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Zweites Kapitel.

Vincentius unterwegs.

Vincentius nimmt mit jedem Satze zwei der hohen Wendeltreppestufen.

Der erste Blick überzeugt ihn, daß seine Papiere sich auf dem Tische der Turmkammer in der schönsten Ordnung befinden. Dort links die kirchlichen Angelegenheiten. Der Brief vom Mittelmünster richtig an seinem Platze. Mit zitternden Händen entfaltet er das Schreiben – leer! Kein beschriebenes Blatt darin! Er durchblättert die folgenden Papiere – wieder und wieder – nirgends das Gesuchte ... Und wo ist der Brief des Kanzlers aus Münchens .. weggenommen!

Vincentius sinkt auf den Stuhl nieder. Kalter Schweiß perlt ihm auf der Stirn.

Es ist so, wie er die ganze Zeit fürchtete! Der Bischof hat in seinen Papieren sicherlich nach dem Kanzlerschreiben gesucht, hat dabei den Brief vom Mittelmünster geöffnet und den Entwurf gefunden, jenes doppelt verräterische Blatt, das seinen Verrat verrät.

Er ist diesem Manne auf Gnade und Ungnade in die Hände gegeben. Und hat er Grund auf Gnade zu hoffen? Hat er irgendeine Entschuldigung? – Keine! –

Es war am zweiten Abend kurz nach seiner Ankunft in Telheim, als er seinen furchtbaren Fehlgriff entdeckte.

Gerade als er recht reisemüde das große Bett im besten Zimmer des Wirtshauses aufsuchen wollte, war es ihm eingefallen, den Wortlaut des Briefes nachzusehen, den er bei Stephan dem Wirt für Bruder Martin zurückgelassen hatte. Denn der Entwurf mußte sich ja in seiner Tasche befinden. Er hatte ihn mitgenommen, damit er nicht umherliege, da er keinen sichern Aufbewahrungsort besaß. Aber kaum hatte er das Papier der Tasche entnommen, als seine Kniee so zu zittern anfingen, daß er sich auf die Bettkante setzen mußte.

Diese Krähenfüße, Adlerkrallen – nein, Teufelsklauen! So verschieden von seinen eigenen Schriftzügen, und so wohlbekannt! Der Entwurf des Bischofs zur Antwort an das Mittelmünster! Er entsinnt sich aber doch so deutlich, daß er diesen Entwurf nach Benutzung ins Schreiben des Stiftes hineingelegt hat! Also muß er zweifelsohne, durch einen Streich, den ihm der Böse selber gespielt, in seiner großen Eile die beiden Entwürfe verwechselt haben, und sein eigener, für den Brief an Martin verfaßter Entwurf befindet sich jetzt, in das Stiftsschreiben hineingelegt, auf dem Tische der fünfeckigen Kammer!

Während jener Nacht kam kein Schlaf in seine Augen. Am liebsten wäre er spornstreichs zurückgeritten, obwohl er furchtsam im Dunkeln war und eine tödliche Angst vor Gespenstern hatte, vergebens sagte er sich immer wieder, es wäre gar nicht wahrscheinlich, daß die Ruhe des verräterischen Blattes im Schöße der »kirchlichen Angelegenheiten« gestört würde. Seine wache Angst flüsterte ihm fortwährend zu, der Bischof könne jeden Augenblick irgendein Schriftstück suchen, das er seinem Famulus zur Aufbewahrung übergeben hatte, vielleicht den Brief vom Mittelmünster, ja höchst wahrscheinlich gerade den. Sofort war er von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet.

Am folgenden Morgen überzeugte er sich mit bereitwilliger Schnelligkeit von der Unschuld des alten Volkssängers – wenigstens insofern als dieser nicht der gesuchte Erzketzer und überhaupt keine Person von Bedeutung war. Vincentius ließ ihn also nach Regensburg schicken und bestieg sein Klosterpferd, um vorläufig nach Weltenburg zurückzukehren, wo er übernachten mußte.

Hier hatte er eine lange und vertrauliche Unterhaltung mit dem Prior, den sein Bischof als einen klugen und in Ketzerfragen erfahrenen Mann gelobt hatte.

