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Kaum anderthalb Stunden sind vergangen, seitdem der große Gottesfreund den Burghof betrat und schon ist die kleine Gemeinde versammelt und erwartet den Meister.
Diese Fühstunde ist nicht nur durch die allgemeine Sehnsucht bedingt, sie ist an sich günstig und erwünscht. Zu dieser Zeit schlafen die eingeladenen Gäste den Schlaf des Gerechten, der den Dienern eines hohen Kirckenfürsten beschieden sein muß; keine Gefahr, daß einer von ihnen umherschnüffelt und sich darüber Gedanken macht, was an irgend einem entlegenen Orte der Burg vorgehen möge.
Und der Ort dieser Versammlung ist in der Tat so entlegen wie nur irgend einer in diesem weitläufigen Gebäude: eine große Bodenkammer, unmittelbar unter dem Dache gelegen, dessen Sparren und Ziegelsteine die schräge Decke des Raumes bilden. In dieser Schräge befinden sich ein paar Fensteröffnungen gleich verschlafenen Augen, die die Stunde noch zu früh finden, um sich ganz zu öffnen. Durch die Augen späht die Sonne, die gerade jetzt über die Waldhöhe steigt, in die Kammer. Ihr Blick reicht freilich nicht bis zur Versammlung hinab aber in diesen zwei goldigen Strahlen wirbelt der Staub, der durch das Eintreten der Anwesende, umhergetrieben worden ist – als Zeugnis, daß der Raum nicht leer ist. Mit dem Lichte dringt auch Luft herein, deren Frische doppelt fühlbar ist in der stickigen Schwüle, die unter dem Ziegeldach Woche um Woche von dem Sonnenbrand ausgebrütet wurde, weißgraue Spinngewebe, die von den Sparren herabhängen, bewegen sich langsam und wohlig, gleich atmenden Lungen.
Der Raum mutet wie eine Dorfschule an. Bänkereihen erfüllen ihn bis zum oberen Teil, wo auf einer Erhöhung ein kleines Pult steht. Hier pflegt Renata – bisweilen wohl auch Gertrud oder Conrad – dem zur täglichen Andacht versammelten Hausstand ein Stück aus der heiligen Schrift vorzulesen, aus den Evangelien oder den Episteln; bisweilen auch einePredigt oder ein Sendschreiben irgendeines hervorragenden Gottesfreundes. In dieser Woche des Bischofsbesuches sind diese Andachtstunden freilich vorsichtshalber weggefallen; Predigten oder kürzere Ansprachen seiner Hochwürden unten in der Halle sind an ihre Stelle getreten.
Nur ein paar der vorderen Bänke sind besetzt.
Das ist freilich bei früheren Besuchen des Meisters anders gewesen. Da waren sie bis zum letzten Platz gefüllt. Nicht nur die Freunde unten im Städtchen, auch die von Lengefeld, Winterstetten, Affortsbach, und noch weiter entfernten Flecken waren nach Burg Langenstein zusammengeströmt. Ja sogar das unfern gelegene Kloster Sankt Jakob hatte einen Beitrag geschickt; denn mehrere der Mönche gehören heimlich zu den Gottesfreunden.
Ihre vollkommene Abgeschiedenheit wird der kleinen Burggemeinde durch den Vergleich mit damals sehr eindringlich vor Augen geführt. Die Seuche sperrt die Bürger des Städtchens, diese nächsten Nachbarn am Fuße des Burgfelsens, unerbittlich ab. Die Achtung des Meisters hat seine Schritte in das tiefste Geheimnis gehüllt, wie ein Dieb in der Nacht kommt er; und weil er unerwartet naht, kann man auch keine Freunde Gottes von seiner bevorstehenden Ankunft benachrichtigen, damit sie herbeieilen könnten, um sich ihm ›zu Grunde zu lassen‹. Die drohende Wolke aber, die ihren Schatten über ihn wirft, ist nur ein Vorläufer des Gewitters, das dieser Gemeinde selbst und allen Schwestergemeinden, ja jedem vereinzelten Freunde Gottes, jedem frommen Herzen droht, das ringsum in deutschen Landen für die im Entstehen begriffene reine deutsche Religion ahnungsvoll und zutraulich schlägt.
