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Viertes Kapitel.

Der schachbietende Läufer.

»Wer ist gekommen?«

Die beiden fahren auseinander, als ob man sie bei einer Verschwörung überrascht hätte.

Renata ist hereingetreten.

In einen dunklen Mantel gehüllt, die Kappe über den Kopf gezogen, steht sie auf der Schwelle zum Alkoven ihres Gemaches, gleich einem Fehmrichter.

»Wer sollte wohl gekommen sein, Renata?«

»Habt Ihr's nicht gehört? Es wurde ans Tor geklopft, und die Gattertür wurde geöffnet ... Ihr wißt, wer es ist!«

Sie wissen nichts, haben nichts vernommen.

Aber sie werden von ihrer Ahnung ergriffen, daß irgend etwas Feindseliges sich in die Burg geschlichen habe und sich nähere.

»Pst!«

Lautlos verschließt Renata hinter sich die Tür, deren Griff sie noch nicht losgelassen hat.

Unten schlägt eine Tür zu.

Von der Treppe her sind Tritte hörbar – mehrere – zweierlei – die einen leichter, die anderen schwerer.

Eine Stimme hallt gedämpft im engen Treppenraume.

Es ist die Kurts.

Offenbar warnt er einen Fremden, sich in acht zu nehmen vor der halbabgebröckelten Stufenecke, da wo die Treppe umbiegt.

Wer kann dieser Fremde sein?

Sollte er es sein, der schon den Weg nach dem schützenden Asyl gefunden?

Aber die Tritte, die jetzt schon die obersten Stufen erreicht haben, sind leichter als die seinigen.

Wäre es möglich, daß man schon Verdacht habe, er könne hier verborgen sein, und käme, um alles vom Bodenraum bis zum Keller zu durchstöbern?

Mehr als ein Ding gibt's im Hause, das sich nicht für jedermanns Blick eignet. Besser wär's wohl, wenn jene Bücher verborgen lägen als da sind: Dionysios der Areopagit, die Schriften Meister Eckeharts, die Predigten Taulers; ferner deutsche Übersetzungen der Evangelien und der Episteln; und die schlimmsten von allen – seine eigenen, des großen Gottesfreundes Sendschreiben und Briefe ...

Es pocht, vorsichtig, bescheiden.

Mit einem kräftigen Griff, der von einer endlich ausgelösten Spannung zeugt, reißt Konrad die Tür auf.

Draußen breitet die von Kurt getragene Hornleuchte einen rötlich-gelben Hintergrund aus, gegen den sich eine dunkle Gestalt abhebt, mittelgroß, etwas schmächtig: schwarzer Reitanzug, schwarze Mütze, schwarzes Haar. Ein Safranschein, der als Abschiedsgruß vom westlichen Abendhimmel hereinströmt, beleuchtet zwischen Mantel, Mütze und Haar ein jugendliches, bartloses Gesicht – ein elfenbeinernes Dreieck in einem Ebenholzrahmen –: breite Stirn, schmale Wangen, spitzes Kinn.

Viel mehr ist nicht zu unterscheiden. Höchstens sieht man, daß die Augen mit gebogenen Brauen, die Nase und der dünne Lippenstrich genau angebracht sind. Das genügt jedoch, um Gertrud im Stillen ausrufen zu lassen: –

›Welch schöner junger Mann!‹

Sie hat monatelang nichts Männliches gesehen als was in Hof und Garten und in der Kemenate der Burg davon zu finden ist.

›Einer der Schwarzen‹, denkt der Hausmeier. ›Pharisäer, Schriftgelehrter ... Otterngezücht, getünchtes Grab – das sieht ja ein Blinder.‹

Er steht dem Ankömmling am nächsten, und das Gesicht behagt ihm weniger als dem Fräulein.

