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Das Burgzimmer ist klein und beklommen.
Ein gemischter, häuslicher Geruch von Eingemachtem, frischer Wäsche, Lavendel, Salbei, Gewürz und getrockneten Kräutern erfüllt es. Durch das offenstehende Fenster dringt nur wenig Luft herein, und die ist heiß und schwer, mit Rauchdunst beladen.
Die Frau, die an die zurückgeschlagenen Butzenscheiben gelehnt steht – eine noch jugendlich-schlanke Gestalt – blickt in das Tal hinaus, dessen regungslose weißgelbe Kornfelder etwa eine halbe Meile entfernt von tannendunklen Hügeln eingefaßt werden. Ein gemächlich dahingleitendes Flüßchen durchzieht es in großen Schleifen.
Unten, wo die Felsmasse, auf der die Burg steht, steil herabstürzt, drängen sich die Schindeldächer des Städtchens zusammen. Im Schatten zweier mächtiger Roßkastanien watet eine Brücke gar gewaltig auf steinernen Pfeilern bis zur Mitte des Flußbettes hinaus, um dann dort, wo die Flut im Sonnenlichte glitzert, auf Holzstelzen bescheiden das diesseitige Ufer zu erreichen. wo das Wasser am schattengrünsten ist, blinkt ein Goldstreifen – die Spiegelung eines Wirtshausschildes, das sich hinter dem Laube verbirgt.
Vom stämmigen Kirchturme läutet die Vesperglocke.
Ein liebliches, idyllisches Bild! Aber die schöne Burgfrau, die es betrachtet und dabei oft mit ungeduldigen Blicken den die Burgklippe erklimmenden Weg absucht, sie weiß nur zu wohl, warum dieser Anblick keine friedliche Stimmung bei ihr auslöst. Nur zu lebhaft fühlt Frau Renata, wie dies Abendläuten sie an ein Sterbeglöcklein gemahnt; und der bläuliche Dunst, der, aus hundert Schornsteinen sich emporfädelnd, über dem Neste lagert, kommt ihr wie das Fangnetz einer ungeheuren Spinne vor.
Sogar das wie Dukatengold aufglitzernde Wasserbild des sich verbergenden Wirtshausschildes erscheint ihr als ein freches Späherauge, das bis in ihr Geheimgemach dringt, an dessen niedriger Deckenwölbung die Reflexe spielen.
Noch einmal durchforscht ihr Blick die verschiedenen Windungen des Pfades, die zwischen Felsstücken und Buschwerk sichtbar sind.
»Wenn er nur bald zurückkäme!«
Mit diesem Stoßseufzer wendet sie sich in das Zimmer.
Fast ein Drittel davon ist durch die offenstehende Tür eines großen Eichenschrankes verdeckt.
Vor diesem kniet ein junges Mädchen. Ein Ritterfräulein scheint sie zu sein, obwohl ihr Werkeltagskleid recht einfach ist. Sie ist eifrig damit beschäftigt, einen Koffer und ein paar Sattelsäcke mit Sachen voll zu packen, die sie aus dem Schranke hervorgeholt hat. Auf einem Tische neben ihr liegt Wäsche, stehen Büchsen und Flaschen. Ein Stuhl trägt einen offenen Ebenholzschrein.
»Renata,« sagt sie aufblickend und ein paar schwarze Locken sich aus der Stirn streichend, – »wenn uns der Meier nun die Nachricht bringt, daß es wirklich der schwarze Tod ist, gehst du dann auch zu den Kranken hinunter?«
»Gewiß.«
»Ich auch. Ich begleite dich.«
»Nein, du bleibst hier, Gertrud. Du könntest zu leicht angesteckt werden, denn du fürchtest dich.«
»Und wer sich nicht fürchtet, der wird auch nicht angesteckt?«
»Wenn die Lebensgeister gesund sind, so wehren sie die bösen Kräfte ab. Aber wenn du von Angst geschüttelt wirst, dann ist deine Imaginatio schon krank und bindet die Lebenskräfte in Ohnmacht. Das ist, wie wenn ein Zauberer sie mit seinem Willen bannte, daß sie sich nicht rühren können, und die Krankheit dringt in deinen Körper ein, wie der Feind in eine Festung, wenn die Wache schläft. So ist das zu verstehen, und deshalb kann ein Furchtsamer nicht mitgehen, wo solche teuflische Krankheiten wüten.«
»Und du? Du fürchtest dich also wirklich gar nicht? Wie ist das möglich?«
»Ich weiß nicht, vielleicht mache ich mir wenig daraus, ob ich krank werde und sterbe«
Die großen schwarzbraunen Mädchenaugen starren Frau Renata an mit einem Blick, in dem der Ausdruck scheuer Bewunderung sich mit dem ausgesprochenen Gefühl des Unheimlichen mischt.
