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Viertes Kapitel

Es flaggt die Burg

Seitdem Gertrud Vincentius in der Turmkammer verließ, hat der fleißige Famulus in ein paar Stunden den Brief an den Kanzler in München fertig gestellt und begibt sich hinunter, um das Schreiben seinem hohen Vorgesetzten zur Unterschrift und Versiegelung zu überreichen.

Er ist nicht wenig neugierig, welche Miene Seine Hochwürden wohl aufsetzen wird, wenn sein diensteifriger Famulus ihm vorschlägt, ohne geringste Ruhe sofort wieder zu Pferde zu steigen und in die Nacht hinauszureiten, obwohl er ein schlechter Reiter ist und sich in der Dunkelheit vor Gespenstern fürchtet; was der Bischof längst entdeckt hat und ihm bei jeder Gelegenheit unter die Nase reibt.

Kaum ist er von der Wendeltreppe in den Gang getreten, als eine wohlbekannte Mädchengestalt, die sein Herz klopfen macht, sich am anderen Ende des Ganges zeigt, wo die große Treppe nach der Halle hinunterführt. Zu vertraulicher Begegnung bietet sich leider keine Gelegenheit, denn in der Halle ist die Stimme Renatas hörbar. Als aber Gertrud mit einem zärtlichen Blick an ihm vorbeischlüpft, läßt sie ein rotes Halstuch fallen.

Vincentius hebt es schnell auf und fühlt dabei, daß ein Stück Papier oder dünnes Pergament mit einer Nadel in den Falten befestigt ist.

Die fünfeckige Kammer ist leer.

Vincentius pocht an die Tür zum Gemach, aus dem die Stimme seines Herrn ihm einzutreten gebietet.

Ottmar sitzt in einem Sessel am Fenster, und blättert in einem Gebetbuch – gewiß eine geziemende Beschäftigung für einen Bischof, wenn auch sein Blick ausschließlich an den vergoldeten, in brennenden Farben leuchtenden Initialen und Marginalen haftet, auf die er sich so gut besinnt und von denen er weiß, daß sie schon die Kinderaugen Renatas bezauberten.

Seine Hochwürden ist gnädig gestimmt, huldreich sogar. Er lobt die schnell und sorgfältig verrichtete Arbeit und will nichts davon hören, daß sein Famulus sich schon an diesem Abend wieder auf den Weg begebe. Niemals war ein großer Herr besorgter um die Nachtruhe seines Untergebenen. Er hat sich sogar überlegt, wo dieser sie finden soll: – hier gerade nebenan – nein, nicht in der fünfeckigen Kammer, sondern in der sogenannten »Stadtstube«. Sollte er selber die Dienste seines getreuen Geheimschreibers nötig haben, so braucht dieser nicht die steile Treppe herab zu steigen – seht hier, wie bequem: vom Alkoven des Gemachs tritt man gerade hinein.

Er öffnet die Tapetentür und führt seinen Famulus in dessen neues Schlafzimmer, zeigt ihm das Polsterbett, das für ihn auf der Diele bereit liegt: dort werde er schon schlafen können, wenn auch das Lager etwas feldmäßig sei ... ecclesia militans ... nicht wahr?

Worauf Seine Hochwürden zu seinem Fenstersessel und seinen Gebetbuchbetrachtungen zurückkehrt.

Kaum hat sich Vincentus überzeugt, daß er allein ist und jedenfalls hoffen darf, für einige Minuten ungestört zu bleiben, als er das rote Tuch hervorzieht und den Papierstreifen aus den Falten löst.

Er liest: –

›Wir reisen morgen ab. Man will es vor mir verheimlichen. Gott steh' uns bei! Deine Gertrud.‹

Vincentius nickt: es ist, wie ich fürchtete. Also das ganze Signal – und noch etwas dazu!

Er lauscht an der Tür zum Alkoven. Nichts rührt sich drinnen.

