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Renata und Ottmar sind allein.
Stille – fast Stille ringsum.
Das Beiern hat aufgehört. Die Brücke unten dröhnt nicht mehr unter den Schritten der Menge. Die auf den Felspfaden Zerstreuten haben sich heiser geschrieen. Der Wind hat zugenommen; er heult um die Turmzinnen und im Kamine des Gemaches nebenan; er rüttelt den Bergwald auf, dessen tiefes ständiges Brausen jeden Lärm, der sich in seinem Schatten rühren mochte, ertränkt.
Renata löst ihren Arm von Ottmars Schulter.
»Um dies Haidplatzschauspiel wollen wir doch jetzt die Langensteiner und Regensburger bringen,« sagt sie, indem sie sich erhebt.
Ottmar hat ihr gerade seinen Traum auf dem Kalvarienberg erzählt, aus dessen Schrecknissen er in den Armen des barmherzigen Samariters erwachte.
»Ein frommer Betrug, Renata. Sie werden einen Doppelmord weniger auf dem Gewissen haben und können es uns danken.«
Aus dem Eichenschranke, dessen Tür noch offensteht, nimmt Renata eine große schwarze Lederkapsel von eigentümlicher Form und stellt sie vor ihm auf den Tisch.
Ein seltsam geheimnisvolles Lächeln umspielt seine Lippen, als er auf den Messingknopf drückt.
Das ungefüge Lederding spaltet sich, und mit vorsichtiger Hand hebt er aus dem rotsammetnen Innern einen silbernen, reich verzierten Pokal heraus.
Liebkosend gleitet seine Hand über die glatte Wand des geräumigen, inwendig vergoldeten Bechers.
»Du schönes Trinkgefäß! Nicht umsonst bist du gleich einem Altarkelche geformt und wirst wie ein solcher aufbewahrt. Du segnest meinen Ausgang wie meinen Eingang hier auf Burg Langenstein.«
Als ob es gestern wäre, erinnert er sich der einzigen Gelegenheit, bei der er diesen Familienschatz enthüllt gesehen und ihn in seiner Hand gehalten hat.
Es war am Abend seiner Ankunft vor mehr als fünfzehn Jahren. Er befand sich mit Renata und ihrem Vater hier in der Stadtstube, wohin man sich aus dem schon halbdunklen Gemach zurückgezogen hatte, weil die Nachmittagssonne dies kleine Zimmer nicht nur erhellte, sondern auch erwärmte, so daß es an dem kühlen Apriltag freundlich anmutete. Renata stellte ein Brett mit Weinkanne und Gläsern auf den Tisch. Aber ihr Vater, der auf derselben Bank Platz genommen hatte, wo Ottmar jetzt sitzt, rief ihr aufgeräumt zu: ›Nein, Renata! nimm das Schlüsselbund vom Gürtel und öffne hier unsere Schatzkammer. Daß mein alter Kamerad auf Winterstetten mir seinen Sohn schickt, damit ich seiner ritterlichen Erziehung die Krone aufsetze – das verdient wohl, durch einen Trunk aus dem Langensteiner Festpokal gefeiert zu werden.‹
»Erinnerst du dich, wie mein Vater den guten Pfälzerwein pries, den er damals in diesen vergoldeten Becher goß? Wir aber wollen jetzt einen weit köstlicheren Trank darin mischen.«
Renata füllt ihn aus dem irdenen Kruge zur Hälfte mit Wasser. Dann nimmt sie aus dem Ebenholzschreine das längliche, goldglitzernde Levantinerfläschchen und hält es gegen das Licht: –
»Noch reichlich genug für uns Beide übrig vom Geschenke der unglücklichen Sarazenin.«
Und sie gießt den Inhalt in den Becher.
Einer schwarzbraunen Schlange gleich taucht das arabische Elixir in das Wasser, bäumt sich wieder aufwärts und zerteilt sich, wie die Adern eines Achats, in viele gewundene Fäden, bis sich alles zu einer einförmigen dunklen Masse vermischt hat, auf der die innere Wand des Bechers ihren goldigen Widerschein spielen läßt.
Sie beugen sich jedes von seiner Seite über das in Gold gefaßte Zauberbrünnlein, dessen geheimnisvolle Tiefe ihre Antlitze wiederspiegelt.