Dann schüttelt Gertrud den Kopf.
»Das kann nicht richtig sein,« erklärt sie sehr fest, wie um sich selbst zu behaupten.
Renata lächelt nachsichtig.
»Und warum sollte denn das nicht richtig sein?«
»Weil uns Gott das Leben gab. Es muß ein gar köstliches Geschenk sein. Wie undankbar ist es dann, gleichgültig zu sein, ob man es verliert oder nicht.«
»Hast du den Meister so sprechen hören?«
Bei dieser unerwarteten Frage errötet Gertrud wie ein Schulmädchen.
»Den Meister? ... Nein, das wohl nicht. Aber er spricht auch nicht wie die Anderen.«
Renata lacht still vor sich hin.
»Freilich nicht! Täte er das, wie könnte er dann der Meister sein, dem wir uns an Gottes Statt zu eigen gegeben, ›zu Grunde gelassen‹, wie er zu sagen pflegt!«
»Das ist wahr. Aber weil seine Reden so tief sind, versteh' ich sie auch nicht immer ... Und« – sie sieht auf mit einem festen Blick, und in ihrer Stimme bebt ein leiser Unterklang von Trotz – »und Hugo hat den Meister auch nicht immer so recht verstanden.«
Über die Lippen der Burgfrau gleitet ein wehmütig- mitleidiges Lächeln. Sie selber merkt es nicht, aber Gertrud sieht es vorüberhuschen, und jener Unterton ihrer Stimme wird lauter, fast aufrührerisch. »O, ich weiß! Du meinst, der arme Hugo habe keinen sehr tiefen Verstand gehabt. Aber er hatte Verstand genug, um dich zu lieben, wie nur wenige Ehemänner ihre Frauen lieben. Denn das war schon mehr was sie ›die hohe Minne‹ nennen und sonst einer fremden Dame widmen – denn sie ehelichen nicht, wo sie minnen,« fügte sie altklug hinzu, offenbar stolz auf ihre Weltkenntnis.
»Es ist wahr, dein Bruder hat mich sehr geliebt. Übrigens hat er wohl bessere Beweise für seinen Verstand gegeben als gerade den –« –
»Nein, Renata,« ruft Gertrud und wirft sich ihr ungestüm an den Hals: »Nein, denn du verdientest es und warst besser als alle Anderen, und das hat er sehr wohl verstanden, und das zeigt, daß er klug war. Das heißt, nicht daß ich meine, daß ich klug bin ... oder daß ich dich nicht liebe ... aber ... ja, siehst du, ich möchte alles besser verstehen – auch dich. Aber ist es denn ein Wunder, wenn manches, was der Meister sagt, mir zu tief ist? Sagen sie doch, er sei der weiseste Mann der ganzen Christenheit.«
»Nun, wenn du alles besser verstehen möchtest, wirst du ja hoffentlich bald Gelegenheit haben, ihm selber dein Herz auszuschütten und ihm alle deine Fragen vorzulegen.«
»Eigentlich müßte er schon gekommen sein, nach dem was er uns vor zwei Monaten durch den Maurergesellen aus Straßburg wissen ließ.«
»Er wird gewiß nicht lange mehr auf sich warten lassen. Wenn etwas von dem Umbau noch in diesem Jahre, bevor der Frost kommt, beendigt sein soll – und das war ja sein ausgesprochener Wunsch – dann darf es mit den Vorarbeiten nicht zu lange mehr dauern. Es wird bald Zeit, daß der rechte Baumeister die letzte Hand anlegt und seine endgültigen Bestimmungen trifft. Auch denke ich, Konrad wird uns von unten irgendeine Kunde über seinen Verbleib mitbringen.«
Die junge Burgfrau wendet ihre Aufmerksamkeit wieder dem felserklimmenden Pfade zu.
»Ist schon alles eingepackt?« fragt sie nach einer Weile, ohne den Blick von der Berglehne abzuwenden.
»Ich denke ja – das heißt – soll diese mit?«
Schnell dreht Renata den Kopf.
Ermüdet von dem ungeduldigen Spähen und geblendet vom Licht des freien Raumes blinzeln ihre Augen, als sie in den Dämmer der Stube dringen. In der Hand, die das knieende Mädchen emporhält, flimmert goldig ein kleiner Gegenstand.