Renata denkt: –

»Er steht da wie ein schwarzer Läufer auf einem Schachfelde, will er uns matt setzen, dann möge er sich vor der Königin in acht nehmen!«

Der Gast verneigt sich tief. Die Mütze kommt vom Kopfe mit einem Schwung«, daß ihr Sammetrand die Schwelle fegt.

›Tonsur hat er jedenfalls nicht‹, bemerkt der Hausmeier in seinem Innern – ›es sei denn, daß er sie verbirgt. Das aber sind die Schlimmsten.‹

›Welch edler Anstand!‹ ist Gertruds Eindruck.

Renata denkt: –

›Er grüßt mich über meinen Rang, als ob ich Reichsgräfin oder gar Fürstin wäre. Das ist immer verdächtig.‹

Aber auch sie kann nicht leugnen, daß seine Stimme recht angenehm ist. In den Ohren Gertruds klingt sie gleich der eines Erzengels – als er nun fragt, ob er die Ehre habe, der Gebieterin dieser Burg, der Edelfrau von Laufen-Langenstein gegenüber zu stehen.

Mit einer Kopfneigung bestätigt Renata seine Vermutung.

»Wer seid Ihr, junger Mann? und was führt Euch in so später Stunde hierher?«

»Später als ich gehofft hatte, edle Frau. Ein Mißgeschick, von dem ich unterwegs betroffen wurde, hat mich nicht unerheblich verspätet. Ich bin der Famulus Seiner Hockwürden Ottmar von Winterstetten, Bischof zu Regensburg.«

Dieser Name erinnert Gertrud daran, daß selbst wo dies verheißende und anscheinend himmelgesandte Wesen sich zeigt, nicht alles Friede und Engelswonne ist. Ein unwillkürlicher, nur halberstickter Ausruf der beiden Frauen und ein schneller, zwischen ihnen und dem Hausmeier gewechselter Blick entgeht nicht der Aufmerksamkeit des Gastes. Ebensowenig aber bleibt das flüchtige Lächeln, womit dieser den Eindruck des Namens bucht, von Konrad unbemerkt. Der Hausmeier verschlingt den Fremden mit einem Blicke, der durch die Enthüllung des Woher an Freundlichkeit nicht gewonnen hat.

»Der Bote Bischof Ottmars ist ein werter Gast auf Burg Langenstein. Tretet näher, Herr, und nehmt Platz, bevor Ihr uns mitteilt, in welcher Veranlassung Seine Hochwürden Euch schickt!«

Solchermaßen aufgefordert überschreitet der junge Mann mit abermaliger, noch tieferer Verbeugung die Schwelle und setzt sich auf den Stuhl, den der Hausmeier zurechtstellt. Darauf schließt Konrad die Tür, an deren Pfosten er regungslos wie eine Bildsäule stehen bleibt, den Gast mit einem Blicke durchbohrend, den dieser, obwohl halb abgewandt, fortwährend fühlt; während Renata mit Schrecken darin den wilden und wagen Gedanken liest, daß nötigenfalls ein offenes Fenster nahe bei der Hand ist und unter demselben eine dreihundert Fuß senkrechte Felswand nach dem Fluß hinab, dessen Stromschnellen jetzt, in der zunehmenden Abendstille, ihr Brausen deutlich vernehmbar heraufschicken.

Nur sehr wenig Licht dringt noch zum Fenster herein. Genug zwar, um die Gestalten zu unterscheiden, aber bei weitem zu wenig, um die Gesichtszüge zu erforschen. Ihre eigenen befinden sich im Schatten. Sie weiß, daß sie starr und blaß ist. Sie fühlt das Herz unterm Brustlatze pochen. Von den Jugendtagen an ist es eine liebe Gewohnheit dieses törichten Herzens, beim Namen Ottmars zu klopfen. In der letzten halben Stunde aber hat er sich ein neues furchtbares Recht erworben, ihre Pulse unruhig zu machen.

Sie zweifelt so wenig wie die anderen, daß dieser Besuch in genauem Zusammenhange mit jenem Preise steht, den der Bischof auf den Kopf des großen Gottesfreundes gesetzt hat.