Der Prior wunderte sich keineswegs, daß der junge Mann einen vergeblichen Ritt gemacht hatte. Er habe die ganze Zeit den Verdacht gehegt, daß dies Gerücht von der Sängerverkleidung des großen Gottesfreundes durch die Ketzer selbst verbreitet werde, um den Bischof auf falsche Fährte zu locken, viel eher solle man ein wachsames Auge auf reisende Kaufleute und auf Baumeister haben, denn dies seien die falschen Verkleidungen, die solche Begardenapostel mit Vorliebe benutzen. Besonders seien die Baumeister verdächtig wegen der erwiesenen Verbindung der geheimen Sekten mit den Bauhütten. Was aber die Burg Langenstein und ihren vermuteten Zusammenhang mit jenem Erzketzer betreffe, so habe der Prior sie schon lange in ernstem Verdacht gehabt.

Da war – erzählte er – vor mehreren Jahren ein Reisender nach Weltenburg gekommen, um sich über die Donau setzen zu lassen. Ein Mann in mittleren Jahren mit kräftigen, klugen Zügen. Er gab sich für einen Baumeister aus, und als der Prior ihn in die Klosterkapelle führte und ihm ein wenig auf den Zahn fühlte, zeigte er auch wirkliche Kenntnisse in diesem Fache. Er ließ nichts davon verlauten, wohin er sich begeben wollte. Deshalb befahl der Prior einem jungen Mönche, dem Fremden auf der Spur zu folgen. Diese führte nach Burg Langenstein; jedoch nicht durch das Städtchen und über die Brücke, sondern über den Kalvarienberg und den Steg, und zwar zur Zeit der Mitternacht. Er fand auf rätselhafte Weise Einlaß in die Burg; wann er aber diese wieder verließ, hatte der Mönch nicht erforschen können. Als jetzt der Prior vor einigen Wochen die Gerüchte von bevorstehenden Umbauten auf der Burg vernahm, war ihm jene Begebenheit wieder in den Sinn gekommen. Sie hatte sich zu der Zeit zugetragen, als der Burgherr Hugo von Laufen-Langenstein starb – also genau vor fünf Jahren.

Vincentius stutzte. Es fiel ihm auf, daß die Inschrift in Gertrud von Laufens Paulus-Verdeutschung von dem »Freund Gottes« vom Sankt-Johannistag vor fünf Jahren stamme. Dies war wenigstens ein auffallender Umstand, der ihm zu denken gegeben hätte, wären seine Gedanken nicht gelähmt gewesen durch die Angst vor der Entdeckung seines Verrates; sie stieg immer höher, je mehr er sich seinem Ziele näherte, und erreichte Fieberhitze, als er über dem Städtchen den Bergfried auf dem Fels emporragen sah.

Aber trotz der Ungeduld, sich Gewißheit zu verschaffen und eine Entdeckung zu verhindern, die bestenfalls noch mit jeder Minute drohte, welche verging, bevor er seine fünfeckige Kammer betrat – obwohl er solcherweise den Angstsporn in der Seite hatte, konnte doch keine Rede davon sein, ohne Aufenthalt quer durch die Stadt zu reiten. Gerade in der Lage, in der er sich befand, war es für ihn von der äußersten Wichtigkeit, Zuverlässiges über die Zustände in der Stadt zu erfragen.

Diese Notwendigkeit drängte sich ihm um so stärker auf, da offenbar etwas Ungewöhnliches vorging.

Er bemerkte es, noch bevor er in die Stadt hineinkam. Überall sah er Landleute in Bewegung oder Gruppen von Bauern in erregtem Gespräche; hier und dort bildeten sie einen Kreis um einen Redner: einen sektiererischen Wanderapostel oder Barfüßermönch – Vincentius hatte keine Zeit es zu untersuchen. Als er in die einzige Straße Langensteins kam, fand er dort und in den anstoßenden Gäßchen dasselbe aufgescheuchte Treiben. Die Leute hielten mit Essig getränkte Schwämme vor den Mund oder hatten den unteren Teil des Gesichtes zugebunden; aber selbst die Furcht vor der Ansteckung konnte sie nicht abhalten, sich zusammenzudrängen und ihrer Zunge freien Lauf zu lassen, so beschwerlich es auch unter diesen Umständen sein mochte.

