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»Es ist recht abschüssig und sehr steinig hier. Stützt Euch fester auf meinen Arm, Hochwürden.«
»– ›Hochwürden‹? Soeben nanntet Ihr mich ›du‹ und ›mein Sohn‹.«
»Das war auf der Höhe des Kalvarienberges. Jetzt steigen wir zu den Menschen hinunter und wollen der Welt geben, was der Welt gehört.«
Der letzte Teil des Abstieges ist beschwerlich. Noch beschwerlicher zeigt es sich, über den Steg zu kommen, der nur an der einen Seite mit einem schwachen, schwankenden Geländer versehen ist. Auf dem Wege zur Burg hinauf drohen Ottmar die Kräfte mehr denn einmal zu verlassen, so daß er ein paar Minuten lang stehen bleiben oder sich auf einen Baumstumpf niedersetzen muß.
Jedoch der Stock des Kaufmanns, dessen er sich bedient, und noch mehr der stützende Arm leisten ihm gute Hilfe, und sie erreichen endlich ihr Ziel.
Der Kaufmann schlägt von selber den kleinen Fußpfad ein, auf dem Ottmar die Burg verlassen hatte. Der schlängelt sich durchs Gebüsch nach einer Tür, die in einer Mauerecke verborgen ist. Diese Pforte war nicht verschlossen gewesen, als Ottmar aus ihr hinausstürmte, ohne sich weiter etwas dabei zu denken. Sie ist ihm ein vertrauter Ausgang von alten Tagen her, wo er ein häufiger Nachtschwärmer war, der es liebte, in mondhellen Nächten auf Waldpfaden seinen Träumen nachzugehen. In den friedlichen Zeiten, die man damals genoß, ließ man die kleine halbverborgene Tür unverschlossen. Jetzt kommt ihm der Gedanke, daß er allerdings, so wie die Sachen jetzt stehen, Vorsorge hätte treffen sollen, daß sie sicher verriegelt würde.
Andere haben das in seiner Abwesenheit getan.
»Man hat die Tür abgeschlossen, während ich fort war. Niemand wußte, daß ich ausging ... Nun müssen wir bis zum Morgen warten. Sehr lange kann's wohl nicht mehr dauern.«
Immerhin ist es für ihn, den Todmüden, eine Enttäuschung. Es zieht kühl von der Waldschlucht her. Das ist keine erfreuliche Aussicht, wenn es sich auch nur um eine kleine Stunde handelt.
»Wir werden sehen,« sagt der Kaufmann.
Er bückt sich und liest einige der umherliegenden Steinchen auf.
Ottmar blickt empor und erkennt undeutlich einen Fachwerkerker, der in doppelter Manneshöhe über ihm aus der Mauer hervorspringt. Der war zu seiner Zeit nicht da gewesen; es ist die erste bauliche Neuheit, die ihm an der Burg auffällt, die ja im Begriffe steht umgebaut zu werden.
Eins, zwei, drei Steinchen wirft der Kaufmann dort hinauf. Der KIang bezeugt, daß sie an einen Fensterladen anschlagen.
Es dauert nicht lange, so wird der Laden geöffnet.
»Wer da?« fragt eine schlaftrunkene Stimme.
» Amicus tuus Deique.«
Die überraschende Antwort erinnert Ottmar an die Inschrift in Gertrud von Laufens Abschrift der deutschen Paulus-Übersetzung: ›von ihrem Freund und Gottes‹.
»Gut geantwortet ... soweit,« murrt der Wächter, oder wer sonst oben im Erker steht. »Aber nicht genug, um in diesen unruhigen Zeiten zur Nachtzeit eingelassen zu werden.«
»Kommt herunter, und ich werde Euch zeigen, wem Ihr aufmacht.«
Der Fensterladen schließt sich mit einem nicht sehr freundlichen Brummen.
Es dauert eine Weile. Ottmar will schon bemerken, daß der Versuch wohl mißlungen sei, als Schritte von jenseits der Mauer hörbar werden und ein schwacher Lichtschein sich nähert.
In der Tür wird eine kleine Klappe geöffnet. Nicht größer als eine Hand. Eine Hand ist es denn auch, die sich in der Öffnung zeigt, sie völlig ausfüllend, die Handfläche nach außen, gleich einer Tafel.
Ottmar ist voll Neugier näher getreten und sieht jetzt, daß der Kaufmann mit seiner Fingerspitze auf diese Handtafel mehrere Zeichen – Ringe, Kreuze, Punkte – schreibt.
Ein gedämpfter Ausruf ertönt von drinnen. Die Hand ist schon verschwunden, der Schlüssel klirrt so eifrig im Schlosse, als gelte es das Leben, die Tür schleunigst zu öffnen.
Sie geht mit einem Ruck auf. Drinnen steht der Hausmeier und hinter ihm ein Wächter mit einer Leuchte.
Obwohl der Kaufmann erst kürzlich erklärt hat, der Welt das Ihrige geben zu wollen, setzt er bei dieser Gelegenheit aus irgendeinem Grunde alle Förmlichkeit beiseite und tritt zuerst ein.
Der Hausmeier ergreift seine Hand und küßt sie.
»Ach Herr, wir sind Euretwegen in großer Sorge gewesen ... Aber ist es denn auch richtig, den Kopf in die Löwenhöhle – – – «
Er bricht ab, als er plötzlich das Gesicht Ottmars in dem Lichtkegel der Leuchte auftauchen sieht.
Der schmale Stirnhautstreifen zwischen den dicken Brauen und dem pelzmützenartigen Haare runzelt sich unwillkürlich zusammen, während er ein »Guten Morgen, Hochwürden« in seinen struppigen Bart murmelt.
Ottmar weiß recht wohl, daß der Hausmeier ihn nicht gerade mit günstigen Augen betrachtet. Er hat es längst bemerkt mit der oberflächlichen Verwunderung, die hochgestellte Persönlichkeiten für derartige Gefühle bei Untergeordneten übrig haben. Diesmal, in dem unwillkürlichen Ausdruck der Überraschung, fällt es ihm mehr denn je auf. Und jetzt weiß er auch, daß er dies Gesicht schon lange vorher einmal gesehen hat. Jedoch nicht hier auf Langenstein. Bei welcher Gelegenheit haben sich diese Züge gerade mit diesem feindlichen Eindruck in seine Erinnerung eingegraben?
Es bleibt ihm versagt, diese Gedanken weiter zu verfolgen. Seine Verwunderung über den Eingang und den Empfang des Kaufmanns auf Burg Langenstein nimmt ihn zu sehr in Anspruch, während er die Tür hinter sich zuschlagen und abschließen hört, wiederholt er in Gedanken seine Frage auf dem Kalvarienberg:
›Was seid Ihr denn eigentlich für ein Kaufmann?‹
Eine Frage, auf die eine Antwort schon ahnungsvoll in ihm emportaucht.