritter, welcher auf den Schulbänken in seiner Heimat schwerlich jemals zuvor die klassischen Namen Kadmos, Amphion, Ödipus und Antigone, Epaminondas und Pindar vernommen hatte. Der Glückliche war Otto de la Roche sur Lougnon, Herr von Ray, aus einem der edelsten Häuser Burgunds. Mit vielen Landsleuten hatte er zu Citeaux das Kreuz genommen, sich bei der Bestürmung Konstantinopels durch Tapferkeit hervorgetan und dann den Fahnen des Markgrafen von Montferrat angeschlossen, in dessen Rate er neben Jacques d'Avesnes, Guillaume Champlitte und Hugo von Colemi die einflußreichste Stimme besaß.Villehardouin, p. 169. Die Freundschaft Bonifatius' hatte er durch ihm geleistete gute Dienste erworben, als er im Verein mit Villehardouin den erbitterten Streit zwischen diesem stolzen Markgrafen und dem Kaiser Balduin wegen der Besitzesrechte auf Thessalonike beilegte. Dafür wurde er jetzt mit dem reichen Lande Theben belehnt.Der Stifter des Herrenhauses Ray war Otto de la Roche sur Lougnon, Vater des Ponce. Dieses letzteren Sohn war der erste Herr Thebens. Über sein Haus Dunod, Mém. pour servir à l'hist. du comté de Bourgogne, Besançon 1740, p. 103ff. Guillaume, Hist. générale des Sires de Salins, Besançon 1757, I, p. 65ff. (mit manchen Irrtümern). Otto ließ vorerst im Schloß der Kadmeia eine Besatzung unter dem burgundischen Ritter Guillaume de Ste. Croix;Guillaume, a.a.O., p. 65. dann folgte er seinem Lehnsherrn nach Attika.