Die Seuche war offenbar im Zunehmen begriffen; es schien sich aber noch etwas Besonderes ereignet zu haben.

Im Elisabethinerinnenhause traf er Bruder Martin, und hier bekam er bei einer Kanne Weins, der er selber nur mäßig Bescheid tat, die wichtigen Neuigkeiten zu hören.

Der Franziskanermönch war mit seinen Begleitern am frühen Morgen in Langenstein angekommen, nachdem Vincentius am vorhergehenden Nachmittage weggeritten war. Der Wirt vom goldenen Stierkopfe händigte ihm sofort das »fromme und scharfsinnige Schreiben« ein, das der Herr Famulus für ihn zurückgelassen hatte. Ohne Zögern nahm er sodann mit dem trefflichen Wirt und mit einigen klugen und gottes fürchtigen Männern der Bürgerschaft Rücksprache. Er sah sofort deutlich, wie es sich mit dieser Seuche verhielt und daß hier wenig mit Kräutern und Wurzeln und Salben auszurichten wäre, sintemal es doch offenkundig der Zorn des Himmels sei, der die Stadt traf, weil die Burg der Ketzerin ungestört dort oben thronte, ja sich sogar anschickte, neue Befestigungen des Bösen anzulegen. Dies sahen sogar die braven Bürger ein, um wie viel mehr er, der Franziskaner! Er aber wußte nun auch sofort das Remedium, das gerade bei der Hand lag. Denn wie man sagt, daß dort, wo der liebe Herrgott eine Kirche errichte, der Teufel ein Wirtshaus baue – (nicht, daß Bruder Martin übrigens die Wirtshäuser gänzlich verdammte, wenn sie gute Getränke führten und der Wirt den Mönchen gegenüber seine Schuldigkeit tat) – so hatte man also hier dem Teufelskrug auf dem Felsen gegenüber sogleich eine Kirche: nämlich die vielen Kapellen des heiligen Kalvarienberges! Also eine Wallfahrt dort hinauf mit Gebet und Lobgesang vor jeder Passionsstation und einer Messe vor dem Kruzifix – das war das Remedium.

Zu diesem Zwecke hatte er sofort eine Versammlung einberufen – aber nicht nur der Bürger Langensteine sondern auch von Vertrauensmännern aus den Dörfern in weitem Umkreis; und zwar wurde diese noch am Donnerstag Abend vor dem goldenen Stierkopf abgehalten, dieweil periculum in mora war.

»Aber es scheint wahrhaftig, als ob Satanas wegen der Sünden dieser Gegend Macht und Erlaubnis erhalten habe, hier nach Gutdünken und Willkür sein Spiel zu treiben. Denn wie ich gerade mitten in meiner großen Oratio war, wer anders stand da plötzlich mitten unter uns als Bischof Ottmar!«

Mehr als einmal wurde Vincentius während des nun folgenden Berichtes mit einem ganzen Panzer von Gänsehaut bekleidet. Und mittlerweile konnte er mit sich selber nicht einig werden, ob er Bruder Martin die Geschichte von dem unseligen Entwurfe seines Briefes und dessen unsicherem Schicksal anvertrauen sollte. Sprach übrigens dies plötzliche Erscheinen des Bischofs unten im Städtchen nicht stark für die Annahme, daß er durch den gefundenen Entwurf den Verrat entdeckt habe?

»Von der im Sinne gehabten Wallfahrt scheint Ihr aber dem Bischof nichts gesagt zu haben?«

»Gewißlich nicht! Denn daran ist nicht zu zweifeln, daß er nach seiner gottlosen Denkweise – denn so nenne ich sie unter uns – sie alsbald verboten hätte ... Ach ja! meine arme Wallfahrt! . .. da kam nun freilich ein noch machtvolleres Verbot durch diese schreckliche Begebenheit dazwischen ...«

Und nun erzählte er von der eigentlichen Ursache der großen Erregung, die sich innerhalb und außerhalb des Städtchens zeigte.