Schnell schnürt er sein Gewand so weit auf, daß er hervorziehen kann, was er auf der Brust trägt: eine lange Schnur, an die er ein paar wimpelförmige Stoffstücke befestigt hat: ein weißes leinenes und eines von schwarzem Flor. Um sich das erstere zu verschaffen, hat er oben in der Turmkammer ein Hemd entzwei geschnitten; das zweite hat er seiner Mütze entnommen. Es ist nur lose angeknüpft, da vielleicht kein Gebrauch dafür ist. Jetzt aber muß es fester angebunden werden. Dann das rote Halstuch Gertruds unter dem Flor, damit dem goldenen Stierkopfe die Lust zum Stoßen recht wütend ankommt – und die Vorbereitungen sind fertig.

Und nun die ganze Schnur mit den Zeichen unter das Bettpolster verborgen, bis die Zeit zum Gebrauche da ist.

Die Zeit wäre freilich schon da, wenn nur die Gelegenheit sich fände.

Daß ihm gerade die Stube als Wohnung angewiesen wurde, zu der ein freier Eintritt ihm so wichtig war, scheint eine gütige Fügung des Schicksals zu sein. Diese Gunst wird aber wiederum durch den Umstand aufgewogen, daß der Bischof daneben wohnt und jeden Augenblick hereinsehen kann – ja es gewiß tut, wenn er hört, daß ein Fenster geöffnet wird.

Im Notfalle muß er es mit äußerster Vorsicht dennoch wagen. Als er bei seiner Ankunft dieses Zimmer betrat, stand das Fenster offen. Er weiß es genau, denn wie deutlich hatte er nicht die Stromschnellen unten vernommen! Dies ist eine tröstliche Betrachtung. Denn in solchen alten Burgzimmern werden die Fenster oft jahrelang nicht geöffnet und schließen dann so fest, daß beim gewaltsamen Öffnen die Scheibchen in den Bleirahmen rasseln.

Indessen – noch kann er warten. Er hat das Gefühl, daß ihm das Glück beistehen wird. Hat es ihm nicht bis jetzt geholfen?

Was ist das? Hört er nicht Stimmen von Männern?

Ja, der Gottesfreund ist drinnen beim Bischof.

Und jetzt Schritte – einer geht auf und ab – alles still.

Er pocht an. Keine Antwort. Zögernd macht er auf und schleicht in den Alkoven, bereit, einer barschen Nachfrage mit der Entschuldigung zu begegnen, er glaubte, der Bischof habe ihn gerufen.

Das Glück steht ihm bei. Das Gemach ist leer.

Also, schnell in die Stadtstube zurück ... die Wimpelschnur unter den Polstern hervor ... das Fenster auf ... ein Ende der Schnur um die obere, das andere um die untere Haspe gewickelt – das ist schneller gemacht als er es sich vorgestellt hatte. Freilich ist es nicht möglich, das Fenster ganz zu schließen. Aber mittels eines Stück Bindfadens gelingt es ihm, es so gut befestigen, daß es wohl kaum auffliegen wird.

Wind ist freilich genug da – glücklicherweise.

Die Wimpel flattern lustig, man muß sie von weitem sehen können. Vincentius ist fürsorglich genug gewesen, die Schnur an der richtigen Seite zu befestigen, so daß die Wimpel vom Fenster weggetrieben werden. Dies ist sehr wichtig für den Fall, daß der Bischof hereinkommen sollte.

Nur ab und zu sieht er selber einen Schimmer davon, und zwar fast nur vom roten, dessen Zipfel am weitesten weht. Auch kann er häufig das leise Schnalzen der Enden vernehmen – das klingt seinem Ohre gar fröhlich.

Das Herz pocht heftig. Diese gehetzte Tätigkeit und die Furcht, mitten darin überrascht zu werden, üben ihre Nachwirkung. Ein Schwindelanfall ist auch nicht sofort gänzlich verwunden.

Während er die Schnur befestigte, konnte er nicht umhin, mehr als ihm lieb war von dem Abgrunde zu sehen, und das Brausen der Stromschnellen drang mit peinlicher Deutlichkeit in sein Ohr. Auch zu jeder anderen Zeit hätte ihn dies schwindlig gemacht; jetzt wirkte es aber mit doppelter Macht, weil ihm Gertruds Befürchtung in den Sinn kam und er sich vorstellen mußte, er befestige eine Strickleiter, um sich nächstens daran hinunter, zulassen.