Renata erblaßt.
Ist wohl ein Hauchdämon vom Heere des schwarzen Todes dort unten auf den Rücken des blauen Torfrauches gesprungen und hat die blühenden Lippen der jungen mutigen Frau am Fenster erreicht?
Wohl könnte ein solcher Gedanke dem jungen Mädchen kommen. Denn obschon das Gesicht der Schwägerin dem Lichte abgewandt ist, wird sie die plötzliche Veränderung deutlich gewahr.
Jedoch sie denkt nichts dergleichen.
Ihre Augen blicken seltsam, fast boshaft den Gegenstand an, den sie zwischen den Fingern spielen läßt.
Sie hat ihn dem offenen Ebenholzschrein entnommen, der neben ihr auf dem Stuhle steht.
Es ist ein zierliches Fläschchen, länglich, fünfeckig, mit feingeschwungenen Einkerbungen, die Glasflächen überall mit goldenen Linien, Kurven und Sternchen wie mit einem mystischen Zierat bedeckt. An dem Verschluß, der einen Totenkopf darstellt, hängt ein schmaler Pergamentstreifen, der in schönster Mönchsschrift eine Legende – die Übersetzung der arabischen Inschrift – trägt: –
Das Leid des Leibes weicht zehn braunen Tropfen, Doch fünfzig heben ab des Lebens Last.
Gertrud hält das Fläschchen schräg gegen das Licht, um die braune Flüssigkeit deutlich zu sehen.
»Willst du das mitnehmen?... Es blieb noch zweimal soviel zurück ... wie das letztemal.«
Sie sagt die letzten Worte mit Nachdruck, und ihre Lippen schließen sich danach fest und hart.
Renata antwortet nicht. Sie geht zu ihr hin, nimmt das Fläschchen sanft aus ihrer Hand und sagt mit leiser Stimme:
»Du kannst mir das nie verzeihen.«
Aber mit erschrockenen, schuldigen Augen blickt Gertrud hinweg.
»Was wäre wohl da zu verzeihen?... Hast du es doch nur zum Besten getan!«
»Ja, Gott weiß, ich tat es zum Besten ... Gott weiß, ich habe deinen armen Bruder nie höher geliebt, als in jener schweren Stunde.«
»Er weiß es, und ich weiß es auch. Liebste!« sagt Gertrud, zu ihren Füßen sich hinkauernd und ihre Hand drückend. Denn Renata hat auf dem Stuhle Platz genommen, von dessen Sitz sie den Ebenholzschrein entfernte.
Das Mädchen aber denkt – und ihre Schwägerin weiß gar wohl, daß sie es denkt –:
›Du hast ihn freilich nie höher geliebt, denn geliebt hast du ihn ja nie, nur Mitleid mit ihm hast du gehabt, und dein Mitleid gab seinem Leibe den Tod, wie es einst seiner Liebe das Leben gab. Ich weiß, daß du viel tun kannst, vieles, was ich nie tun könnte. Nur das möchte ich wissen: würdest du es auch haben tun können, wenn du ihn geliebt hättest, so wie du den Einen geliebt hast? Jenen, der jetzt ein Großer und Mächtiger ist, und der nimmer, nimmer der Deine werden kann?‹
Unbeweglich, wie aus Stein gebildet, sitzt die Burgfrau da, den Ebenholzschrein auf dem Schoße haltend, und starrt vor sich hin. Auch das Mädchen zu ihren Füßen starrt vor sich hin.
Und beide Augenpaare schauen dasselbe: –
Ein geräumiges Gemach, von einem düsteren Abendrot traurig erleuchtet. In dem halbdunklen Alkoven auf dem weißen Kissen der großen eichenen Bettstelle das graue Gesicht des todkranken Mannes, den flehenden Blick der matten und doch so glühenden Augen, die bebenden Lippen, die kaum hörbar die letzte Bitte hervorbringen – die Bitte um die braunen Tropfen des sarazenischen Weibes – um die fünfzig Tropfen – –
Unten wird eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Hastige, feste Tritte ertönen auf der steinernen Treppe.
Renata rafft sich auf.
Sie nimmt das sarazenische Fläschchen von der Tischplatte, wo sie es zwischen Wäschestücke hingelegt hat, und nachdem sie es in ein seidenes Tuch sorgfältig eingewickelt hat, verbirgt sie es in der einen Ecke des Ebenholzschreines.
»Nein, Gertrud, wir wollen das nicht mitnehmen. Wir wollen es für uns selber aufheben – für alle Fälle.«