Die auf Burg Langenstein sind auf sich selber angewiesen. Es ist wie eine einzige Familie, und eine gewisse Familienähnlichkeit prägt sich auch auf diesen Gesichtern aus und vereinigt den Ackerknecht mit dem Hausmeier, die Magd mit dem Ritterfräulein. Es ist eine eigentümliche Mischung von Bedrücktheit und Trotz, Demut vor Gott und Stolz den Menschen gegenüber; auf einigen Stirnen mit dem Gepräge geistiger Beschränkung verbunden, wobei dann das Element des Stolzes – das die Oberhand hat – wohl auch in der Gestalt des geistigen Hochmutes auftritt.
Man fühlt sich eben als das Salz der Erde, ja ein klein wenig als das Salz des Salzes. Denn ist es nicht allen Freunden Gottes nah und fern, ja bis in die entlegensten Gauen, bis in die Almen des Oberlandes, wo der ewige Schnee sich in den Himmel erhebt, und in die Gehöfte des Niederlandes, wo der Rhein seine Fluten zum Weltmeere wälzt – ist es nicht überall männiglich bekannt, daß »unsere liebe Frau Renata« die geistige Tochter des großen Gottesfreundes ist, wie weiland Schwester Katrei von Straßburg die des Meister Eckehart? daß diese Burg Langenstein dem großen Unbekannten – ihnen so Bekannten! – dem Apostel deutscher Religion, welscher Weltlichkeit gegenüber, vor allen anderen Orten ans Herz gewachsen ist, ihm, dem Heimatlosen gleich einer Heimstätte gilt?
Und nun hat er mitten durch die Scharen seiner Verfolger hindurch dies Heim erreicht! Er hat es gewagt, obwohl das Haupt dieser feindlichen Heerscharen gerade hier seine Herberge aufgeschlagen hat!
Eine eifrige Unterhaltung findet in gedämpftem Flüstertöne statt. Sie dreht sich um die Ankunft des Meisters und ihre sonderbaren Umstände. Den Mittelpunkt bildet ein kleiner recht unansehnlicher Mann mit spärlichen weißen Haaren. Es ist der Wächter vom Erker, dem über der Tür in der Mauerecke. Die vor ihm Sitzenden wenden sich ihm zu; die wenigen, die auf der dritten Bank sitzen, haben sich hinter ihm zusammengedrängt.
Schon wissen alle, daß der Meister noch in der Nacht kurz vor dem Morgengrauen in Begleitung des Bischofs vor der Türe stand. Diese rätselhafte und beunruhigende Verbindung verursacht viele Mutmaßungen, von Kuno, dem Wächter des Burgfriedes – der nicht anwesend ist – hat der Fuhrmann gehört, daß der Bischof am vorhergehenden Nachmittage nach der Stadt hinuntergegangen sei – bei der glühenden Hitze ein höchst sonderbarer und deshalb verdächtiger Umstand. Er war nachmittags allein in die Stadt gegangen und erst beim Morgengrauen in Begleitung des Meisters zurückgekehrt. Hier aber berichtigt die jüngste Magd: – als sie noch spät abends den Nachttrunk in die Turmkammer brachte, habe der Bischof eifrig beim Schreiben gesessen. Also hatte er noch einmal nachts ganz im Geheimen die Burg verlassen, um dem Meister zu begegnen, von dessen Ankunft er offenbar durch seine Späher in der Stadt Nachricht erhalten hatte. Aber zu welchem Zweck? Wer konnte sich wohl darauf einen Vers machen?
Wo nur Mutter Ursula blieb? Die hätte gewiß eine beachtenswerte Meinung geäußert.