Donnerstag war der schwülste all dieser heißen Tage gewesen. Über dem Waldberge hinter der Burg aber standen den ganzen Nachmittag noch dickere Wolken als die, welche schon so oft bei den Bürgern vergebliche Hoffnungen erweckt hatten. Denn die unerhörte Trockenheit und Hitze, die die ganze Ernte bedrohte, erschien ihnen als ein Fluch, der mit der Seuche irgendwie im Bunde stand. Ganz deutlich konnte man erkennen, daß diese sich täglich wieder sammelnden Wolken so inniglich gern heraufkommen und Hilfe schaffen wollten, es aber nicht konnten, weil eben die böse Burg mit ihrem drohenden Turm, gleich einem Satanshorn, sie zurückscheuchte und bannte. Diesmal stiegen sie aber beim Sonnenuntergange tatsächlich höher, und alle atmeten auf in der festen Erwartung des Regens, der – wie man sicher annahm – das Abnehmen der Seuche mit sich bringen würde. Das Antlitz des Himmels wurde immer drohender, und die Leute mochten nicht zu Bett gehen, da sie ein mächtiges Gewitter erwarteten, bis es ihnen schließlich doch zu lange währte. Mitten in der Nacht wurden sie durch einen Blitz und Donnerschlag von solcher Gewalt geweckt, daß auch die ältesten Leute sich nicht erinnerten, je etwas Ähnliches erlebt zu haben: – nur einen einzigen, und dabei fiel nicht ein Tropfen Regen! Am folgenden Morgen war der Himmel blau wie immer; aber gleich einem Lauffeuer ging die Nachricht durch die Stadt, jener Blitzschlag habe ihr berühmtes, wunderwirkendes Kruzifix auf dem Kalvarienberge zerschmettert.

»Nun müßt Ihr wissen, mein Herr Famulus, daß, obwohl der Bischof über meine Beredsamkeit spöttelt – Andere sind freilich darüber anderer Meinung, aber es mag wohl sein, daß sie nicht genug weltlicher Art ist, um so ganz nach dem Geschmacke Seiner Hochwürdcn zu sein; sicher ist es aber, daß aus meinem Munde von Zeit zu Zeit ein heiliger prophetischer Geist spricht, von dem man allerdings nicht erwarten darf, daß er nach heidnischen Rhetorenregeln sich richte. In meiner an die Bürger gerichteten Oratio hatte ich nämlich gesagt, daß der Zorn des Himmels, weil sie jene Ketzerburg über sich duldeten, sich wohl so äußern würde, daß er jenes Kruzifix zerschmettere, auf daß sie nicht länger unter seinem segensreichen Schutze stünden und es sei, als ob Christus nicht für sie am Kreuze gestorben wäre. Daran erinnerten sich nun alle und ehrten mich noch höher denn zuvor, wozu sie ja auch allen Grund hatten. Ja, sie riefen, ich möchte doch für ihre unglückliche Gegend ein zweiter Peter von Amiens werden und alle frommen Männer von nah und fern zu einem Kreuzzuge gegen jene Burg und Feste Satanas' versammeln. Ihr könnt Euch aber denken, wie die Erregung stieg, als gleichzeitig die Seuche sich in die ganze Stadt, ja ringsum in die bis jetzt verschonten Dörfer verbreitete.«

»Dies sind allerdings wichtige Neuigkeiten,« sagte Vincentius und schaute ganz blaß drein. Denn solch ein offenbares Wunder machte einen starken Eindruck auf sein frommes Gemüt. »Immerhin scheint mir jedoch in dieser Stimmung der Bürgerschaft wieder etwas Tröstliches zu liegen; denn sie umgibt Euch mit einer starken Leibwache und stellt Euch sogar an die Spitze eines ganzen Heeres. Von welcher Wichtigkeit dies aber ist, werdet Ihr einsehen, wenn Ihr mich anhört. Denn auch ich habe Euch etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Und jetzt erzählte er, was mit dem Entwurf jenes ›frommen und scharfsinnigen‹ Briefes geschehen war – in welcher Gefahr sie geschwebt hatten und vielleicht noch schwebten. Dies wirkte so kräftig auf seinen Zuhörer, der sich schon durch einen herzhaften Schluck aus seinem Becher stärken wollte, daß die roten Tropfen über die graue Kutte hinunterperlten.