Der Famulus räuspert sich: –

»Von meinem Herrn, dem Bischof, habe ich seinen huldvollen Gruß auszurichten. Seine Hochwürden befinden sich auf einer Rundreise in seinem Sprengel und bitten Euer Gnaden, ihm und seinem nicht sehr großen Gefolge einige Tage lang Gastfreundschaft auf Burg Langenstein zu gewähren.«

Die Botschaft wirkt befreiend. Ob wohl der Überbringer fühlt, daß in dieser Stube plötzlich drei Menschen wie erlöst aufatmen?

»Eine solche Bitte ist als eine große Ehre zu schätzen. Nur wünschte ich, daß sie zu einer günstigeren Zeit käme. Hat Seine Hochwürden nicht von der schrecklichen Seuche gehört, die unsere kleine Stadt heimsucht?«

»Als ich heute früh meinen Herrn verließ, war noch nichts davon bekannt. Ich erfuhr es erst unten in Langenstein.«

»Wäre es dann aber nicht richtiger gewesen, zurückzureiten, um Bischof Ottmar zu warnen, damit er beizeiten umkehren könne und nicht sein für die Kirche so kostbares Leben gefährde?«

»Edle Frau, Ihr kennt meinen Herrn nicht. Nie würde der Bischof sich durch persönliche Gefahr verhindern lassen, einen Schritt zu tun, den ihm seine Amtspflicht zu gebieten scheint, wie denn sein frommes Gemüt sich überall in den Händen des Höchsten fühlt, dessen Wille geschehe. Amen!«

»Amen!« brummt Konrad und flüstern zwei Frauenlippen responsorienartig.

»Und wann können wir den Besuch Seiner Hochwürden erwarten?«

»Sehr bald – leider, muß ich hinzufügen, insofern es mir höchst peinlich ist. Euch keine langfristigere Anmeldung geben zu können, welche, wie mein Herr sehr wohl weiß, eine Burgfrau schätzt und worauf sie Anspruch machen kann. Diese unziemliche Vernachlässigung, die ich sehr zu entschuldigen bitte, ist durch einen Unfall verschuldet, worauf ich schon hindeutete, einige Meilen von hier stürzte mein Pferd, das dadurch lahmte und mich nur in sehr langsamer Gangart nach Eurer Stadt tragen konnte. Dort brachte ich es im Wirtshaus ›Zum goldenen Stierkopf‹ unter, das den Eindruck macht, sein Versprechen guter Verpflegung für Mensch und Vieh einlösen zu wollen, nach dem höchst zuvorkommenden Wirt zu urteilen.«

»Da kann ich Euch nur wünschen, daß Euer Pferd mehr Hafer fürs Geld bekommen möge, als die meinigen erhielten. Der Mann stammt aus dieser Burg und verwaltete mir die Landwirtschaft, bis ich ihn Unterschleife halber wegjagen mußte.«

»In der Tat! ... Eine edle Ritterdame wird es einer armen Schreiberseele zugute halten, wenn selbige nicht gerade durch Menschenkenntnis glänzt. Auch möge es zu meiner Entlastung dienen, daß der Mann mit sonderlicher Ehrerbietung von der Herrschaft sprach.«

Ein seltsames Grunzen scheint von der Bildsäule am Türpfosten auszugehen.

Renata lächelt: –

»Wenn er es meint, ist Stephan der Wirt ein besserer Christ, als ich glaubte ... Nun, Hausmeier, es scheint nicht des Himmels Wille zu sein, daß ich heut' Abend zu den armen Seuchenkranken in Langenstein hinunterkomme. Denn das ist die Ursache dieser Unordnung, in die Ihr, mein Herr Famulus, so hereingeschneit seid; ich stand im Begriff, in die Stadt hinunterzugehen, mit mancherlei Sachen, deren kranke Leute bedürfen und die ich aus meinen Vorräten in aller Eile zusammengesucht habe.«

»Aber im Namen der Heiligen, edle Frau, Ihr dachtet doch nicht daran, selber in die Höhlen der Seuche hinunterzusteigen?«

»O, die Witwe meines Bruders fürchtet sich nicht vor der Seuche. Deshalb kann sie auch nicht angesteckt werden.«

Bei dieser kindlich stolzen Erklärung Gertruds schaudert die schwarze Gestalt zusammen.