Als er nun nach getaner Arbeit dort am Fenster steht, kommt ihm der Gedanke: sollte das vielleicht gerade der Plan des Bischofs sein? Dieser rankevolle Prälat hat ihn von der Turmkammer herunterholen und ihm diese Stube anweisen lassen, die einzige des ganzen Hauses, aus der es einem ebenso behenden wie dreisten Kletterer vielleicht möglich wäre, die Burg zu verlassen. Vincentius war kein behender Kletterer – wie aber wenn die Angst ihn überdreist machte, und er einen Fluchtversuch unternähme, bei dem er unfehlbar den Hals bräche!

Als er es versuchte, Gertrud in Bischof Ottmar den fleischgewordenen Teufel sehen zu lassen, ist Vincentius so gänzlich in seiner Rolle als Verleumder aufgegangen, daß dieser Gedanke kaum aufgetaucht ist, als es auch schon bei ihm feststeht: dies sei der geheime Sinn des Zimmertausches, welche gerechte Nemesis aber, wenn es ihm gerade dadurch möglich wäre, sich mit seinem Bundesgenossen in Verbindung zu setzen und sich nicht nur Hilfe, sondern sogar Sieg zu verschaffen! Welcher Triumph, wenn er durch diese ganz unerwartete Benutzung des hinterlistigen Schachzuges seines Gegners diesen matt setzen könnte!

Ein hohes Spiel, o, er weiß es! Aber er fühlt kaum mehr die Gefahr. Sein ganzes Wesen zittert vor Kampf- und Jagdlust. Seinen verhaßten Vorgesetzten zu demütigen und dabei noch das große Ketzerwild zu erlegen! Wie leicht gelang es ihm, das Herz der jungen Ritterdame zu gewinnen und eben dadurch jenem Edelwilde so auf die Spur zu kommen, daß es ihm kaum mehr entschlüpfen kann, selbst wenn auch der Kirchenfürst dazwischen treten und seinen Krummstab dem Jagdspieß entgegenstrecken sollte! Ja, damit würde er dann auch die Ketzerin fangen und das Herz seines bösen Herrn zertreten. Und möglicherweise ginge dann auch jener Traum in Erfüllung, durch Gertruds Hand ihr rechtmäßige Erbe, diese Burg, zu gewinnen!

Wenn er die Edeljungfrau gewinnen könnte, was gibt es dann, was zu erreichen er nicht imstande wäre? Wohin vermag nicht der zu fahren, dem der Wind des Erfolges die Segel bläht!

Sich die rote Flagge wehen – höre, wie ihre Falten in der Luft schnalzen!

Längst schon hat Bruder Martin das Zeichen gesehen.

Wird er's auch verstehend

Was der weiße und der schwarze Wimpel künden, das weiß er ja. Nun aber der rote, der in der brennenden Nachmittagssonne so weithin leuchtet? Vermag er diese Farbe zu deuten? Vernimmt er ihren Siegesruf: – ›Ich hab' ihn, ihn, den großen Erzketzer! Nur schnell zugreifen, damit er nicht entwischt! Wir sind's, die ihn fangen, die den Preis gewinnen – und noch viel mehr: stehen wir nicht als die Wohltäter der Kirche und der ganzen Christenheit da? Zu mir – zu mir!‹

O nein, das kann er nicht hören! Aber sein alter Mönchskopf ist gewitzigt genug, um zu begreifen, daß etwas Neues und Unerwartetes hinzugekommen ist, etwas Entscheidendes, das doppelt und dreifach mahnt, alle Kräfte zu sammeln, sie zum Stoße anzusetzen, und, während man sie beisammen hat, schnell und hart zu treffen.

Blase, Wind! Entfalte dich, flattere, schnalze freudig in der Luft, du meine leuchtende Flagge! Du bist die Farbe meiner Dame; sie selber hat dich ihrem Ritter geschenkt. Du bist die Farbe des Kampfes und des Sieges! Du bist gehißt auf Fortunas goldenem Schiffe, seine seidenen Segel schwellen, es trägt Vincentius und sein Glück!‹


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