»I nun, mein frommer Vater! Ihr habt doch vorläufig geringeren Grund als ich, mit der Hand zu zittern – Prosit! Gott sei mit Euch und halte seine Hand über mich, der ich meinen Nacken geradezu in die Schlinge stecken muß. Zu guter Letzt sind wir freilich in demselben Kahn und müssen schwimmen oder ertrinken zusammen – Amen! Schlimmstenfalls sind wir nicht waffenlos. Aber unsere Waffe wird uns recht bald aus der Hand gleiten. Heute ist es Euch eine leichte Sache, diese wütenden Bürger und Bauern zu leiten. Aber in ein paar Tagen zerstreuen sich die Bauern in ihre Dörfer, und Ihr werdet Euch wundern, wie taub das Ohr der Bürger für einen Kreuzzug dann schon geworden sein wird, was uns jedoch die größte Macht über den Bischof gibt, merkt Euch das, mein frommer Vater – vom Beichtstuhl her seid ihr ja mit den Schwächen der Menschenkinder vertraut: ich sage Euch. Seine Hochwürden ist so verliebt wie ein Kater im Mondschein, und was die Ketzerin betrifft, sieht sie mir danach aus, recht zärtlich zu solcher Musik zu miauen.«

Die nunmehr fast leere Kanne, in die der Mönch prüfend hinunterstarrte, gab einen hohlen Widerhall seines zufriedenen Grunzens.

»Sie ist ein Pfand in unserer Hand.«

»Ich seh's, mein Sohn – ich seh's.«

»Gut, aber seht Euch auch die andere Seite der Sache ein wenig an!«

Bruder Martin nickte mit tiefgründiger Miene, indem er den leider sparsamen Rest vorsichtig abmessend in den Becher goß.

»Freilich, man soll immer beide Seiten einer Sache betrachten . . Hm... was meint Ihr eigentlich mit der anderen Seite?«

»Ich meine, daß diese heftige Leidenschaft bei ihm einen furchtbaren Haß und Rachedurst gegen jeden erzeugt, der auch nur daran denkt, ein Haar ihres Hauptes zu krümmen. O, ich habe schon einen Schimmer davon gesehen. Ich sage Euch, das Herz wird ihm in der Brust lachen, wenn unsere Gliedmaßen auf der Folterbank krachen. Ja ja, es kann so weit kommen, falls er wirklich meinen Entwurf gefunden hat und er uns ganz in seine Macht bekommt. Die Frau ist unser Faustpfand, das wir nicht entschlüpfen lassen dürfen. Das ist ja gerade die große Gefahr, daß er sie von hier wegbringt – weiß er sie erst irgendwo in Sicherheit, dann kann er mit uns tun, was ihm beliebt. Und was das heißt, wenn er einen solchen Beweis wie den Entwurf gegen uns hat, unterstützt durch das Stück deiner Beredsamkeit, das er genossen hat – nun, dies hab ich ja schon hinlänglich angedeutet.«

Der Franziskaner nickte bedachtsam.

»Ja ja, Ihr habt recht. Gott sei Dank, daß Ihr gekommen seid. Denn meine Stellung hier war schwierig. Ich trug und trage noch eine schwere Verantwortung. Da tut es gut mit einem klugen Mann wie Euch, Herr Famulus, zu sprechen und mit ihm Rat zu pflegen.«

Und sie pflegten Rats.

Betreffs der Hauptaufgabe, der Verbindung zwischen Vincentius und Bruder Martin, wurden folgende Maßregeln verabredet:

Das einzige Fenster der Burg, das nach der Stadt blickte, war von der Kammer des Mönches aus zwischen zwei Giebeln sichtbar, gar nicht davon zu reden, daß Stephan der Wirt es immer im Auge behalten konnte. Die erste Mitteilung, die es zu vermitteln galt, war die, ob der Entwurf an seinem Platz läge oder ob der Bischof ihn schon gefunden hätte. Im letzteren Fall sollte Vincentius ein weißes Tuch zum Fenster hinaushängen. Ein schwarzer Flor hingegen bedeutete, daß man Anstalten zur Abreise mache, so daß keine Zeit mehr zu verlieren sei. Wie Vincentius sich Gelegenheit zu solcher Zeichensprache verschaffen konnte, ward seinem eigenen Scharfsinn und seiner Verbindung mit Gertrud überlassen.