»Du sagtest an jenem Abend da drinnen, Ottmar ... du sagtest, daß du Hugo um seinen Tod beneiden könntest.«
»Ja, aber freilich fügte ich hinzu: – ›nur daß ich dich nicht verlassen möchte, um mit brechendem Auge dich in dieser bitteren Welt zurückbleiben zu sehen‹.«
»Ich habe es nicht vergessen, deshalb wurde in mir der Wunsch laut: ›Ach, daß wir sie doch einmal so zusammen verlassen könnten!‹ Und als ich meine eigenen Worte vernahm, klangen sie mir wie eine Verheißung. Du aber seufztest aus Herzensgrund und meintest, der Traum sei zu schön; wir müßten der harten Wirklichkeit in die Augen schauen.«
»Und hatte ich nicht recht? breitete sie sich in jenem Augenblick nicht finster und drohend vor uns aus?«
»So war es, mein Freund. Doch jetzo ist die Stunde des Traumes gekommen – nun ist er das Wahre. Sieh' wie er uns so hold entgegenlächelt aus diesem morgenländischen Weissagungsspiegel! ... wohlan, wir wollen den Spiegel zerbrechen und die Weissagung erfüllen!«
Sie ergreift den Kelch, stellt ihn aber wieder von sich.
»Doch erst noch einen letzten Blick in die Wirklichkeit – was wir armen Sinnenwesen die Wirklichkeit nennen – vielleicht bietet sie uns noch einen Anblick, der auch für ein brechendes Auge sehenswert ist. Denn mir fällt eben ein, daß die ›Kanzel‹ von hier aus sichtbar ist.«
Sie wendet sich und tritt an das Fenster.
Ottmar springt auf: –
»Du hast recht! Daß ich daran garnicht gedacht habe!«
Schon steht er an ihrer Seite.
»Dort ist er! Siehst du ihn, Ottmar?«
Sie neigen sich hinaus, um besser zu sehen.
Auf einem vorspringenden Felsstück – ›Sankt Jakobs Kanzel‹ – wo die Berglehne umbiegt, zeichnet sich gegen den Himmel die Gestalt eines Wanderers ab.
»Er ist gerettet!« jubelt Renata.
»Er ist gerettet ... und wir sind es auch!«
Noch während er spricht, hört er ein schwirrendes Pfeifen und hinter sich im Fensterholz einen sonderbaren schnalzenden Laut.
Schon blickt er sich um, was das wohl sein mag, als Renata einen Schrei ausstößt und sich in seine Arme wirft, indem sie sich mit beiden Händen ans Herz greift.
Sein flüchtiger Blick hat zwei Armbrustpfeile im oberen Fensterrahmen stecken sehen.
Ein dritter – er weiß es – ist in ihrer Brust verborgen.
Das Triumphgeheul von einer Gruppe Schützen, die an einem hervorspringenden Punkte des Burgfelsens steht, hallt in seinem Ohre wider, als er sie behutsam in seinen Annen emporhebt.
Konrad hat die Alkoventür offen gelassen, als er das Licht hereinbrachte.
Es sind nur ein paar Schritte nach dem Lager.
Diesmal strauchelt er nicht!
Seine zitternden Hände wollen das Kleid öffnen, dessen Brustlatz schon rot von Blut ist.
Sie wehrt ab.
»Willst mich wohl gar verbinden?«
Ihre Lippen öffnen sich zu einem eigenen Lächeln, wohlbekannt von den jungen Tagen her, wenn sie ihn von irgendeiner Unbedachtsamkeit zurückhielt.
Aber sofort pressen sie sich schmerzlich zusammen.
»Den Trank!« flüstert sie.
Mit ein paar Sprüngen ist er drinnen und wieder zurück, beide Hände fest um den Kelch geklammert, damit nichts verschüttet werde.
O, wie kostbar ist jetzt ein jeder dieser Tropfen!
Mit zärtlicher Vorsicht hebt er Renata vom Kissen und hält sie gestützt, daß sie aufrecht sitzt. Er nimmt den Kelch von dem Tischlein, auf das er ihn von sich gestellt hat, um ihr zu helfen, und führt ihn an ihre Lippen. Selber hält sie am Becher, während sie begierig und doch vorsichtig trinkt.
Wenn auch für sie beide genug da ist, so darf dennoch kein Tropfen verloren gehen! Bevor sie den letzten Schluck nimmt, überzeugt sie sich, daß mehr als die Hälfte des braunen Saftes in seinem güldenen Behälter schwimmt.
Dann setzt sie mit einem vertrauensvollen Befreiungsseufzer den Becher von den Lippen ab und lehnt den Kopf an seine Schulter.
Ottmar stellt den Kelch auf das Tischlein zurück.
›Das war das Todessakrament,‹ denkt er. ›Vielen hab' ich es gereicht, aber keinem, der seiner es würdig war.‹
Ihr Kopf bleibt an seiner Schulter liegen, und er hält sie fest in seinem Arm. Ab und zu eine schwache Zuckung, ein Zittern des halbgeschlossenen Augenlides, ein paar kurze keuchende Atemzüge – doch das sind Bewegungen, die bald still werden. In langsamer Regelmäßigkeit hebt und senkt sich der blutdurchtränkte Brustlatz; die blassen Wangen färben sich.
»Ist der Schmerz jetzt vergangen, Geliebtes«
Renata nickt.