Mutter Ursula, einst die Amme Gertruds, jetzt Haushälterin auf der Burg Langenstein, ist nächst Frau Renata und Fräulein Gertrud bei weitem die angesehenste Person auf der etwas spärlich vertretenen Spillseite. Ihre Abwesenheit ist längst schmerzlich aufgefallen. Sie ist eine bibelfeste Frau und pflegt bei solchen Gelegenheiten sonst nicht die Letzte zu sein. Aber wahrscheinlich wird sie mit dem Meister und Frau Renata zusammen erscheinen. Die jüngste Küchenmagd erklärt aber, daß Mutter Ursula überhaupt nicht kommen kann. Sie pflegt den Bischof. Wie? der Bischof ist krank? Wißt ihr denn das nicht? Der Fieberfrost schüttelte ihn wie Espenlaub, als er in die Halle trat – Konrads eigene Worte! – er mußte sofort auf den Tod krank zu Bett gebracht werden. Freilich, wenn jemand ihn durchbringen kann, dann ist Mutter Ursula die rechte – sie und Frau Renata! – Und erst der Meister selber! Hat nicht Ursula erzählt, daß er es war, der einst in Straßburg den armen Herrn Hugo von seiner Wunde heilte?
Aber die Köpfe ringsum schütteln sich bedenklich – scheinen übrigens auch nicht sehr hoffnungseifrig zu sein. Ob diese Krankheit eine Gottesstrafe ist? – sieht es nicht ganz so aus? Zumal da von einer Ansteckung unten in der Stadt keine Rede sein kann, denn die Seuche – hat der Hausmeier gesagt – tritt ganz anders auf.
Diese Erklärung ist von wohltuender Wirkung. Denn bei der Erwähnung der plötzlichen Erkrankung des Bischofs hat sich mehr als eine Wange entfärbt.
Wenn es also eine Gottesstrafe ist, dann werden wohl Pflege und Arzeneikunde nicht viel nützen. Es kann aber auch eine Vorbeugung sein. Denn zweifelsohne hat der Bischof schon entdeckt, welche Bewandtnis es mit diesem geheimnisvollen Fremden hat. Nun liegt er aber hilflos darnieder und kann nichts Böses unternehmen. Eine offenbare Fügung ist es auch, daß sein Famulus nicht da ist. Denn dieser wäre sicher dahinter gekommen. Mußte doch das dünnbeinige Bleichgesicht überall umherschnüffeln!
Das Flüstern wird dabei noch gedämpfter, und scheue Blicke schielen nach Gertrud hin. Mit dem starken Beobachtungssinne des Gesindes ist man sich darüber klar, daß das Fräulein weit davon entfernt ist, das allgemeine Mißtrauen gegen Vincentius zu teilen.
Jetzt verstummt aber auch das leiseste Flüstern.
Die Stiege knarrt unter herannahenden Schritten.
Renata, vom Meister begleitet, tritt herein.
Alle erheben sich.
Gertrud tritt hervor, verneigt sich und küßt seine Hand.
Dies wirkt wie ein gegebenes Zeichen. Im Nu sind die Bänke leer.
Man drängt sich um ihn, ergreift seine Hände, seinen Rock ... Willkommenausrufe. Grüße, Segenswünsche, Bitten ... einige Frauen schluchzen vor Erregung des Wiedersehens.
Er ist nur ein Geächteter, auf dessen Haupt ein Preis gesetzt ist. Allein die Gefahr, die ihnen selber droht, ist bei seinem Anblick vergessen. Es ist, als ob sein Erscheinen Sicherheit und Frieden brächte.
Ein paar Minuten danach sind die Bänke wieder besetzt.
Der große Gottesfreund steht am Pulte.
Seine Augen wandern über die kleine Versammlung und ruhen dabei eine kurze Weile auf jedem einzelnen Gesicht. Dann richten sie sich aufwärts mit jenem ihm eigenen sinnenden Blick ins Leere, den sie alle so gut kennen.
Keine Glocke hat zum Gottesdienst geläutet; jetzt aber ertönt seine tiefe glockenklare Stimme,