Eine Bewegung, die die Hand unter der Tischplatte macht, wäre unbemerkt geblieben, wenn nicht die Bildsäule am Türpfosten gewesen wäre.

Die kleinen hellen Augen sehen gar wohl, wie ein paar weiße Finger mitten in all dem Schwarzen ein luftiges Elfenbeinkreuz zeichnen. Die Stirn runzelt sich, als ob der Haarzipfel in die jetzt völlig vereinigten Brauen hinunterwachsen wollte.

Eine Weile herrscht vollkommene Stille.

Vernehmbarer denn je dringt durch das offene Fenster das Brausen der Stromschnellen am Fuße des Burgfelsens in das Gemach.

Renata erhebt sich.

»Laß also Kurt die Sattelsäcke holen und mit dem Esel hinuntergehen. Er möge die Sachen nach dem Hause der Elisabethinerinnen bringen, wo die Vorsteherin schon den rechten Gebrauch davon machen wird. Sorge für unseren Gast, wenn er einiger Erfrischung bedürfen sollte, was nach dem Tagesritt wahrscheinlich ist ... Komm, Gertrud, für uns gibt es jetzt unten genug zu tun.«

Ein Hornruf in unmittelbarer Nähe, eher durch ungefüge Tonstärke denn durch Wohlklang ausgezeichnet!

»Schon so bald! Und wir sind keineswegs in einem Anzug, der sich für den Empfang eines Gastes von so hoher Würde geziemt.«

Der Schwarze ist beim Klange des Türmerhornes aufgesprungen.

» Et mea culpa – mea maxima culpa »Meine Schuld, meine größte Schuld!« (Worte aus dem Messe-Kanon)., wenn eine so profane Benutzung des heiligen Wortes erlaubt ist.«

»Ihr seid doch nicht selber zu Schaden gekommen, Herr Famulus?« fragt eine teilnehmende Mädchenstimme.

»Eine wohlbedachte Frage, Gertrud! und um so beschämender für mich, die Wirtin, daß ich sie nicht schon längst gestellt habe! Hoffentlich kann unser Gast uns in dieser Beziehung beruhigen.«

»Vollkommen. Kein anderer Schaden ist geschehen als der, von dem meine hochedle Wirtin soeben sprach; und der dürfte sehr geringfügig sein, wenn Seine Hochwürden an der Schwelle der Kemenate von so viel Schönheit und Anmut empfangen wird, kann er für die äußere Hülle kaum noch den geringsten Blick übrig haben. Ganz davon zu geschweigen, daß die Samariter-Absicht, die sich in Eurer Einfachheit äußert, und von der ich nicht unterlassen werde, meinen Herrn zu benachrichtigen, nicht umhin kann, das menschenfreundliche Gemüt des Bischofs aufs tiefste zu rühren.«

Indem er mit großer Befriedigung diesen wohlgegliederten Satz zum volltönenden Abschluß bringt, bildet der Schwarze vor dem ledigen Türpfosten ein Seitenstück zum Hausmeier.

Zwischen beiden sich verbeugenden Torwächtern verlassen die Frauen die fast ganz dunkle Stube. Beide pochenden Herzens. Die ältere blaß, im Schatten schwermütiger Erinnerungen; die jüngere sanft erglühend im Dämmerschein der aufleuchtenden Frage: ob wohl ein Teil von ›so viel Schönheit und Anmut‹ – wenn auch nur ein ganz kleiner Teil – auf ihre eigene jungfräuliche Rechnung zu setzen sei.


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