Dann leuchtet in ihren Zügen ein Lächeln auf, der Widerschein einer klassischen Erinnerung: jene ›unsterblichen Worte‹ der sterbenden römischen Frau: –
» Non dolet, Paete!« »Es schmerzt nicht, Paetus!« Mit diesen Worten reichte Arria ihrem Gemahl den Dolch, nachdem sie sich selbst durchbohrt hatte.
Sie macht eine Bewegung, um den Kelch zu ergreifen.
Er kommt ihr zuvor und führt ihn wieder an ihre Lippen.
Renata netzt sie nur:
»Ich trinke dir zu, Ottmar.«
Er leert den Becher bis zum letzten Tropfen.
Ein bitterer, würziger Geschmack. Weich wie ein voller Wein gleitet ihm der Trank über die Zunge, ein dickes, pelzartiges Gefühl hinterlassend.
Dann durchströmt ihn eine starke Wärme und scheint bis in die feinsten Äderchen hineinzurieseln ...
Als Ottmar den Brief an den Abt versiegelte, war etwas brennendes Wachs auf seinen Finger getropft. So gering die Wunde war, hatte sie doch die ganze Zeit gebrannt. Jetzt hört der Schmerz plötzlich auf. Er stößt den Finger gegen die Kante des Tischleins. Die Berührung fühlt er, aber keinen Schmerz. ›So ist es auch bei Renata,‹ denkt er; ›ihre Wunde schmerzt wirklich nicht mehr; es ist nicht, wie bei Arria, bloß ein heroisches Nichtfühlen.‹
Und er drückt sie fester an sich. Sie erhebt den Kopf von seiner Schulter und schlägt die Augen auf.
Fast schwarz erscheinen sie, so groß sind die Pupillen geworden.
Erst jetzt bemerkt sie, wo sie sich befindet.
»Und so hast du mich dennoch hier hereingetragen! Ja, hier mußte es sein. Hier gab ich meinem Gemahl den starken Trank der fünfzig Tropfen, die da ›heben ab des Lebens Last‹. Hier empfah' ich ihn selber von der Hand meines Gemahls – ja, meines Gemahls vor Gott, Ottmar!«
Ihre Lippen begegnen sich in einem langen Kuß – einem unendlichen Kuß, denn die Lippen trennen sich kaum mehr, während ihre Häupter auf das Kissen zurücksinken, um dort beisammen liegen zu bleiben.
»Ich frage mich, Geliebte, ob das nicht die erste ganz glückliche Stunde meines Lebens ist.«
»Gewißlich die des meinigen.«
»Meinst du? ... Dann sei denn dies das allerletzte Paradoxon, der Gipfel des Weltwiderspruches, daß das Beste, was uns das Leben zu bieten hatte, der Tod war. Und dafür sei es gepriesen!«
»Ich kann dein Lächeln hören, Ottmar. Sehen kann ich es nicht mehr.«
»Wie? Siehst du mich jetzt nicht?«
Ihre Augen werden größer und schwärzer.
Ein stilles Kopfschütteln.
»Zu viel Licht ... Siehst du mich?«
»Wie durch einen goldenen Schleier werde ich deine lieben Züge gewahr. Sie lächeln so hold! ... Du fühlst gewiß keinen Schmerz, nirgends?«
»Ich fühle nichts ... Doch – ich fühle gerade jetzt deine Lippen auf den meinigen. Küsse mich wieder mein Geliebter, mein Gatte!«
»Hörst du etwas? – Renata!«
»Riefst du?«
»Gott sei Dank! du hörst mich!«
»Ich hörte meinen Namen ... Er klang in meinem Inneren ... Es war, als ob Gott mich zu sich riefe.«
»Geliebte – Gattin! bleibe bei mir! bleibe bis zuletzt – eile mir nicht voraus! Du warst mir ja immer voraus! Als ich glaubte, um meiner Seele willen dich verlassen zu müssen, war mein Geist durch Aberglaube verfinstert. Als ich meinte, dich zu deinem eigenen Besten betrügen zu sollen, wurde ich selber von deiner durchschauenden Liebe fromm betrogen. Als ich entsetzt wähnte, du seist eine Ketzerin, war dein Glaube der reinere, der höhere ... Ach, aber kannst du auch hören, was ich sage?«
»Ich höre alles in meinem Innern ... Ich weiß alles was du sagen willst ... Fürchte dich nicht ... Ich bin bei dir ... bei dir bis zuletzt ... mein Gatte ...«
»Was war das? hörtest du das auch, Renata?« »Lärm ... fern ... ganz fern ... Höre nicht hin ... Nichts ... die Welt ... Lausche nicht ... Bleibe bei mir ... bleib in Gott! ...«
Und das Krachen des gesprengten Tores, das Gebrüll des Haufens, der in den Burghof dringt, erreicht sie gerade – und erreicht sie kaum noch – als ein letzter Gruß einer Welt des Wahns und der Gewalt, die hinter ihnen liegt, tief, tief unter ihrem wachsenden Ewigkeitsfrieden.