Sollte sich aber dieser Plan als unmöglich herausstellen, dann müßte er sein eigenes Zimmer benutzen, dessen Fenster freilich nur von jenseits der Flußkrümmung beobachtet werden konnte und außerdem das Mißliche an sich hatte, daß ein von dort aus gegebenes Zeichen nur zu leicht in der Burg bemerkt werden konnte.

Käme die weiße Fahne nicht zum Vorschein, dann läge wahrscheinlich keine unmittelbare Gefahr für sie beide vor ...

Aber die kann er leider getrost sofort aushängen, denn daß sein Entwurf in der Hand des Bischofs ist, darüber kann kein Zweifel bestehen.

Nun hat freilich der Bischof davon gesprochen, ihn mit dem Brief an den Kanzler nach München zu schicken, welche Bewandtnis es damit hat, wird er ja bald erfahren. Zuerst gilt es, diesen Brief fertig zu machen.

Er legt das Papier mit der Diktatschrift des Kaufmanns vor sich auf den Tisch.

Eine schöne, sehr deutliche Handschrift.

Vincentius hat aber nur wenige Zeilen gelesen, als er stutzt und innehält.

Woher kennt er nur diesen Zug, diesen eigentümlichen Schnörkel, der sich mehrmals wiederholt?

Erst vor wenigen Tagen hat er ihn gesehen!

Jetzt weiß er's: – Die Widmung in Gertruds Verdeutschung der Paulus-Episteln: »von ihrem Freund und Gottes«.

Also dieser Kaufmann Rinck aus Basel ist vor fünf Jahren hier gewesen! Er kam vom Kloster Weltenburg, gab sich damals für einen Baumeister aus und schien die Kenntnisse eines solchen zu besitzen, wie er denn auch jetzt unten in der fünfeckigen Kammer mit einem Zirkel in der Hand dastand und dem Bischof und der Burgfrau einen Bauriß erklärte. Und von diesem Gast hat Bruder Martin kein Wort erwähnt! Das heißt: keine Seele in Langenstein hat eine Ahnung von seiner Anwesenheit. Wie kommt es, daß seine Ankunft so unbemerkt geblieben ist? Ja, wie war's doch vor fünf Jahren? Damals war er mitten in der Nacht über den Kalvarienberg und den Steg gekommen und hatte »auf rätselhafte Weise« Eintritt in die Burg gefunden.

Vincentius springt auf.

Ist es möglich? Der Bischof hat ihn unter den, Vorwand weggeschickt, an den großen Gottesfreund Hand zu legen. Sollte es sich nun so verhalten, daß er unverrichteter Sache zurückgekehrt ist, um diesen Erzketzer an der Seite des Bischofs zu finden? Und ist es gerade jener erfahrene Prior gewesen (an den ihn der Bischof angelegentlichst empfahl), der das Mittel wurde, seine Augen hellsichtig zu machen! wobei es noch der abgefeimteste Schicksalszug wäre, daß sein hoher Vorgesetzter ihn offenbar nur deshalb über Weltenburg schickte, um seine Reise länger auszudehnen. O Bischof Ottmar, da warst du übel beraten! Wie lautete doch die Weisung des erfahrenen Weltenburger Priors? »Sucht ihn nicht unter den fahrenden Spielleuten; sucht ihn unter den reisenden Kaufleuten und Baumeistern.«

Und hier waren beide in einer Person!

Und ein Gottesfreund noch dazu!

Daß er gerade der ›große‹ Gottesfreund ist – das ist das wichtige Glied, das noch fehlt.

Aber die Möglichkeit, die schon fast eine Wahrscheinlichkeit ist, versetzt Vincentius' ganzes Wesen in wilde Erregung. Er ist von der Jagdleidenschaft ergriffen, von dem rasenden, brennenden, blutigen Beutedurst, der die Hunde des Herrn – domini canes – auf die Spur der Ketzer hetzt.

Und es gilt Edelwild, großes Wild, Löwenjagd!


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